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Erich langjahr 1998

Die Realität vermessen, Mass nehmen an der Wirklichkeit

«Die Realität vermessen, Mass nehmen an der Wirklichkeit» – das könnte als Maxime über dem Werk Erich Langjahrs stehen. Seine Filme wollen zeigen, was ist. Durch das Objektiv der Kamera macht er sichtbar, was er mit den eigenen Augen sieht, beobachtet, empfindet.

Text: Franz Ulrich / 01. Okt. 2002

Nach zahlreichen anderen Ehrungen und Preisen wurde Erich Langjahr am 21. September in Luzern von der Innerschweizer Kulturstiftung der Kulturpreis der Innerschweiz für das Jahr 2002 verliehen «für sein herausragendes Werk auf dem Gebiet des Dokumentarfilms, welches einen massgebenden Beitrag zur schweizerischen Filmkultur sowie zur engagierten Auseinandersetzung mit drängenden Fragen unserer Zeit und unserem Lebensraum leistet».

«Die Realität vermessen, Mass nehmen an der Wirklichkeit» – das könnte als Maxime über dem Werk Erich Langjahrs stehen. Seine Filme wollen zeigen, was ist. Durch das Objektiv der Kamera macht er sichtbar, was er mit den eigenen Augen sieht, beobachtet, empfindet. «Ich bin ein optischer Mensch», sagt Erich Langjahr. Sehen, schauen, betrachten und dann mit dem Geschauten «etwas anfangen», das ist seine besondere, eigene Art, sich mit seiner Umwelt und mit sich selbst auseinander zu setzen. Film ist für ihn gleichbedeutend mit Augenschulung. Nur wer sehen lernt, entwickelt jene Sensibilität, um das wahrnehmen zu können, was in seiner Umwelt wirklich vor sich geht, auch das unter der Oberfläche und das Verborgene. Das Harmonische und Schöne in seiner Umgebung zu erspüren, aber auch die Konflikte, Widersprüche und Fehlentwicklungen zu dokumentieren – das sind unabdingbare Voraussetzungen, um einen eigenen Standpunkt, die eigene Identität zu finden.

Mit seinen Filmen will Erich Langjahr weder etwas erklären noch etwas beweisen. Er gibt sich weder als Oberlehrer noch als Apologet, weder als Agitator noch Missionar. Didaktische oder thesenhafte Filme, bei denen man, wie er sagt, rauskomme und irgendjemandem Recht gebe, interessieren ihn nicht. Vielmehr ist er ein Spurensucher und Spurenleser. Dabei geht er vom unmittelbaren Erleben aus, von dem, was er sieht, was ihm in die Augen sticht. Das kann ein Flötenspieler in der Zürcher Bahnhofstrasse sein, in Justice (14 Min.), seinem ersten Dokumentarfilm, den er neben den beiden Kurzspielfilmen Bahnhof (14 Min.) und Der Fluss (9 Min.) 1973 gedreht hat. Indem die Kamera diesen Flötenspieler und die Passanten beobachtet, sie zu einander in Beziehung setzt, wird der Spieler vom Fremdkörper in der ebenso noblen wie hektischen Geschäftsstrasse allmählich zum vertrauten, normalen Menschen, während die zum Bahnhofstrasse-Alltag gehörenden Passanten mit ihren erstaunten, gestressten, skeptischen und unwilligen Gesichtern zu exotisch wirkenden Fremden werden. Dann tritt die Polizei in Aktion und führt den Flötenspieler wegen fehlender Bewilligung ab. Gegen eine Busse wird er wieder freigelassen. Die Lust am Spielen hat er jedoch verloren. Der Zuschauer kann sich zu dieser «marginalen» Episode seine eigenen Gedanken machen – etwa: Ruhe und Ordnung sind gewahrt, Verordnungen und Geboten wurde Nachachtung verschafft, aber zugleich ist die Bahnhofstrasse um einige verträumte, helle und farbige Töne, um etwas Freundlichkeit, Charme und Menschlichkeit ärmer geworden.

