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Beethoven bis zum Umfallen: Igor Levit. Bild: © Vinca Film

Er spielt und spielt und spielt: Igor Levit – No Fear

Regina Schilling porträtiert den Starpianisten Igor Levit, ohne etwas erklären zu wollen. Das braucht Geduld, weckt aber das Interesse.

Text: Oliver Camenzind / 08. Juni 2023

Drei Männer schleppen schwer schnaufend einen schwarzen Kasten die Treppe hoch. Es ist Igor Levits neuer Steinway. Und die erste Szene in einem Film über den deutschen Starpianisten. Die kurze Passage macht gleich klar, worum es hier geht: Das Klavier ist ein monumentales Instrument. Es beherrschen zu wollen, braucht Mut.

Davon hat Igor Levit offensichtlich sehr viel. Er setzt sich an den Flügel, spielt mit allem, was er hat, und bis an die Grenze der Verausgabung. Ob ihm dabei ein ausverkaufter Konzertsaal zuhört oder nur das Mikrofon einer Kamera, macht für ihn keinen Unterschied. Levit geht immer aufs Ganze. Und erreicht mit dieser Hingabe Tausende, die sich sonst eher nicht für Beethovens 32 Sonaten interessieren würden.

Wo er diese Leidenschaft hernimmt – dieses Geheimnis zu lüften, hat sich die deutsche Regisseurin Regina Schilling vorgenommen. Mit ihrem Kamerateam hat sie Levit über ein Jahr lang zu Konzerten, ins Tonstudio, beim Einkaufen und auf Reisen begleitet. Aus dem Lockdown 2020 montiert sie Heimkonzerte, die Levit mit dem Handy aufgezeichnet hat. Entstanden ist aus dieser Begleitung eine Art Porträt des Musikers.

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Bild: Vinca Films

Wer sich nun aber erhofft, in diesem Film Lebensweg, Philosophie und Eigenheiten des Pianisten kennenzulernen, wird enttäuscht sein. Der Film macht einen Bogen um alles Enzyklopädische. Hier wird nichts erklärt oder vermittelt. Stattdessen sehen wir immer wieder nur eines: Igor Levit am Flügel. Mal spielt er im Tonstudio Beethoven, mal Mozart im Konzertsaal, mal Feldman zu Hause und einmal Rzewski im besetzten Danneröder Forst.

Regina Schillings filmisches Vorgehen ist damit so mutig wie Igor Levits Soloauftritte auf riesigen Bühnen. Minimalistischer könnte ein Dokumentarfilm nämlich kaum daherkommen. Schilling spricht mit keinen Lehrer:innen von Levit, mit keinem seiner Vertrauten, mit keinen Familienmitgliedern – ja eigentlich mit überhaupt niemandem ausser ihm selbst. Und der kommt auch nur selten ins Erzählen. Er beantwortet Fragen, kommentiert dieses und jenes. Aber wer er ist, das verrät er nicht. Regina Schilling scheint darauf vertraut zu haben, dass Igor Levits Spiel für sich spricht. Darauf, dass seine Begeisterung von selbst auf ein breites Publikum überspringen würde. Und dass Musik keiner Erklärung oder Einordnung bedürfe.

Und damit behält sie recht.

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Bild: © Vinca Films

Das Resultat dieser emotionalen und assoziativen Annäherung an Igor Levit ist ein sehr, sehr ruhiger Film. Die Passagen, in denen Levit Klavier spielt, nehmen mindestens die Hälfte der zwei Stunden des Films ein und stehen teilweise während 10 Minuten ohne einen einzigen Schnitt da. In diesen Einstellungen sehen wir nichts als einen Mann, der schwitzend, stampfend und stöhnend die Tasten seines Instruments bearbeitet. Und hören nichts als die Musik, die aus seinen Fingern kommt.

Mit den zeitgenössischen Dokumentarfilmen der grossen Streamingplattformen hat das natürlich nichts zu tun. Was dort von Cliffhangern, Spannungsbögen und Konfliktnarrativen durchsetzt ist, kommt hier ganz simpel daher: «Das ist Igor Levit, er spielt Klavier. Schaut und hört ihn euch an.» Das scheint das Einzige zu sein, was der Film seinem Publikum sagen möchte.

Wer das nun schauen und hören möchte, braucht viel Geduld und die Bereitschaft, sich auf 250 Jahre alte Kompositionen einzulassen. Manche werden nun finden, dass das viel verlangt ist, allzu viel vielleicht. Wer die Geduld indes aufbringt, gerät nach dem Abspann in eine wunderbare Situation: Jetzt stellen sich die Fragen erst recht, das Interesse ist geweckt. Und mehr kann man ja nicht erwarten.

 

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