2017 wurden in einem Bankschliessfach in Stockholm 60 000 Negative des südafrikanischen Fotografen Ernest Cole entdeckt. Eine gänzlich widersinnige Überraschung war der Fund nicht: Der 1990 verstorbene Cole, dessen Bildband «House of Bondage» die Welt in den Sechzigerjahren mit der brutalen Realität des Apartheid-Regimes schockierte und so die internationalen Rufe nach Südafrika-Sanktionen und -Boykotts laut werden liess, war um 1970 Stammgast in der schwedischen Hauptstadt und stellte dort auch regelmässig seine Schwarzweissbilder vom Alltag in seiner US-Wahlheimat aus. Wie genau aber sein jahrelang verschollen geglaubter Nachlass dort landete, ist bis heute ein Rätsel.
Diese Leerstelle ist das Gravitationszentrum des Dokumentarfilms Ernest Cole: Lost and Found. Denn für den haitianischen Regisseur Raoul Peck (Lumumba, la mort d’un prophète, I Am Not Your Negro) ist das Auftauchen der Negative nicht bloss ein posthumer Epilog in Coles Biografie, sondern ein Sinnbild für all die Thematiken, die sein kurzes Leben prägten: für sein gespaltenes Verhältnis zum Unrechtsstaat, der auch seine schmerzlich vermisste Heimat war, sein Dasein als staatenloser Exilant, seine Rassismuserfahrungen auf drei Kontinenten, ja sogar für die Bevormundung, die Schwarze Südafrikaner:innen wie etwa sein Neffe und Nachlassverwalter Leslie Matlaisane bis heute erleben.

© trigon-film
Man kann sich gut vorstellen, wie ein simplerer Film triumphal mit der Szene endet, in der Matlaisane nach Stockholm reist, um dort den fotografischen Schatz aus dem wiederentdeckten Schliessfach zu heben. Peck hingegen lässt sich von der medienwirksam inszenierten Feierlichkeit des Moments nicht blenden, zeigt stattdessen auf, wie Coles Erb:innen wie undankbare Nutzniesser:innen schwedischer Selbstlosigkeit behandelt wurden, und betont, wie bestimmt sich die Anwält:innen der Bank gegen Matlaisanes Wunsch wehrten, der Provenienz der Negative auf den Grund zu gehen.
Es ist das ernüchternde Fazit eines Films, der zwar einige kosmetische Makel aufweist – ob die mit penetrantem Sounddesign vertonten Cole-Fotos und die überkandidelten Grafiken wohl eine Konzession an den Styleguide des Koproduzenten Netflix waren? –, mit seiner Anhäufung von Impressionen, Assoziationen und Interpretationen aber einmal mehr Pecks Stärken als dokumentarischer Porträtist unterstreicht.

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Basierend auf einer Mischung aus autobiografischen Aufzeichnungen und Pecks Adaption von Zeitzeug:innen-Aussagen, denkt der von LaKeith Stanfield (Sorry to Bother You, Judas and the Black Messiah) gesprochene Ich-Erzähler Cole über seine Arbeit als Fotograf und die politische Dimension von Sehen und Gesehenwerden nach. Über die transatlantische Verwandtschaft zwischen Afrikaner:innen und Afroamerikaner:innen, aber auch jene zwischen südafrikanischen und US-amerikanischen Rassismen. Über die Errungenschaften und blinden Flecken der 68er-Bewegung. Über den rückblickend absurden – vor dem Hintergrund des Kriegs im Gazastreifen aber deprimierend vertraut wirkenden – Refrain von UNO und Westmächten, ein Südafrika-Boykott würde vor allem der unterdrückten Bevölkerung schaden. Über die Frage, wie man als Gesellschaft ein Verbrechen wie die Apartheid jemals überwinden kann. Über das Schaffen einer Schwarzen Identität in Johannesburg, New York, Stockholm und den amerikanischen Südstaaten. Und über das Privileg, so viel Kontrolle über die eigenen Geschicke zu haben, dass man sich niemals neu erfinden muss.
In Kombination mit Editorin Alexandra Strauss’ prägnant arrangierter Collage aus Fotografien und Archivaufnahmen schafft Peck mit seiner vielschichtigen Cole-Bauchrednerei ein scharfsinniges Stück postkoloniales Kino – eines, das nicht zuletzt als Herausforderung an jene Weiss dominierten Länder zu verstehen ist, die sich etwas zu viel auf die Vorsilbe «post-» einbilden.