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Der richter und sein henker 2

«Er sagte: Ich habe die Farben auf meiner Palette nicht mehr»

Die Filmemacherin Charlotte Kerr drehte 1984 mit Friedrich Dürrenmatt die vierstündige Dokumentation Porträt eines Planeten. Vom selben Jahr an bis zu seinem Tod war sie mit ihm verheiratet.

Text: Pierre Lachat / 01. Nov. 1993

Die Filmemacherin Charlotte Kerr drehte 1984 mit Friedrich Dürrenmatt die vierstündige Dokumentation Porträt eines Planeten. Vom selben Jahr an bis zu seinem Tod war sie mit ihm verheiratet. Ihre Erinnerungen an die Jahre ihrer Ehe und besonders auch an die gemeinsame Filmarbeit mit dem Autor hat sie 1992 in ihrem Buch «Die Frau im roten Mantel» veröffentlicht.

FILMBULLETIN In welchem Mass trug die Begegnung Dürrenmatts mit Ihnen dazu bei, dass sein Interesse am Film neu erwachte?

CHARLOTTE KERR Ich war mit einem Film über Jules Dassin beschäftigt, den ich gerade schnitt, als ich Dürrenmatt kennenlernte, und bat ihn in den Schneideraum, und so war er der erste, der den Film zu sehen bekam. Die Begegnung hat noch lange nachgewirkt. Dürrenmatt ging bei dieser Gelegenheit auf, was im Dokumentarfilm möglich ist.

Die Folgen waren noch bei der Arbeit an «Midas» zu spüren, der zuerst als Spielfilm geplant war. Dürrenmatt arbeitete damals mit Maximilian Schell. Schell sagte zum Beispiel: «Aber der Midas, dieser Green, muss doch eine Liebesszene haben, er muss Herz und Gefühl zeigen.» Dürrenmatt schrieb eine neue Version, doch konnte er nicht, wie jeder Drehbuchautor, ein Element einfach ausbauen, umformen und wieder einsetzen. Sondern er verfuhr gleich wie bei seinen andern Texten; das heisst, wenn etwas zu ändern war, dann musste er mit dem ganzen Aufbau von vorn anfangen.

«Midas»

FILMBULLETIN Dürrenmatt hat dann mit Ihnen auch ganz praktisch an Filmen gearbeitet.

CHARLOTTE KERR Für Porträt eines Planeten war er leicht zu gewinnen, weil ihn die Möglichkeiten des Dokumentarfilms jetzt wirklich beschäftigten. Bei den Dreharbeiten begann er sich für alles zu interessieren, was um ihn herum mit dem Filmemachen zu tun hatte. Dass sich zum Beispiel unter Bilder ein ganz anderer Ton legen lässt, das ist ihm geblieben. Jahre später, als er (sechs Monate vor seinem Tod) den «Midas» noch einmal umschrieb, um ihn als Buch herauszubringen, hat er sich der Möglichkeit des «voiceover» entsonnen. So entstand «Midas oder die Schwarze Leinwand», den er einen «Film zum Lesen» nannte.

Heute bin ich im Streit mit dem Diogenes-Verlag, der zulassen möchte, dass in Deutschland «Midas» auf der Bühne aufgeführt wird. Wenn Dürrenmatt «Midas» als Theaterstück hätte schreiben wollen, dann hätte er das getan. Er hat es nun einmal nicht getan. Ich habe das Projekt mittels einstweiliger Verfügung gestoppt.

«Midas» treibt für mich Film auf die Spitze. Da gibt es das «voice-over», da ist ein Hauptdarsteller, den man nie sieht (nur hört), da werden Auftritte immer wieder mit Schnitten unterbrochen, und es wird auch noch mit Video-Einspielungen operiert. Dürrenmatt spielt in diesem Text mit allen Möglichkeiten des Mediums so virtuos, dass er das Medium transzendiert. «Die Bilder, die ich schreibe, mache ich selber – man muss sie sich vorstellen», sagte er.

Neulich habe ich Schell gefragt: «Machst du «Midas»? Die veröffentlichte Fassung wäre doch das beste Drehbuch.» Seine Antwort: «Das geht nicht, weil wir Dürrenmatt nicht mehr haben.» Er tritt ja in der fraglichen Fassung selber auf, und sinnvollerweise könnte niemand anderer die Rolle an seiner Stelle spielen.

Die ehe des herrn mississippi 2

(Bild: Die Ehe des Herrn Mississippi)

FILMBULLETIN Wie sprach sich denn Dürrenmatt grundsätzlich über Film aus?

CHARLOTTE KERR Wir haben einmal zusammen einen Film über Melina Mercouri realisiert, für den wir während vielen Tagen zusammen im Schneideraum sassen. Ich brauchte Texte, und er hat sie nach Absprache mit mir geschrieben. Bis dahin war klar geworden – und er sprach es auch aus-, dass Film ihn nachgerade mehr interessierte als das Theater, das er vergleichsweise altmodisch fand. Doch sagte er oft, der Film nutze seine Möglichkeiten falsch, indem er zuviel Sprache verwende und nicht direkt genug vom Bild ausgehe. Bei Kubrick, Kurosawa und Fellini sah Dürrenmatt Film so verwirklicht, wie er es sich vorstellte.

FILMBULLETIN Das Interesse am Film war also bei ihm während der frühen Jahre ausgesprochen distanziert gewesen?

