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Allo la France

Allo la France: Ein Land in 1941 Telefonzellen

Floriane Devigne reist durch die französische Peripherie und zeigt, dass Telefonzellen mehr sind als Zeugen eines vergangenen Fortschritts.

Text: Marie Duchêne / 25. Apr. 2023
  • Regie

    Floriane Devigne

  • Buch

    Floriane Devigne, Christine Dory

  • Kamera

    Nathalie Durand, Aurélien Py, Georgi Lazarevski

Wie in ihrem Erstlingswerk La Boîte à tartines (2007) widmet sich Floriane Devigne auch in Allo la France einem nostalgiegeladenen Objekt: der Telefonzelle. 1941 Telefonkabinen hat sie ausfindig gemacht, auf einer Reise durch die abgelegensten Zonen Frankreichs begegnen die Zuschauer:innen Dutzenden von ihnen. Zellen, die umgeben von einsamen, alten Menschen und streunenden Katzen herumstehen, die zu Litfasssäulen, Pissoirs oder Tauschbibliotheken umfunktioniert wurden, oder an deren Existenz nur noch ein betoniertes Quadrat auf dem Boden erinnert.

Die Regisseurin begegnet den Zuschauer:innen einerseits als telefonierende oder auf einen Anruf wartende Protagonistin. Sei es im Gespräch mit Telekommunikationsunternehmen auf der Suche nach den letzten funktionstüchtigen Telefonzellen des Landes oder mit Unbekannten, die sie in den besuchten Kabinen anrufen, um von Liebesgeschichten und Elektrosensibilität zu erzählen. Andererseits begleitet Floriane Devigne die Reise als Off-Stimme, die die Collage aus Road-Movie-Aufnahmen, Found Footage aus französischen Fernsehbeiträgen und skurrilen Telefonzellen-Standbildern zusammenfügt. Man erlebt die Stimme mal melancholisch, mal pointiert, mal Amélie-haft detailverliebt in der Beobachtung ihrer Umgebung.

Die Kabine, die einst Ferngespräche von unterwegs möglich machte und gleichzeitig einen privaten Ort im öffentlichen Raum war, verschwindet immer mehr aus unserer Umgebung. Devigne dokumentiert ihren systematischen Abbau auch als Symbol für die zunehmende Isolierung ländlicher Gemeinden, in denen mit der letzten Telefonzelle auch oft das Krankenhaus und die Schule abgeschafft werden.

Im Abschied von der Telefonzelle liegt für sie auch eine persönliche Ebene: Mit 40 Jahren ist die Kabine genauso alt wie die Regisseurin, die Akzeptanz der zunehmenden Nutzlosigkeit eines Objekts, das in ihrer Jugend für Zukunft stand, geht Hand in Hand mit der Akzeptanz des Älterwerdens. In einer Szene befragt sie ein Journalist zu ihrer Motivation. Die Nostalgie, die sie in ihrer Antwort verneint, kann man im Film doch immer wieder heraushören, auch im Plädoyer, Telefonzellen stehenzulassen und wie Denkmäler zu behandeln. Gegen Ende nimmt der Film eine fast dystopisch anmutende Wendung, da das Verschwinden der Telefonzellen als Unterwerfung des Menschen gegenüber der Technik gelesen wird.

Wenn der Film mit seiner Metaphorik stellenweise ein Stück weiter geht, als man es als Zuschauer:in nachvollziehen kann, so ist Floriane Devigne mit Allo la France doch ein vielschichtiges, kritisches und selbst humorvolles Gesellschaftsporträt gelungen. Die Filmidee entstand vor zehn Jahren – sich in einer derart zeitintensiven Produktion einem scheinbar sinnlos gewordenen Objekt zu widmen, ist bereits in sich ein Statement gegen die Schnelllebigkeit unserer Zeit.



«Ich habe eine seltsame Obsession für kleine Räume»

Interview mit Floriane Devigne, Regisseurin von Allo la France

MD: Mit Allo la France wollten Sie ein Porträt über Frankreich machen – und zwar anhand von Telefonzellen. Warum gerade dieses Objekt?

