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Das Jahr, das nie zu Ende ging

Die Umwälzungen von 1968 haben auch dem Kino neue Wendungen gegeben. Die Ereignisse auf den Strassen von Paris und anderswo waren nicht zuletzt durch Filme vorausgeahnt, vorangetrieben und begleitet worden. Und bis heute erinnert sich das Kino intensiv dieser bewegten Zeit – mal kritisch, mal nostalgisch. Versuch einer Chronik in Schlaglichtern.

Text: Gerhard Midding / 01. Aug. 2018

… Im November 1967 protestieren erstmals Studierende in Paris, an der Universität von Nanterre. Das ist noch keine epochale Erschütterung. Staatspräsident Charles de Gaulle kann sich und seinen Landsleuten in der Neujahrsansprache 1968 noch zu der Ära von Wohlstand und Gelassenheit gratulieren, in die Frankreich nun eintrete. Es dauert eine Weile, bis seine Worte Makulatur werden. Im Februar will Kulturminister André Malraux den Leiter der Cinémathèque française, Henri Langlois, entlassen und ruft damit erbitterten Widerstand unter Filmschaffenden weltweit hervor. Als Jean-Luc Godard bei einer Demonstration von einem Polizeiknüppel getroffen wird, nimmt der Protest militante Formen an. Romain weiss, dass dies nicht der Auslöser der Unruhen ist, die nun in Frankreich ausbrechen. Er gehört der revolutionären kommunistischen Jugend an und hadert damit, dass die Partei, die seit fünfzig Jahren von der Revolution träumt, den Studentenprotesten feindselig gegenübersteht und dass die mächtige Gewerkschaft CGT keine Studierenden bei ihren Kundgebungen duldet.

Vielleicht braucht es die günstigere Witterung des Frühlings, das Erwachen der Natur, bis das Aufbegehren sich endlich Bahn brechen kann. In Paris werden Barrikaden errichtet, Frankreich wird von einem Generalstreik lahmgelegt, und einige Regisseure drängen erfolgreich darauf, das Festival von Cannes abzubrechen. Romain wird mit seiner Kamera aktiv, filmt Demonstrationen und wird Zeuge eines historischen Kippmoments, an dem es so aussieht, als könnte sich die Wirklichkeit der Utopie beugen.

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Romain ist das jüngere Alter Ego des Filmemachers Romain Goupil, der sich 1983 in Mourir à 30 ans Rechenschaft ablegt über seine eigenen Erfahrungen. Im Mai 1968 ist er siebzehn, was im Kino das beste Alter zu sein scheint, um diese Zeit zu erleben. Goupils semidokumentarische Spurensuche ist gewissermassen der idealtypische Film über 1968. Der Regisseur integriert die ästhetischen Lehren der Zeit. Er hat in Schwarzweiss gedreht, was praktisch für alle «authentischen» Filme zum Thema gilt: Die Beschwörung der Euphorie braucht die gewissenhafte Strenge des Monochroms. Vor allem jedoch ist sein Film nachdrücklich autobiografisch grundiert. Er setzt eine überindividuelle Erfahrung in ein Kino des persönlichen Ausdrucks, auch der persönlichen Ansprache des Publikums um. Goupil begreift, wie eng Demonstrationen in ihrer Doppeldeutigkeit von Planung und Improvisation mit dem Prozess des Filmemachens verwandt sind. Vor allem aber weiss sein jugendliches Alter Ego, dass 1968 nicht der Beginn einer Bewegung ist, sondern die Fortsetzung seiner Arbeit.

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Im französischen Sprachgebrauch existiert das Jahr 1968 in der Mehrzahl. Historiker_innen und Intellektuelle sprechen von «les années soixante-huit», die sich über die Epoche zwischen 1962 bis 1981 erstrecken, vom Ende des Algerienkriegs bis zum Wahlsieg der Linken unter François Mitterand. Diese Zeitrechnung ergibt Sinn: Zwar unterliegt Mitterand bei der Präsidentschaftswahl 1966, kann de Gaulle aber immerhin in die Stichwahl zwingen und bietet auf dem Höhepunkt der «Ereignisse» an, die Regierungsverantwortung zu übernehmen.

Für diese Zeitrechnung spricht auch, dass sie deckungsgleich ist mit der Hauptphase im Werk von Chris Marker. Kein anderer Filmemacher seiner Generation hat (mit Ausnahme vielleicht von Jean-Luc Godard) aus den Umbrüchen des Pariser Mai so radikale Rückschlüsse für die eigene Kinopraxis gezogen …

Den ganzen Essay können Sie lesen in der Printausgabe von Filmbulletin.
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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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