«Man ist ein Kind, bis man selbst eines hat», lautet ein Spruch, den gerade kinderlose Paare immer mal wieder zu hören bekommen. Diese Idee stellt die schottische Filmemacherin Lynne Ramsay in Die My Love gehörig auf den Kopf: Hier spielt Jennifer Lawrence (The Hunger Games, Don’t Look Up) die Schriftstellerin Grace, die mit ihrem Partner Jackson (Robert Pattinson) von New York ins ländliche Montana zieht, schwanger wird, einen Sohn gebiert und sich bald selber wie ein bevormundetes Kind vorkommt.
Nicht nur ist sie in Jacksons Kindheitskaff gelandet, wo sie ausser seiner Familie niemanden kennt, und wo sie damit rechnen muss, von Schwiegermutter Pam (Sissy Spacek) mit vorgehaltener Flinte begrüsst zu werden – dank Jacksons Berufssituation gleichen ihre Tage auch dem Stubenarrest, den man unartigen Teenagern aufbrummt: Allein, ohne Zerstreuung, umgeben von Babygebrüll und Hundegebell, sehnt sich Grace nach der verloren gegangenen sexuellen Intimität, nach dem Gehört- und Gesehenwerden, nach der Freiheit, sich in die Stille des nahen Waldes zurückzuziehen.
© DCM/MUBI/Seamus McGarvey
Ramsay, Editor Toni Froschhammer und Kameramann Seamus McGarvey inszenieren diesen Alltag als eine assoziative, bewusst zirkuläre Kette von banalen Routinen, verzweifelten, aneckenden Ausbruchsversuchen, ziel- und fruchtlosen Streitgesprächen, ineinanderfliessenden Erinnerungen, Tagträumen und Wahnvorstellungen (?), David-Bowie-, Nick-Lowe- und Disney-Songs in Volllautstärke und geradezu ironisch atemberaubenden Landschaftsaufnahmen. So wie Grace in den Strudel ihrer manisch-depressiven Stimmungsschwankungen gerät, wird das Publikum von der intensiven Bild- und Tonflut von Die My Love regelrecht mitgerissen: hinein in einen Gemütszustand, in dem es nur logisch erscheint, dass man sich irgendwann, begleitet von den hirnerweichenden Klängen eines Raffi-Kinderliedes («I like to oot, oot, oot ooples and boo-noo-noos»), mit Anlauf durch eine Glastür stürzen muss.
Dabei wollte Ramsay den gleichnamigen Roman der Argentinierin Ariana Harwicz ursprünglich gar nicht verfilmen. Als Jennifer Lawrence, die dem Projekt als Hauptproduzentin vorsteht, ihr den Stoff unterbreitete – nachdem diese selber das Buch von Martin Scorsese zugeschickt bekommen hatte –, winkte Ramsay ab: Mit postpartaler Depression hätte sie sich bereits in We Need to Talk About Kevin (2011) auseinandergesetzt. Was sie schliesslich umstimmte, war ihre eigene Idee, Harwicz’ Buch zu einer schwarzhumorigen Romanze umzudeuten.
© DCM/MUBI/Kimberly French
Und es ist just diese kühne Perspektive auf die Thematik, die diese Adaption so eindringlich macht. Ramsay und ihre Co-Autor:innen, die Dramatiker:innen Enda Walsh und Alice Birch, legen die genreüblichen Samthandschuhe ab und entscheiden sich dagegen, Graces Abrutschen in eine psychotische Krise mit konventionellen, geschmackvoll ausgeschilderten Empathie-Signifikanten vollzustopfen.
Stattdessen stellt Die My Love den Prozess als überwältigende, mitunter auch absurd bis morbid witzige Ganzkörper- und Vollkontakterfahrung dar. Frei nach Charlotte Perkins Gilmans «The Yellow Wallpaper» und Elizabeth Sankeys Witches (2024) – und vielleicht sogar mit einem Quäntchen «Jane Eyre» – rebellieren Grace und der Film um sie herum gegen die engstirnige gesellschaftliche Definition von Normalität, gegen die Vorstellung, dass man als erwachsene Person nur ernst genommen werden kann, wenn man keine starken Gefühle zeigt.
Ob man Ramsay die Beschreibung dieser scharfkantigen Erzählung als Romanze abkauft oder nicht, insbesondere angesichts des zutiefst ambivalenten Endes, dürfte ein spannender Rorschachtest für die Zuschauer:innen sein. Doch auch diese Zwiespältigkeit ist Teil des Kalküls dieses aussergewöhnlichen, herausragenden Films – sonst würde er wohl nicht das himmlische, herrlich doppelbödige Duett zu seinem musikalischen Leitmotiv erheben, in dem John Prine und Iris DeMent singen: «We’re gonna spite our noses right off of our faces / There won’t be nothin’ but big old hearts dancin’ in our eyes.»