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Alice Rohrwacher (Porträt von Nikita Thévoz) © Visions du Réel

Una Follia – Alice Rohrwachers Kino der Absurdität

Rohrwacher erzählt in ihrer Masterclass von Mythen und Katholizismus, von ihrer Heimat Italien und wie sie gern auch Schwerverdauliches auftischt.

Text: Norma Eggenberger / 27. Juni 2023

Man nehme 70 Eier, Mehl, Milch, Vanille, eine grosse Portion Humor und eine Prise Mystik. Dann erhält man das Filmeschaffen von Rohrwacher – und eventuell das italienische Dessert Zuppa Inglese. Zuppa Inglese ist die Nachspeise, die den jungen Mädchen in Alice Rohrwachers Filme Le Pupille versprochen, aber vorenthalten wird. Die Sehnsucht nach der Süssspeise ist beinahe fühlbar – das Lechzen nach dieser gallertartigen Masse, auf die niemand verzichten will.

Verheissungsvoll unter einer grossen Serviette, das Rot durchscheinend – die süsse Sünde, die doch lieber Jesus Christus geopfert werden soll, es ist schliesslich Weihnachten. «Una follia!», nennt es eine Ordensschwester, als sie hört, dass während der Kriegszeiten 70 Eier dafür verbraten wurden. Andere würden schliesslich leiden. «Pure folly», meint auch Rohrwacher, die sich für das Filmfestival Visions du Réel als Special Guest in Nyon einfindet, um in der Masterclass über ihr Filmschaffen zu reden.

Für Rohrwacher symbolisiert die Zuppa Inglese das Lächerliche, Absurde, das Unglaubliche. Die Zuppa Inglese, die ausgerechnet in der Kriegszeit serviert wurde. Auch Rohrwacher findet; ja – eben genau dann. Genau dann gebe man den Menschen etwas, wofür sie Freude verspüren, etwas, womit sie wieder lernen, zu teilen. «When something is ridiculous, it is true», sagt die Filmemacherin, denn über das Absurde würden wir auch etwas über uns selbst entdecken – sozusagen ein Spiegel der Torheit. Eine Torheit, denn die Zuppa Inglese habe, rein pragmatisch, gesehen keine Daseinsberechtigung.

Essen ist in allen Filmen Rohrwachers ein wichtiger Bestandteil, wenn auch nur auf der Meta-Ebene. Rohrwacher sieht es als ihre Verantwortung, den Menschen durch ihre Filme etwas zu essen zu geben. Etwas, das sie verdauen können – an dem sie zu beissen haben, schlucken, arbeiten müssen. Dabei sei sie jedoch stets darauf bedacht, nichts Toxisches zu verabreichen. Was nicht bedeuten müsse, dass etwas danach nicht schwer im Magen liegen dürfe. Angst zum Beispiel sei eine solche Zutat, die man nicht aus Filmen verbannen dürfe. Angst vor der Wahrheit, die manchmal so schwer verdaulich sei. Doch: «A spoon full of sugar makes the medicine go down», denkt sich auch Rohrwacher. Gekonnt zeigt sie in ihren Filmen, dass lächerliche und humorvolle Momente etwas über uns als Gesellschaft aussagen.

Mit ihren bisher neun Filmen mauserte sich die italienische Regisseurin zum Liebling von Festivaljurys. Bereits zum vierten Mal war Rohrwacher dieses Jahr in Cannes zu Gast mit ihrem neusten Film La Chimera. Ihre bisherigen Filme Le meraviglie sowie Lazzaro felice staubten beide Preise ab – Grand Prix und Best Screenplay. Und das zu Recht, denn Rohrwachers Filme wirken auf wundervolle Art verträumt, ohne den Boden unter den Füssen zu verlieren.