Justice

(Bild: Justice)

Ähnlich geht Langjahr in allen seinen folgenden Werken vor. Er sammelt Material, um Ereignissen und Zuständen, ihren Ursachen und Wirkungen auf die Spur zu kommen, montiert das Gefilmte in einem langen, sorgfältigen Arbeitsprozess zusammen, bringt die einzelnen Teile miteinander in Beziehung, um zu schauen, was das gibt, was das für Wirkungen auf Zuschauer hat. Wie gering dabei die Bedeutung vorgefasster Konzepte ist, mag Langjahrs ironische Bemerkung zu seinem Canaria Report (1974, 16 Min.) zeigen: «Auf Gran Canaria hätte meine Kamera doch so leicht die Not der Dritten Welt einfangen können; die Not derjenigen, denen es schlecht geht. Verflucht, aber überall wo ich reise, begegne ich, ohne es zu wollen, der Not der Leute, denen es doch eigentlich gut geht.» In USA-Time (1974, 8 Min.) beobachtet er während einer Amerika-Werbewoche das Schaufenster eines Warenhauses in Zug: das, was im Fenster ausgestellt ist, und das, was sich in den Scheiben von der «zugerischen Welt» spiegelt. Durch die Montage wird der Film zu einer Reflexion über Selbstentfremdung und wirtschaftlichen und kulturellen Kolonialismus – und heute könnte man wohl auch sagen: über Globalisierung. Sieg der Ordnung (1976, 24 Min.) dokumentiert einen Mieterkampf am Hegibachplatz in Zürich, wo Jugendliche 1973/74 leerstehende Häuser besetzt hatten. Die Häuser wurden von der Polizei besetzt und dann abgebrochen. Drei Jahre später war der Bauplatz noch immer unbebaut. Achtung Kinder Pumm (1980, 3 Min.) zeigt Kinder, die anlässlich der Wehrdemonstration im Frühling 1979 in Zürich mit Maschinengewehren und schweren Geschützen hantieren. Diesen Szenen ist eine Tonspur unterlegt, auf der Geschützdonner zu hören ist, so dass sich Zuschauerinnen und Zuschauer der Diskrepanz zwischen den netten, harmlosen Bildern der Krieg spielenden Kinder und der mörderischen Realität des Krieges bewusst werden (sollten). Made in Switzerland (1981, 12 Min.) ist eine listige, impertinente Reportage über den Staatsbesuch der englischen Königin Elizabeth 1980 in der Schweiz und unterscheidet sich erheblich von den meist einfallslosen, rituellen TV-Berichten über solche Anlässe. Do it Yourself (1982, 9 Min.) macht am Beispiel von TV-Apparaten den Widersinn bewusst, dass aus angeblich wirtschaftlicher Notwendigkeit ein ständiger Strom noch brauchbarer Güter der Industriegesellschaft auf dem Müll endet.

Alle diese kurzen Filme, zu denen 1983 noch O.k. (3 Min.) kam, hat Erich Langjahr praktisch im Alleingang realisiert. Sie setzen sich knapp, schlaglichtartig und doch intensiv mit virulenten Themen und Problemen jenes Jahrzehnts zwischen 1973 und 1983 auseinander. Erich Langjahr vertraut darauf, dass das, was ihm spontan auffällt und ihn interessiert, auch andere interessiert und beschäftigt. Seine Filme sind Aufforderungen, sich zum Gezeigten eine eigene Meinung zu bilden, einen eigenen Standpunkt zu beziehen. Langjahr rechnet mit Zuschauern, die nicht verlernt haben, selbständig zu sehen, zu hören, zu empfinden und zu denken. Mit der genormten und den «Publikumsbedürfnissen» angepassten Bilderflut vieler Filme und TV-Sendungen mit ihrem atemlosen Schnitt und den alles zukleisternden Kommentaren, bei denen das eigene Denken meist ausgeschaltet werden darf oder muss, hat er nichts am Hut.