CHARLOTTE KERR Jedenfalls setzte seine aktive Teilnahme am Filmemachen erst dank seiner Mitwirkung an Schells Der Richter und sein Henker und dann durch mich ein. Bis dahin hatte er nur ein Drehbuch geschrieben, dessen Verfilmung er ganz gut fand: Die Ehe des Herrn Mississippi. Bei Es geschah am hellichten Tag hat es ihn einfach enttäuscht, dass das Ende geändert wurde.

«Der Auftrag»

FILMBULLETIN Sie haben dann versucht, «Der Auftrag » zu verfilmen, einen von Dürrenmatts schwierigsten Texten, der doch eigentlich bereits Film ist, und zwar in so hohem Mass, dass sich sagen lässt, es brauche keinen Film mehr.

CHARLOTTE KERR Im Grunde stimmt das, «Der Auftrag » ist wieder ein Film zum Lesen. Beim Adaptieren wollte ich zuerst die Sprache erhalten und Bilder assoziieren, aber das trägt über keine anderthalb Stunden (Chris. Marker hat etwas von ähnlicher Art in Sans soleil versucht). Dann habe ich andere Ideen ausprobiert, wollte ausgehen vom Kopf Dürrenmatts am Schreibtisch und ihn immer wieder einblenden, wechselte zwischen realen Spielszenen und assoziierten Bildern.

Aber ich habs dann leider nicht gemacht. Immerhin habe ich zu drehen angefangen, Helikopteraufnahmen, Aufnahmen im Genfer CERN. Dann hat Dürrenmatt seinerseits angefangen, am Drehbuch zu schreiben, über sechzig Seiten, und rücksichtslos Texte rausgeschmissen. Sehr optisch, aber er fand «zuviel Stoff. Eine Filmgeschichte muss einfach sein.»

FILMBULLETIN Glauben Sie, dass er, gemessen an seinen Leistungen auf dem Gebiet des Theaters, mit der Verwirklichung seines Talents in andern Bereichen nicht zufrieden war?

CHARLOTTE KERR Welche Frage! Dürrenmatt war ein grosser Prosa-Autor. Das Theater hat ihn nicht mehr interessiert. Er sagte: ich habe die Farben auf meiner Palette nicht mehr. Er hat nicht für bestimmte Schauspieler geschrieben, aber er wusste, er hat eine Giehse, einen Knuth, einen Schröder; er wusste es, beim Schreiben, wie ein Maler seine Farben kennt. Er hatte seine Uraufführungstheater in Zürich, München und Basel. Und das alles war dann einmal völlig anders geworden.

Es geschah am hellichten tag 1

(Bild: Es geschah am hellichten Tag)

FILMBULLETIN Er war kein abstrakter Theaterautor.

CHARLOTTE KERR Er hat immer das Ende eines Stücks auf der Bühne, bei den Proben fertiggeschrieben. Und er liebte das einfache Theater. Er fand diese ganzen übertriebenen Bühnenbilder, das Regietheater unerträglich. Dürrenmatt war sehr glücklich, nur noch Prosa zu schreiben. Und wenn jemand wie Dürrenmatt sagt: Ich habe mit «Achterloo» mein letztes Stück geschrieben, Theater ist nicht mehr mein Medium, dann sollte man das ernstnehmen und respektieren.

Als junger Mensch sagte er, die Bühne war für ihn die Erlösung zwischen Schreiben und Malen. Da konnte er beides verbinden. Später kehrte er zu einer Trennung zurück: Seine Denkwelt war auf der Bühne nicht mehr darstellbar. Er schuf seine eigenen Bilder: Prosa schreibend, zeichnend, malend.

«Der Besuch»

FILMBULLETIN Dürrenmatt hatte immer wieder Probleme mit den Filmproduzenten, die auf Happyends geradezu versessen waren.

CHARLOTTE KERR Eine erste Verfilmung von «Justiz» planten vor ein paar Jahren einige Italiener, aber Dürrenmatt hat das Projekt im letzten Moment doch nicht autorisiert, weil die Produzenten am Schluss der Geschichte eine Hochzeit einbauen wollten.

FILMBULLETIN Unvorstellbar.

CHARLOTTE KERR Für Film und Fernsehen ist vieles vorstellbar.

FILMBULLETIN Wenn man diese Episode zusammensieht mit andern – die Es geschah am hellichten Tag und den Besuch der alten Dame betreffen–, dann kann man doch sagen: Das Problem mit dem Ende eines Films hat Dürrenmatt geradezu verfolgt.

CHARLOTTE KERR Das ist normal bei der Konfrontation eines Autors, für den eine Geschichte erst dann zu Ende gedacht ist, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat, mit einer Industrie, die «happy end» auf ihr Banner geschrieben hat. Und als junger Autor wusste er zu wenig von Verträgen, sprach kaum Englisch, brauchte Geld, behielt sich kein Einspruchsrecht vor oder bekam es nicht.

Es scheint wie die schlimmstmögliche Wendung einer Geschichte, dass heute, da er weltberühmt ist und ihm jedes Einspruchsrecht zusteht, er es nicht mehr ausüben kann und Verträge, Willenserklärungen ... na ja. Ein Dürrenmatt-Ende.

Das Gespräch mit Charlotte Kerr führte am 15. Juli 1993 in Neuchätel Pierre Lachat

Der besuch 1

(Titelbild: Der Richter und sein Henker; letztes Bild: Der Besuch)

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/1993 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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