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Alice Rohrwacher im Gespräch am Visions du Réel. Bild: Kenza Wadimoff

Rohrwachers Abbildungen der Gesellschaft sind subtil. Und doch wirken sie real. Die Trennlinie von Fiktion und Realität verschwimmt stets. Bei der Frage in ihrer Masterclass, ob sie denn nun Fiktion oder Dokumentation machen würde, zuckt sie mit der Schulter und meint, sie sei Humanistin. Sie unterscheidet nicht gerne zwischen Schwarz und Weiss. Wobei dies eine berechtigte Frage ist am Visions du Réel, einem Dokumentarfilmfestival. Doch Rohrwachers Filme passen, ein dokumentarischer Charakter ist ihnen eben doch allen inhärent. Vielleicht liegt es an Rohrwachers Handwerk – ihre Filme sind auf 16mm gedreht – vielleicht aber auch an den Darsteller:innen, die oftmals Laien sind und in der Rolle, die sie vermeintlich spielen, auch abseits der Kamera zu Hause sind.

Und doch scheinen sie Rohrwacher zu ängstigen, die Dokumentarfilme. Menschen in ihrer Realität zu stören, in ihren privaten Raum zu dringen – die Kamera sei ein gewalttätiges Instrument, meint sie. Die Fiktion sei viel offener, liesse mehr zu, die Menschen atmen – sie zu Wort kommen, ohne sich selbst treu bleiben zu müssen. Und diese Lücke lockt dieses subversive Potenzial erst raus. Diese Absurdität – die Zuppa Inglese –, die sich entfaltet, Wahres erzählt, an den Fingern kleben bleibt.

Diese Wahrheit, die immer wieder durch die Fiktion Rohrwachers flimmert, wird auch zur technischen, durch den Entscheid, mit 16mm zu drehen. Der Prozess und das Schaffen selbst bewirken, dass nicht alles kontrollierbar sei und man manchmal mit dem Unvorhergesehenen zurechtkommen müsse. Die Filme sind limitiert und damit auch die Anläufe, die man nehmen darf. Das bedinge Spontanität und manchmal die Fähigkeit, Perfektion in der Imperfektion zu finden. Für Rohrwacher ist der Weg das Ziel – der Prozess das Handwerk selbst.

Das ist auch wieder so bei ihrem neusten Film, La Chimera, für den sie über Jahre hinweg Recherche betrieben hat. Ihre Projekte begleiten die Regisseurin ohnehin immer lange, doch viel über ihren neusten Film sagt sie nicht. Während des Visions du Réel war sie mitten in der Postproduktion. Er soll von unserer Beziehung zum Tod und zur Vergangenheit handeln. Der Film erzählt von dem britischen Archäologen Arthur, der in der Toskana der Achtzigerjahre in ein illegales internationales Netzwerk um gestohlene etruskische Artefakte verwickelt wird. Mit von der Partie sind unter anderem Josh O’Connor – zuletzt gesehen bei The Crown – und, wie jedes Mal bei Rohrwacher, ihre Schwester Alba Rohrwacher.

Rohrwacher ist nicht nur «Wiederholungstäterin» bezüglich ihrer Schwester. Auch ästhetisch: Verschwimmende Grenzen sind omnipräsent in ihren Filmen. Fiktion und Realität gehen Hand in Hand, Tod und Leben, Vergangenheit und Gegenwart, Religion und Mythen. Rohrwacher schafft Welten, die unserer gar nicht so unähnlich sind. Dies erkennt man jedoch oft erst auf den zweiten Blick.

Ein Märchen mit wahrem Kern – «La morale della storia» … Wer weiss das schon. Rohrwacher verschleiert, deckt auf, lässt uns auflachen und stutzig werden. Auch der Ton spielt eine wichtige Rolle in Rohrwachers Schaffen. Dieser fungiert in ihren Filmen nie als Kommentar, sondern lüftet Verborgenes oder kontrastiert Gezeigtes. Wenn die Dorfbewohner:innen der Tabakplantage in Lazzaro felice pfeifen, widerspricht das ihrer scheinbaren Naivität, wenn sie bis zum Umfallen schuften, nicht wissend, dass eine ganze Welt existiert ohne das Konzept der Leibeigenschaft. Doch wenn sie pfeifen, erheben sie sich gegenüber ihren Peiniger:innen. Das Pfeifen verschmilzt mit dem Wind, ist der Wind, ist das Jetzt und trägt die Geschichte an unser Ohr.