Ex voto3

(Bild: Ex voto)

Erich Langjahr ist Innerschweizer. 1944 in Baar/ZG geboren, besuchte er in Zug die Primar- und Sekundarschule. Nach einem Jahr Berufswahlschule absolvierte er eine Lehre als Chemielaborant. Nach dem Besuch der Basler Kunstgewerbeschule und Versuchen als bildender Künstler begann er 1971 als Autodidakt zu filmen. Schon früher hatte er fotografiert und Super 8-Filme gemacht. Seinen Lebensunterhalt verdiente er zunächst vorwiegend mit Auftragsfilmen für Firmen und Unternehmen. Wichtig für Langjahrs Entwicklung und «filmische Ethik» war anfangs der Siebzigerjahre die Begegnung und die seither bestehende Freundschaft mit den beiden Dokumentarfilmpionieren Walter Marti und Reni Mertens, für die er 1974 bei Dom Helder Camara – Gebet für die Linke an der Kamera tätig war und für deren Filme er nach ihrem Tod den Verleih weiterführt. Sein Atelier hatte er jahrelang am Hirzel, heute lebt er mit seiner Lebenspartnerin und seit 1990 engsten Mitarbeiterin Silvia Haselbeck (verantwortlich für Ton, Kamera- und Schnittassistenz) und zwei Kindern mitten im luzernischen Root in einem von den beiden behutsam restaurierten Holzhaus aus dem siebzehnten Jahrhundert.

Im Verlauf der Jahre hat Erich Langjahr seine Umwelt, vorab die Innerschweiz, seine engere Heimat, zu seinem grossen Thema gemacht, als genauer und geduldiger Beobachter unter die Lupe genommen und deren Veränderungen zwischen Bewahrung und Bedrohung, Identität und Verlust dokumentiert. «Ich beschäftige mich mit dem, was mich geprägt hat, und versuche es natürlich zu verstehen. Das ist vielleicht der Kern meiner Filmarbeit.» Der oberflächlichen Hektik und Schnelllebigkeit der Zeit setzt er Beharrlichkeit, Nachhaltigkeit und Tiefenschärfe entgegen. Dafür zeugt seine Trilogie über Vater- und Mutterland: Deren erster Teil, Morgarten findet statt (zusammen mit Beni Müller, 1978, 94 Min.), war ein produktionstechnisches und gestalterisches Experiment, stand doch für die Aufnahmen der Morgarten-Schlachtfeier 1977 nur ein einziger Tag zur Verfügung. Entstanden ist ein volkskundlicher Film, der am Beispiel der Schlachtfeier, des Schützenwettkampfes und der offiziellen Essen ein Stück Innerschweizer Festwelt dokumentiert. Zugleich ist der Film aber auch eine kritische Befragung des durch Morgarten symbolisierten Freiheitsbegriffs, der ideologisiert und auf die Bejahung des Vaterländisch-Patriotischen und der Wehrtradition eingeengt worden ist. Er weist Belege vor, dass die Morgartenfeier nicht mehr der Bildung einer echten, lebendigen Volksgemeinschaft dient, sondern zum Abhalten eines traditionellen Rituals erstarrt ist, mit festgelegten Rollen für die verschiedenen, aber letztlich getrennt unter sich bleibenden Bevölkerungsgruppen.

Morgartenfindetstatt

(Bild: Morgarten findet statt)