FD: Ich habe eine Art seltsame Obsession für kleine Räume. Mein erster Film handelt von einer Brotdose, ein anderer vom Schlüssel zur Waschküche, die auch eine Art kleine Box mit einer ganz bestimmten Funktion ist – wie die Telefonzelle. Sie ist ausserdem ein Objekt, das in ganz Frankreich identisch aussieht und sich im öffentlichen Raum befindet. Das erschien mir passend, um ein Land zu porträtieren. Sie ist transparent und ermöglicht, zu sehen und gesehen zu werden. Ausserdem gibt es eine generationsmässige Bedeutung: Als ich geboren wurde, wurden überall Telefonzellen aufgestellt und jetzt verschwinden sie schon wieder, obwohl ich erst die Hälfte meines Lebens hinter mir habe. Die Telefonzelle ist das perfekte Objekt, um die Zeit und den Wert der Zeit zu messen.

Während des Films spürt man eine gewisse Melancholie über das Verschwinden der Kabinen. Ich war ein wenig überrascht, als Sie in einer Szene dem Journalisten antworteten, dass das Thema Sie nicht nostalgisch stimme. Überhaupt nicht?

Ganz und gar nicht. Der Film ist stellenweise melancholisch, aber es geht nicht um eine persönliche Verbundenheit mit dem Objekt. Die Problematik des Verschwindens ist mir an sich völlig egal. Die Idee war von Anfang an, dieses Objekt zu thematisieren, das gerade zu einem Stück Vergangenheit wird, aber die Augen auf die Zukunft zu richten und zu schauen: Was erzählt dieses Verschwinden im Hinblick auf das, was heute geschieht und morgen noch passieren wird? Die Kabine hat uns erlaubt, im Moment der Transformation zu sein.

Im Film sind Sie selbst oft zu sehen. Wie haben Sie sich entschieden, selbst zur Protagonistin zu werden und eine solch zentrale Rolle einzunehmen?

Es ist eine Herausforderung, einen Film über einen Gegenstand zu machen, den niemand mehr benutzt, wir mussten die Kabinen irgendwie zum Leben erwecken. Mit den meisten kann man nicht mehr selbst anrufen, sondern nur noch Anrufe empfangen. Ich diene quasi als Medium, damit die Zuschauer:innen diese Gespräche mitanhören können, ansonsten geht es nicht um mich als Person.

Die Leute haben Sie in den Kabinen angerufen und Ihnen ihre Geschichten erzählt. Gibt es eine bestimmte Erinnerung, die Sie mit einer Telefonzelle verbinden?

Die Telefonzelle war ein wichtiger Ort meiner Jugend. Ich war ein etwas frühreifer Teenager, der ständig ausgehen wollte. Der Deal mit meiner Mutter war, dass ich immer ein Fünfrappenstück dabeihaben musste, um sie im Notfall von einer Telefonzelle aus anrufen zu können.

Gibt es unter all den Kabinen eine, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Es gibt eine, auf die wir zufällig gestossen sind, als wir in einem Dorf in den Pyrenäen gedreht haben. Sie stand an einem Flussufer und war schon ziemlich zugemüllt, aber sie funktionierte noch. Dort bekam ich einen Anruf von einem Typen, der mir eine wunderschöne Liebesgeschichte erzählt hat: 1996 fuhr seine neue Freundin zu einem Staffellauf nach Amerika, beide hatten zu der Zeit kein Mobiltelefon. Eines Nachts träumte er von ihr und dachte sich: Ich muss mit ihr reden. Und er begann, alle Herbergen und Campingplätze der Region abzutelefonieren und irgendwann auch die Telefonzellen auf ihrer Strecke anzurufen. Irgendwann hob sie tatsächlich ab und erzählte ihm, dass sie von ihm schwanger sei. Allein aus dieser Geschichte könnte man schon einen ganzen Film machen.


Der Beitrag entstand im Rahmen einer Exkursion des MA Kulturpublizistik der ZHdK ans Filmfestival Visions du Réel in Nyon.

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