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© Love Is Not an Orange wurde am Dokfilmfestival Visions du Réel aufgeführt.

«Es sind die Geschichten der Frauen, die ich am besten kenne»

Regisseurin Otilia Babara über ihren Montagefilm Love Is Not an Orange und den Verlust einer ganzen Generation.

Text: Susanna Bosch / 02. Mai 2023

«Frag sie, wann sie nach Hause kommt», sagt ein Vater zu seinem Kind. Es ist ein Ritual, das sich in den Neunzigerjahren in zahlreichen moldawischen Familien vollzogen hat: Die Mütter schicken Geld und Geschenke aus Westeuropa, woraufhin sich die Kinder vor laufender Kamera bedanken und kurze Einblicke in ihr Leben gewähren. Der Montagefilm Love Is Not an Orange zeichnet ein besonderes Bild des postsowjetischen Moldawiens und macht ein wenig thematisiertes Stück Frauengeschichte Europas sichtbar.

Nach der Schweizer Premiere am Dokumentarfilmfestival Vision du Réel sprach die Regisseurin Otilia Babara über die Entstehungsgeschichte und den Anspruch ihres jüngsten Filmes.


Sie sind 1984 in Moldawien geboren, heute leben Sie in Brüssel. Woher kam die Idee zu diesem Film? Erzählt er Ihre eigene Geschichte?

Es begann alles sehr früh, während meiner Schulzeit. Plötzlich verschwanden die Mütter in meiner Strasse. Eine nach der anderen. Stattdessen erhielten meine Freund:innen nun regelmässig Pakete mit all diesen tollen Dingen drin, zu denen wir damals keinen Zugang hatten. Die Geschenke waren manchmal so schwer, dass ich helfen musste, sie von der Post nachhause zu tragen. Oft war ich eifersüchtig. «Wann gehst du nach Italien und schickst mir Pakete?», fragte ich meine Mutter. Erst später realisierte ich, was für Traumata diese Zeit bei den Menschen in meiner Umgebung hinterlassen hatte. Vor zehn Jahren zog ich dann selbst ins Ausland. Ich begann mich mit meiner Herkunft auseinandersetzen und kehrte zu einem Thema zurück, das mich schon jahrelang begleitet hatte.

Visuell besteht der Film ausschliesslich aus Archivmaterial, das zwischen 1999 und 2008 entstanden ist. Wieso haben Sie sich für diese Art des Erzählens entschieden?

Als die Mutter einer Freundin nach zwölf Arbeitsjahren in Griechenland nach Moldawien zurückkehrte, begann ich, die beiden zu filmen. Sie lebten im selben Haus, sprachen aber kaum miteinander. Ich glaubte, sie würden sich näherkommen, wenn sie mehr über ihre gegenseitigen Erfahrungen während der Trennung hörten.

Mit der Zeit wurde mir aber klar, dass wir als erstes die Vergangenheit verstehen müssen – erst dann können wir in die Zukunft blicken. Also begann ich, Interviews mit verschiedenen Betroffenen zu führen, um mehr über ihre persönlichen Erlebnisse und familiären Beziehungen erfahren. Da erzählte mir jemand von den Videotapes. War das etwas, das die Leute damals tatsächlich gemacht haben? Wir fingen an, zu recherchieren. In Moldawien, der Diaspora im Ausland und verschiedenen Facebook-Gruppen. So erhielten wir über 100 Stunden Videomaterial hatten die Möglichkeit, die Geschichte vieler zu erzählen.

Wie haben Sie aus so vielen persönlichen Filmaufnahmen eine kollektive Geschichte geschrieben?

Ich suchte in den Archiven nach Gefühlen, die mir bekannt vorkamen. Gefühle, die ich auch in meinen Freund:innen sah. Dabei stiess ich immer wieder auf diese wechselhaften Emotionen gegenüber den Geschenken: Freudige Aufregung entwickelte sich im Laufe der Jahre zu Hoffnungslosigkeit, Ablehnung oder gar zu Hass. Hass auf die Objekte, welche die Abwesenheit der Mutter kompensieren sollten, aber auch auf den Zwang, ständig gefilmt zu werden. Die Kinder bekamen Geschenke, ohne gefragt zu werden, was sie wirklich wollten. Der grösste Wunsch war ihnen meist offensichtlich abzulesen – die Nähe der Mutter.

