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Everything Everywhere All at Once – ein Multiversum voller Existenzfragen

Der bisher erfolgreichste Sciencefiction-Abenteuerfilm des Jahres will mehr sein als nur das. Und entpuppt sich deshalb als kreativer Kraftakt und Wundertüte voller Überraschungen.

Text: Michael Pekler / 01. Juni 2022
  • Regie, Buch

    Daniel «Dan» Kwan, Daniel Scheinert

  • Kamera

    Larkin Seiple

  • Schnitt

    Paul Rogers

  • Darsteller:innen

    Michelle Yeoh, Jonathan Ke Quan, Stephanie Hsu, James Hong, Jamie Lee Curtis

Es ist kein wunderbarer Waschsalon, den die chinesische Einwanderin Evelyn (Michelle Yeoh) vor vielen Jahren eröffnet, und der sie mittlerweile an den Rand des finanziellen Ruins gebracht hat. Er ist höchstens wundersam: zu gross, zu laut und unüberschaubar. In seinen Gängen könnte man sich verirren, an den Wänden hängen Fernsehschirme, und wer wieder einmal seine Schuhe in die Trommel geworfen hat, wird atemlos im Vorbeigehen gerügt. Dieser Ort entspricht dem Alltag, in den Evelyn irgendwann geschlittert ist. Er ist wie seine Besitzerin: hektisch und immer in Bewegung. Und wie der Film, der hier beginnt.

Tatsächlich gönnt einem Everything, Everywhere All at Once von der ersten Sekunde an keine Verschnaufpause, reisst einen hinein in eine Welt, von der sich überdies bald herausstellt, dass sie nicht die einzige ist – aber angesichts der ihr folgenden noch die normalste. Normal bedeutet in dieser Welt für Evelyn, dass sie in diesem Tollhaus kurz vor dem chinesischen Neujahrsfest schwer verschuldet eine Steuerprüfung über sich ergehen lassen, ihrem Mann Waymond (Jonathan Ke Quan) die Scheidung erklären und sich mit ihrer lesbischen Tochter Joy (Stephanie Hsu) auseinandersetzen muss.

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Weil jeder Film in irgendeine Schublade passen muss, wird dieser seit seiner Premiere beim South by Southwest Film Festival, wo er seinen Siegeszug vor allem bei Festivals und Fans begann, als Sciencefiction-Abenteuerfilm bezeichnet. Das ist natürlich nicht falsch, aber auch nicht mehr als eine Hilfsbeschreibung für ein bizarres Kinostück, das wie sein Titel alles zugleich sein möchte – und sich mächtig anstrengt, diese Vorgabe zu erfüllen. Also bestenfalls wie eine Wundertüte im Kinosaal zu explodieren und alle zu überraschen, die aber genau deshalb den Weg hierher gefunden haben. Unerwartet trifft es also niemanden, sondern erfüllt Everything Everywhere All at Once bestenfalls die hohe Erwartungshaltung.

Um die Erzählung kurz zu umreissen, genügt der Hinweis darauf, dass Evelyn – ausgerechnet vor Jamie Lee Curtis als Finanzbeamtin namens Deirdre Beaubeirdra sitzend – fortwährend in unterschiedliche Universen katapultiert wird. Sie sozusagen, oft nur für wenige Sekunden, mittels Hightech-Ohrstöpsel in anderen Welten und zu anderen Zeiten in Lebensrollen schlüpft, die ihre hätten sein können und auf deren Fähigkeiten sie nun zugreifen kann: als Schauspielstar, als Martial-Arts-Kämpferin, als Showköchin. Evelyn betritt ein kunterbuntes und völlig groteskes Multiversum, in dem sich eine Bösewichtin mit Weltzerstörungsplänen tummelt, Finger in Würstchen verwandeln und das mit popkulturellen Zitaten, von Matrix über 2001: A Space Odyssey und Star Wars bis Ratatouille, vollgestopft ist. «That doesn‘t make any sense», meint Evelyn einmal zu ihrem Ehemann, der sich ebenfalls durch Raum und Zeit schlägt. «Exactly», lautet dessen richtige Antwort. Aber genau davon möchte Everything Everywhere All at Once mit voller Lust an der Bilderstürmerei erzählen.

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Daniel Kwan und Daniel Scheinert, für Einfall, Drehbuch und Regie verantwortlich, treiben mit dieser knapp zweieinhalbstündigen Parforcetour auf die Spitze, was bereits in Swiss Army Man zu beobachten war. Zwar überzeugte ihre Komödie über einen Schiffbrüchigen und eine angeschwemmte Wasserleiche in erster Linie als Buddymovie mit Klamaukfaktor und homoerotischen Schieflagen, doch in der Tiefe erkannte man die ewige Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz.

Everything Everywhere All at Once bewegt sich lieber in rasendem Tempo über Oberflächen und erzählt nebenbei von einer modernen Märchenheldin, die als asiatischstämmige Amerikanerin aus ihrem Waschsalon aufbricht, um Welt und Familie zu retten. Eine Farce.

 

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