Ganze sieben Jahre dauerten die Arbeiten an Ex voto (1986, 110 Min.). So etwas kann nur ein Einzelkämpfer wie Erich Langjahr durchstehen, der Buch, Regie, Kamera, Schnitt und Ton bis 1990 (meist) selbst besorgte und nur für die Musik die Mitarbeit anderer anforderte, wie etwa jene des 1997 verstorbenen Mani Planzers für die ganz hervorragende Musik in Ex voto und Männer im Ring (1991). Mehr noch als der Morgartenfilm hat Ex voto mit der Suche nach der eigenen Herkunft und Identität, dem eigenen Selbstverständnis, zu tun. Langjahr wollte wissen, wer er ist, woher er kommt, in welchem geistigen und kulturellen Humus er seine Wurzeln, seine Heimat hat. Er hat sich aufgemacht, die unweit von Baar gelegene Zuger Landschaft um den Gubel mit seinem Kloster und den Menschen mit der Kamera über längere Zeit zu beobachten und zu erforschen. Er ist auf die historische, teils kriegerische Vergangenheit dieser Landschaft gestossen, die noch in die Gegenwart wirkt; er wurde nicht müde, die idyllische Anmut der Gegend zu schildern, und mit Trauer und Zorn registrierte er die unaufhaltsamen Veränderungen, die Bedrohungen und Zerstörungen, die Konflikte und Widersprüche, mit denen die Landschaft seiner Kindheit und Jugend konfrontiert ist.

Ex voto ist ein Bildgedicht, das gleichsam in Strophen und Verse gegliedert ist. Eine ausgeklügelte Montage, die sich immer wieder zu spannenden Passagen aufschwingt, verknüpft die Bilder und Sequenzen zu einem vielschichtigen optischen Geflecht, in dem die Themenfäden durcheinander laufen, verschwinden, wieder auftauchen und ein ganz und gar poetisches und zugleich anregend-anstössiges Werk entstehen lassen. Wie noch in keinem seiner vorherigen Filme hat Langjahr hier seine eigene Sprache gefunden, mit der er seine Erfahrungs-, Denk- und Gefühlsprozesse in bezug auf Umwelt und Heimat optisch und akustisch umzusetzen vermochte und die er in seinen folgenden Filmen auf ebenso eindrückliche und überzeugende Weise weiter entwickelte.

Wenn ein Merkmal des guten Dokumentarfilms darin besteht, das Unbekannte begreifbar zu machen, das Vertraute fremd und neu erscheinen zu lassen, dann trifft dies in besonderem Masse auf den letzten Teil der Trilogie zu: Männer im Ring (1990, 73 Min.), mit dem Langjahr seinen «Horizont» nach Osten, in die Ostschweiz, erweiterte. Mit Männer im Ring sind jene der Landsgemeinde in Hundwil im Kanton Appenzell Ausserrhoden gemeint, die 1989, nach mehreren Anläufen, den Frauen (endlich) das Stimm- und Wahlrecht auf kantonaler Ebene «gewährten». Der Bericht über dieses «Jahrhundertereignis» bildet nur einen Teil des Films, der tiefer zielt als bloss eine Reportage über ein Ereignis, das inzwischen längst zur Vergangenheit geworden ist. Mit einem ethnografischen Blick, der die besten Schweizer Dokumentarfilme seit jeher auszeichnet, und mit Spürsinn für aussagekräftige Details situiert und kreist er die denkwürdige Landsgemeinde ein, zeigt ihre Vorbereitung und Durchführung und lässt Frauen und Männer von ihren Gefühlen und Meinungen zu diesem «Vatertag» sprechen. Auch Männer im Ring ist eine Reflektion über den Verlust von Heimat, über Eigenverantwortung und Selbstbestimmung, über das Verschwinden einer Tradition und von Freiräumen, in denen ein Handwerksbetrieb, eine Bäckerei oder ein kleiner Laden selbständig geführt werden kann und nicht von einem Konzern ferngesteuert wird. Blosses Wunschdenken und Nostalgie? Warum befasst sich Erich Langjahr so ausdauernd und hartnäckig mit solchen Themen? Weil auch er ein auf sich selbst gestellter Schweizer Filmemacher, ein eigenverantwortlicher Kleinunternehmer ist: «Ich mach’ auch «Biberli» …». Wie hier Bürgerinnen und Bürger selbstbewusst, ohne Angst und Scheu, ihre Meinung kundtun, gerät zur Parabel über echte, gelebte Demokratie.

