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Die herbstzeitlosen 04

Die Herbstzeitlosen

Die Herbstzeitlosen ist der mutige Versuch, einen «modernen Heimatfilm» zu drehen und ihn mit feministischen Elementen aufzupeppen. Und tatsächlich gibt Bettina Oberli hinter der adretten Kulisse von geraniengeschmückten Holzchalets, bäuerlicher Bodenständigkeit und satten Emmentaler Wiesen den Blick frei auf die Abgründe der scheinbar intakten Dorfgemeinschaft.

Text: Doris Senn / 01. Sep. 2006

Ihr atmosphärischer und beachteter Debütfilm Nordwind liegt erst zwei Jahre zurück, und bereits wartet die Jungfilmerin Bettina Oberli mit einem neuen langen Spielfilm auf. Die Tragikomödie Die Herbstzeitlosen entstand als Produktion des Schweizer Fernsehens und erfährt überraschend nun auch eine Auswertung im Kino. Erzählt wird eine kleine, späte Emanzipationsgeschichte aus dem tiefen Emmental: Martha (die 86-jährige Stephanie Glaser spielt ihre erste Hauptrolle in einem Kinofilm) hat seit dem Tod ihres Mannes den letzten Funken Freude im Leben verloren. Ihr Platz in der Kirchenbank bleibt leer – was ihrem Sohn Walter, der als Pfarrer amtiert, natürlich besonders störend ins Auge fällt. Und auch der wöchentliche Jass mit ihren Freundinnen Lisi, Hanni und Frieda macht ihr keinen Spass mehr. Um Martha von ihren düsteren Gedanken wegzuholen und neuen Lebensmut zu machen, bietet Lisi ihre Hilfe an, um deren Wohnung auszumisten. Dabei stösst sie auf eine Schachtel mit verführerischen Spitzendessous, die Martha – wie diese verschämt eingesteht – in jungen Jahren selbst geschneidert hat. Lisi ist begeistert von den preziösen Wäschestücken und spornt Martha an, ihren Lebenstraum – eine eigene Lingerie-Boutique – lieber spät als nie zu realisieren. Doch den beiden und ihrem verwegenen Projekt bläst im konservativen Bauerndorf erst mal viel patriarchaler Gegenwind um die Ohren.

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Die Herbstzeitlosen ist der mutige Versuch, einen «modernen Heimatfilm» zu drehen und ihn mit feministischen Elementen aufzupeppen. Und tatsächlich gibt Bettina Oberli hinter der adretten Kulisse von geraniengeschmückten Holzchalets, bäuerlicher Bodenständigkeit und satten Emmentaler Wiesen den Blick frei auf die Abgründe der scheinbar intakten Dorfgemeinschaft. Da halten autoritäre Männer wie eh und je ihre Frauen in Schach, Väter kujonieren ihre aufmüpfigen Töchter, und der bigotte Pfarrer drangsaliert um des guten Rufs wegen seine Mutter (dabei hätte er zuerst noch so einiges im eigenen Gärtlein in Ordnung zu bringen). Mit von der Partie ist auch die LLP («Land und Leute Partei»), die – zumindest vordergründig – für Tradition, Familie und althergebrachte Ordnung einsteht. Sie hat dem «unmoralischen» Reizwäscheladen nur schon aus wahltaktischen Gründen den Kampf angesagt.

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Was vom Plot her an eine englische Sozialsatire vor Emmentaler Hintergrund anklingt, vermag dann aber leider nicht über die gute Intention hinaus abzuheben. Zu holzschnittartig präsentiert sich das abgelegene Bauerndorf, zu verstaubt die Figuren und ihre Beziehungskonstellationen. In seiner Ästhetik und Dialoglastigkeit auf das Fernsehen zugeschnitten, entwickelt sich die Geschichte in eher behäbigem Rhythmus und wirkt mitunter auch etwas verstörend in seinem Auf und Ab zwischen Tragödie und Komödie. Aufmerken lässt der Soundtrack von Luk Zimmermann – der schon für Nordwind und den Kurzfilm Ibiza mit Bettina Oberli zusammenarbeitete und dem eine stimmige Adaption von volksmusikalischen Klängen gelungen ist. Auf der Ebene der Montage erfreuen kleine synkopische Sequenzen, die etwas frechen Drive in die lineare Dramaturgie einbringen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2006 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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