Um das Erwachsenwerden dieser Kinder einzufangen, haben wir ihre Aufnahmen zu ähnlichen Gefühlsereignissen gruppiert. Die Bilder sollten dabei für sich alleine stehen. Ganz ohne Voiceover, die das Erzählte zusammenhält.

Es gibt eine Voiceover. Sie erzählt die Geschichte der Mütter. Damit geben Sie beiden Seiten eine Stimme.

Die Stimme der Mutter ist kollektiv. Sie setzt sich aus Interviews und alten Briefen verschiedener Betroffenen zusammen. Es gibt auch Videoaufnahmen. Aber die meisten Frauen haben nur ihre Umgebung gefilmt und nie sich selbst. Das hat mit Scham zu tun. Viele fühlten sich in ihrer Position extrem unwohl. Sie arbeiteten illegal für fremde Familien während sie die eigene zurücklassen mussten. Auch die Mütter waren einer Transformation ausgesetzt. Die meisten wollten nur vorübergehend weggehen, sahen sich aber finanziell gezwungen zu bleiben. Der Wunsch, ihrem Kind alles bieten zu können, verunmöglichte die Rückkehr.

Ich entschied mich dazu, die Mütter unsichtbar zu halten. Genauso wie sie es im Leben ihrer Kinder waren. Ihren Gedanken, Wünschen und Gefühlen im Exil wollte ich dennoch eine Stimme geben.

Haben Sie sich bewusst für eine weibliche Perspektive entschieden?

Ich habe mich für diese Perspektive entschieden, weil sie die Geschichte meiner Freundinnen und deren Mütter erzählt. Natürlich gab es auch Väter, die ins Ausland gingen. Aber ich erinnere mich daran, dass in den frühen Neunzigern oft Frauen die Initiative ergriffen und verschwanden. Im Westen gab es viel Arbeit im Care-Bereich. Erst später zog es die Männer nach Russland, um auf dem Bau zu arbeiten. Heute lebt beinahe die Hälfte Moldawiens im Ausland. Ich wollte mich auf die Frauen konzentrieren. Es sind ihre Geschichten, die ich am besten kenne.

Im Film heisst es, dass die Mütter ein Trauma vergessen wollten, gleichzeitig aber ein Neues hervorriefen. Worauf spielt das an?

Auf die Zeit, in der Moldawien Teil der Sowjetunion war. Nach der Annexion durch Russland wurde alles kollektiviert. Viele der Frauen, die in den Neunzigerjahren nach Westeuropa auswanderten, hatten zuvor ihr Land oder ihr Haus verloren. Ich denke, dass unserer Elterngeneration das kollektive Trauma des Nicht-Besitzens überwinden wollte. Deshalb ist zum Beispiel das Narrativ des Hausbaus in den Archivaufnahmen so präsent vertreten. Die Mütter wollten ihren Kindern alles geben. Durch ihre lange Abwesenheit haben sie jedoch ein neues Generationentrauma geschaffen.

Der Film thematisiert ein Stück moldawische Geschichte, über das kaum gesprochen wird. Welcher Anspruch steht dahinter?

Selbst in Moldawien wird nicht wirklich über das Thema gesprochen. Die Ereignisse sind schambehaftet und tabuisiert. Dabei ist es so vielen passiert: Deiner Schwester, deinem Nachbarn ... Viele Mutter-Kind-Beziehungen bleiben bis heute zerbrochen. Mit dem Film möchte ich zeigen, dass es sich nicht um eine einzelne Erfahrung, sondern um die kollektive Geschichte eines Landes handelt.

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Regisseurin Otilia Babara

Der Beitrag entstand im Rahmen einer Exkursion des MA Kulturpublizistik der ZHdK ans Filmfestival Visions du Réel in Nyon.

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