Vom Alter gezeichnete Hände, von Krankheit gekrümmte Finger, eine Schneekugel umklammernd, sie schüttelnd. Das Weiss wirbelt in der Glaskuppel, die Häuser darin verschwinden beinahe im Gestöber. Der Schnee ist nicht echt – die Partikel werden nie schmelzen und seinem Glasgefängnis auch nie entweichen.
Die schüttelnden Hände gehören Flo, einer Bewohnerin in Chagrin Valley, welches dieser Schneekugel gar nicht so unähnlich ist. Ein blauer, artifizieller Himmel überdacht das Altersheim in Ohio. An der sogenannten Lantern-Street reihen sich die Veranden - Apartments der Bewohner:innen, ein Post-Office, eine Kirche, ein Hardware-Store. Chagrin Valley ist ein Indoor-Dorf, welches das Amerika der Fünfziger imitiert, dabei aber eher an eine Spielzeuglandschaft erinnert. Um das Bild abzurunden, dröhnt aus den Lautsprechern tagsüber Fahrstuhlmusik, in der Nacht das leise Schuhuen eines Uhus.
«Is this real?», fragt auch Flo, als sie sich umblickt. Eine berechtigte Frage, selbst, wenn man nicht an Demenz erkrankt wäre. Die meisten Bewohner:innen von Chagrin Valley sind aber dement: Jeden Tag aufs Neue erklären die Betreuer:innen von Chagrin Valley den Bewohner:innen geduldig und liebevoll, wo sie sind, wieso sie sich heute waschen müssen und in welchem dieser homogenen Apartments sie wohnen. Die Gedächtnislücken sorgen für komische Momente. Und trotzdem sickert an manchen Stellen die Tragik des Älterwerdens durch die Plastikfassade. Einsamkeit haftet an den Wänden des Altersheims, die Sehnsucht nach einem dieser seltenen Besuche von der Familie allgegenwärtig.
Chagrin Valley schluckt Zeit und ist schon deshalb nicht nur ein kurzweiliger Film. Jeder Tag gleicht dem vorhergehenden – ist es Dienstag, Mittwoch oder Donnerstag? War die Familie bereits da oder steht der Besuch noch an? Künstliche Vögel zwitschern in der Zwischenzeit, die Betreuer:innen kümmern sich um die Bewohner:innen – «Hey honey, hey darling – how are you?» - und kontrollieren, ob sie über Nacht «dry» geblieben sind.
Die herzliche und familiäre Beziehung zu den Betreuer:innen aber auch deren immense Erschöpfung, sowie das Leben von Schicht zu Schicht prägen den Alltag des Personals. So stemmt die Betreuerin Ida nicht nur ihre Schichtarbeit bis sechs Uhr in der Früh, sondern sorgt daneben für ihre sieben Kinder und träumt von einem perfekten Haus mit Vorgarten und Kücheninsel.
Das Plastikdorf und seine Bewohner:innen und Betreuer:innen erhalten durch die respektvolle Kameraführung Diara Sows ein Gesicht. Dabei büsst Chagrin Valley nie an Leichtigkeit ein, denn gezeigt wird auch die Alltagskomik. Schiefe Kirchengesänge, die von den aufeinander reagierenden Hörgeräten begleitet werden, die kitschige Weihnachtsdeko – natürlich aus Plastik –, sowie die überraschend scharfen Beobachtungen von Flo. «Does it make you wonder if you are next to be here?», fragt sie Berger. «You can’t just get up and walk out that door.»
Bergers Porträt bildet die Absurdität des Älterwerdens ab – mit einer guten Portion Humor und einer grösseren Portion Respekt. Trotz der vielen Lachsalven ist Chagrin Valley keineswegs platt. Fragen der Selbstbestimmung und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Verfall werden gegenwärtig. Aber auch das: Ohne das Wissen um die Schneekugel sieht man den weissen Flocken vielleicht gerne bei ihrem Tanz zu.
Der Beitrag entstand im Rahmen einer Exkursion des MA Kulturpublizistik der ZHdK ans Filmfestival Visions du Réel in Nyon.