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(Bild: Männer im Ring)

Nach Unter dem Boden (1992, 35 Min.), in dem junge Menschen in einer Notgrabung auf dem Areal einer geplanten Überbauung am Zugersee den Boden nach archäologischen Funden durchsuchen, um mehrtausendjähriges Kulturgut vor der Baukultur unseres Jahrhunderts zu retten, entsteht in über zehnjähriger Arbeit Langjahrs und Silvia Haselbecks zweite grosse Trilogie, in deren Zentrum Fragen nach Identität, Überleben und Zukunft der agrarischen, bäuerlichen Welt stehen. Sennen-Ballade (1996, 100 Min.) porträtiert einen Toggenburger Bauern und seine Familie im Alltag auf der Alp und auf dem Hof, beim Brauchtum und beim Schnitzen von Holzfiguren. Wie der britische Seeoffizier und Entdecker John Franklin (1786–1847), der Held von Sten Nadolnys Buch «Die Entdeckung der Langsamkeit» (1983), mit seiner Philosophie der Gründlichkeit und Bedächtigkeit der «fatalen Beschleunigung des Zeitalters» mit den immer schnelleren Fortbewegungsmöglichkeiten und der industriellen Revolution programmatisch gegenüber steht, so steht die Welt des Bauern Meile in diametralem Gegensatz zu Globalisierung, Shareholder-Values, Konsumismus, Raubbau an den Ressourcen, EG-Normen und zum rasenden Werte- und Paradigmenwechsel unserer Zeit. Seine Welt wird von ganz anderen Gesetzen als von Profitmaximierung und einer entsolidarisierten Marktwirtschaft bestimmt: vom Wechsel der Jahreszeiten, von den Bedürfnissen des Viehs, vom Rhythmus der täglichen Arbeit. Langjahr nähert sich dem Leben und der Arbeit Meiles behutsam, bedächtig und gründlich. Er schaut mit der Kamera, hört mit dem Tonbandgerät genau hin. Wer sich darauf einlässt, bekommt denn auch mehr als üblich zu sehen und zu hören – Sennen-Ballade ist unter anderem auch eine formidable Seh- und Hörschule, ein ethnografisches Dokument, das akribisch und poetisch zugleich ein (vom Verschwinden bedrohtes) bäuerliches «Biotop» schildert. Jede Tätigkeit, sei es die Alpauffahrt oder das Schnitzen einer Holzkuh, bekommt die Zeit, die sie braucht, um ihren Sinn, ihre Nützlichkeit und Schönheit wahrzunehmen. Ein Höhepunkt ist die rund 20minütige Sequenz, in der das Käsen in jedem Arbeitsvorgang anschaulich miterlebbar wird.

Sennen-Ballade schildert ein zwar traditionelles, identitätsstiftendes, aber keineswegs ausserhalb der Zeit stehendes Bauerntum: Meile benutzt eine Melk- und andere Maschinen, lässt seine Kuh künstlich besamen. Langjahr weiss sehr wohl um die Krise der Bauern, die heute nicht nur ein wieder sehr virulentes schweizerisches, sondern ein globales Thema ist. Dank der sorgfältig durchdachten Montage seines Films gelingt es ihm aufzuzeigen, was auf dem Spiel steht, wenn Bauern wie Meile, bei dem auf der Alp so gut wie nichts «EG-konform» ist, gezwungen werden, sich dem alleinigen Gesetz von Produktion und Rendite zu beugen. Damit verschwände eine – gewiss kleine – Welt, in der die Umwelt schonend genutzt wird, in der Kinder auf die natürlichste Weise die Kenntnisse und Anforderungen des Bauerns erlernen, in der Tiere nicht nur als hochgezüchtete Produktionsmaschinen instrumentalisiert werden. Es verschwände eine der immer selteneren Daseinsformen, in denen Mensch, Tier und Arbeit in einem Sinnzusammenhang stehen und noch ihre Identität und Würde besitzen.