Rohrwacher meint, dass das Kino verschiedene Zeitebenen in einem Bild einfangen könne. Sind wir nicht alle Leibeigene unserer eigenen Umstände? Auch die flüsternden Kinder auf den Plantagen. «Lazzaro, Lazzaro, Lazzaro … ». Sie stehlen sich durch das Dickicht und rufen nach dem Jungen mit den grossen, naiven Augen – den Mund geöffnet, ein stets verblüffter Ausdruck auf dem schönen Gesicht.

Wir schliessen diesen reinen, guten Menschen ins Herz – der nichts und niemandem etwas Böses will und immer bereit ist, zu helfen. Und so ist es auch mit den anderen Figuren Rohrwachers, die so vielschichtig sind, als wären sie aus einem unserer Lieblingsbücher entstiegen, die wir schon seit einer Ewigkeit in unserer Tasche mittragen, Eselsohren und Kaffeeflecken inklusive. Lazzaro, die Figur, um die wir alle bangen. Lazzaro. Eine Anrufung an einen Heiligen? Und auch, wenn Rohrwacher Gelsomenia in Le meraviglie (Land der Wunder auf Deutsch) Bienen aus ihrem Mund fliegen lässt und dort auf dem Hof der Familie mitten in Italien ein Kamel erscheint, ist es da. Das Flirren des Fantastischen in unserer Realität.

 

Rohrwachers Figuren besitzen mächtige Namen, Lazzaro, Gelsomenia, Marta. Bedeutungsgeladen und dahinter dicht auf den Fersen das Religiöse, der Glaube – die Mystik. Italien trieft davon, man entdeckt es in jeder Stadt und auf dem Land ertrinken die Elternhäuser (inklusive Nonna) beinahe im Katholizismus. Ein Grund, wieso Rohrwacher den Glauben immer wieder aufs Neue in ihren Filmen thematisiert. Nicht etwa, weil sie selbst gläubig ist, sondern weil es eben präsent ist in Italien – Realität. Rohrwacher habe «faith» in etwas, sei aber nicht «religious».

Das Wichtige sei dabei ein Lebensausschnitt einzufangen, Kino als Ausschnitt eines Dorfes, und dazu gehöre in Italien In nomine Patris et Filii, et Spiritus Sancti. Amen. Aber auch die damit einhergehende Macht. So schlummern in dem gutgläubigen Jungen Lazzaro Kräfte, die man sonst nur von der Bibel und den Mythen dieser religiösen Welt kennt. Der Junge stirbt und kehrt wieder zurück ins Leben. Ein Wunder, das schlussendlich trotzdem den Tod nach sich zieht. Lazzaro, der Märtyrer, der den Menschen zeigt, wie grausam sie eigentlich sind. Oder der Priester in Corpo Celeste, der hinter seinen ganzen Gebeten, Mässigungen und symbolischen Ohrfeigen leise Telefonate führt und Unterschriften sammelt, die ihn zum Bischof machen sollen. Rohrwacher macht so durch ihre Protagonist:innen das Unsichtbare sichtbar, porträtiert, beobachtet, doch kommentiert nie. Ein abschliessendes Bild müssen sich die Zuschauer:innen schon selbst machen – verdauen liegt in der Verantwortung der Konsument:innen.

Rohrwacher hält uns auf sanfte Art und Weise den Spiegel vor, lädt uns ein in eine Welt voller Wunder, in der wir uns selbst erkennen, gibt uns zu essen, ohne uns zu vergiften und zeigt uns, wie alles zu einer Notwendigkeit werden kann. Ihre Filme machen Lust auf mehr, regen den Appetit auf La Chimera an – was servieren Sie uns heute, Alice Rohrwacher?

Der Beitrag entstand im Rahmen einer Exkursion des MA Kulturpublizistik der ZHdK ans Filmfestival Visions du Réel in Nyon.

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