Sennen ballade

(Bild: Sennen-Ballade)

Bauernkrieg (1998, 84 Min.) befasst sich mit dem Überlebenskampf der Bauern «am Übergang einer staatlich gelenkten Planwirtschaft zur Marktwirtschaft» und ist heute wohl noch aktueller als vor vier Jahren. Die weltweite Liberalisierung des Handels, zu hohe Bodenpreise, Milchpreiszerfall und Profitmaximierung konfrontieren die Bauern mit einem unerbittlichen Produktions- und Leistungsdruck und zwingen viele zum Aufgeben. Ihre Höfe werden vergantet (versteigert). Andere setzen auf den technischen Fortschritt samt ethisch fragwürdiger Biotechnik, um unter dem Produktivitäts- und Wirtschaftlichkeitsdiktat überleben zu können. Welche Folgen die Leistungssteigerung beim Vieh hat, wird an Beispielen aufgezeigt. Der Film ist eingerahmt von Szenen heftiger Bauerndemonstrationen, zu Beginn jene von 1992 in Luzern, am Schluss jene von 1996 in Bern. Das für die schweizerische Identität so viel beschworene Bild des freien, selbständigen Bürgers, bis in die jüngste Zeit vor allem verkörpert durch den unabhängigen, auf seiner eigenen Scholle werkenden Bauern, wird immer mehr zum folkloristisch-nostalgischen Phantom. Am Schluss wird die industrielle Tierkadaververwertung vorgeführt. Nicht nur hier hält Langjahr seine Kamera direkt auf eine schockierende Wirklichkeit, die weitgehend verdrängt wird. Die nachhaltige Wirkung entsteht aber nicht nur aus der manchmal äusserst lakonischen und schonungslosen Abbildung einer Realität, sondern auch daraus, dass er hartnäckig auf die Ursache hinweist: den Profit als höchsten Wert in einer Zeit, in der die Ware wichtiger ist als Mensch und Tier. Bauernkrieg ist ein Film von grosser sinnlicher und moralischer Kraft.

Den Abschluss dieser Trilogie bildet Hirtenreise ins dritte Jahrtausend (2002, 124 Min.) Im nomadischen Hirtentum, einer der ältesten Kulturformen menschlicher Existenz, ist eine eigene Lebenshaltung und Weltanschauung verkörpert. Er begleitet Hirten in verschiedenen Gegenden der Schweiz, zeigt ihre harte Realität in einer zuweilen fast archaischen Bildwelt. Wiederum lässt sich Langjahr Zeit, gibt Mensch, Tier und Natur Raum in Bildern von einer zwingenden, manchmal geradezu ergreifenden Schönheit und meditativen Stille.

Erich Langjahr ist etwa in dem Sinne Heimatfilmer wie Meinrad Inglin Heimatdichter war. Beide sind zu ihrer Heimat auf kritische Distanz gegangen, könnten sie aber in Leben und Werk nicht missen. Beide stehen zu ihr, zu ihren guten wie ihren weniger guten Seiten. «Ich staune, also frage ich», und seine Filme sind das Resultat seiner Fragen an die Realitäten heutigen Daseins. Vielleicht ist erst im Rückblick aus der Zukunft wirklich zu erkennen und zu würdigen, was Langjahr mit seinen Filmen am Übergang vom zweiten ins dritte Jahrtausend geleistet hat: die Erarbeitung eines detailgenauen, eigenständigen, unabhängigen, reichen und poetischen Bildes von Lebensweisen und -bedingungen in der Schweiz. Langjahrs Langzeit-Bestandesaufnahmen sind aber nicht nur reichhaltige Dokumente des Lebens der letzten drei Jahrzehnte in der Schweiz, sie werden einmal auch sichtbar machen, ob seine Analysen zur Vermeidung von Fehlentwicklungen genutzt wurden oder nicht.

(Titelbild: Erich Langjahr 1998; letztes Bild: Erich Langjahr und Benni Müller bei den Dreharbeiten zu Morgarten findet statt)

Langjahr und benni muller dreharbeiten morgarten

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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