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Forget Baghdad

Der Titel von Samirs dieses Jahr in Locarno mit dem Preis der Jury der Kritikerwoche ausgezeichnetem neuem Film ist nicht als subversive Aufforderung an den derzeitigen amerikanischen Präsidenten gedacht, auch wenn er sich diesem als Quintessenz einer allfälligen Kenntnisnahme seines Inhalts wohl aufdrängen würde. Forget Baghdad ist vielmehr eine informative, persönliche und teils auch witzige Innenansicht des Nahostkonflikts über Jahrzehnte hinweg.

Text: Gerhart Waeger / 01. Nov. 2002

Der Titel von Samirs dieses Jahr in Locarno mit dem Preis der Jury der Kritikerwoche ausgezeichnetem neuem Film ist nicht als subversive Aufforderung an den derzeitigen amerikanischen Präsidenten gedacht, auch wenn er sich diesem als Quintessenz einer allfälligen Kenntnisnahme seines Inhalts wohl aufdrängen würde. Forget Baghdad ist vielmehr eine informative, persönliche und teils auch witzige Innenansicht des Nahostkonflikts über Jahrzehnte hinweg. Das Thema betrifft Samir, der selbst von muslimischen irakischen Einwanderern in der Schweiz abstammt, höchst persönlich – und durch den von ihm selbst gesprochenen Kommentar bringt er sich und sein eigenes Leben immer wieder in prägnanten Statements in den Film mit ein. Als engagierter Filmemacher und Kenner der Filmgeschichte interessiert er sich indes auch für die Verzerrungen, die das Bild von Juden und Arabern auf der Leinwand seit der Stummfilmzeit erfahren hat. Forget Baghdad wird damit nicht zuletzt auch zu einem amüsanten und informativen Spaziergang durch die Filmgeschichte. Samir selbst nennt seine Arbeit «eine filmische Reflexion über die Klischees «des Juden» und «des Arabers» in den letzten hundert Jahren Film, verbunden mit den Biografien von aussergewöhnlichen Menschen: irakisch-jüdischen Kommunisten».

Samirs Gewährsleute, vier ältere Männer und eine jüngere Frau, sind arabische Juden, «Mizrahim». Die Männer wurden im Irak geboren und sind später unter dem Druck der Verhältnisse nach Israel ausgewandert. Sie wurden in jungen Jahren durch die irakische kommunistische Partei geprägt und haben sich in der Zwischenzeit in den Staat Israel integriert. Die Frau, Ella Habiba Shohat, wuchs als Tochter irakischer Juden in einem Vorort von Tel Aviv auf. Sie arbeitet heute als Professorin für Soziologie und Filmwissenschaft an der City University of New York. Durch ihre jahrelange Beschäftigung mit der Situation der orientalischen Juden in Israel sowie ihre profunden Kenntnisse der Filmgeschichte wurde sie für Samir, dessen Film in die gleiche Richtung zielt, naturgemäss zu einer Kronzeugin. Ihre Eltern lernten der Kinder wegen Hebräisch, sprachen es aber mit einem arabischen Akzent. Ella erzählt, wie sie und ihre Geschwister in der Schule ausgegrenzt wurden, wenn sie arabische Wörter benutzten. So war es nur natürlich, dass sie sich Organisationen der orientalischen Juden anschloss, die sich gegen die Diskriminierung wehrten. Schliesslich verweigerte sie den in Israel auch für Frauen obligatorischen Militärdienst und musste deswegen zwei Jahre ins Gefängnis. Weitere Schwierigkeiten lud sie sich auf, als sie ihr Soziologiestudium mit einer Lizentiatsarbeit über die Diskriminierung der orientalischen Juden durch die europäisch geprägte Gründergeneration Israels, die «Sephardim», vorlegte. Zahlreiche Bücher und Artikel zum gleichen Thema schlossen sich an. Wegweisend wurde ihr vor rund zehn Jahren erschienener Essay «Mizrahim in Israel. Zionismus aus der Sicht seiner jüdischen Opfer».

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Anders als Ella Habiba Shohat wurden die vier Männer im Irak geboren. Ihre Jugend fiel in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, und die Gründung des Staates Israel haben sie 1948 bewusst miterlebt. Als Juden gehörten sie einer Minderheit an. Dies mag dazu beigetragen haben, dass sie sich von den Idealen des Kommunismus angezogen fühlten. Doch als Kommunisten wurden sie nicht nur diskriminiert, sondern verfolgt. In Israel fanden sie einen sicheren Zufluchtsort, der ihnen mit der Zeit zur zweiten Heimat wurde, mit der sie sich – jeder auf seine Weise – arrangierten, ohne ihre Herkunft zu vergessen. Der in Baghdad geborene Samir Naqqash ist heute einer der letzten arabisch-jüdischen Schriftsteller, der seine Bücher noch in arabischer Sprache schreibt. Dies hat zur Folge, dass seine oft von verletzter Menschenwürde handelnden Werke in den westlichen und arabischen Staaten bekannter sind als in Israel selbst. Weniger Skrupel, sich in die neue Heimat zu integrieren, hatte Sami Michael, der an der Universität Haifa Psychologie und arabische Literatur studierte und heute einer der bekanntesten Bestseller-Autoren in Israel ist. Als Führer eines Kioskes und später als Bauführer kam Moshe Churi zu einem gewissen Wohlstand. Der in einem christlichen Viertel Baghdads aufgewachsene Shimon Ballas lehrt heute arabische Literatur an den Universitäten von Tel Aviv und Haifa.

Die geschickt eingefügten Filmszenen (sie reichen von The Son of the Sheik mit dem Stummfilmstar Rudolph Valentino als edlem Beduinen bis zu Exodus mit Paul Newman als jüdischem Befreiungskämpfer in Palästina) bilden einen lockeren Kontrapunkt zu den politischen Aussagen. Und Samir präsentiert eine echte Trouvaille: In dem aus den Vierzigerjahren stammenden ägyptischen Film Fatma, Marika wa Rachel treten Araber, Muslime und Juden gemeinsam auf und spielen komödiantisch mit ihren kulturellen Identitäten. «So wird», sagt Samir, «exemplarisch die Verschmelzung der einzelnen Kulturen gezeigt. Und es entsteht eine Melange zwischen der technisierten Westkultur und einer eher emotionalen arabischen Lebensform. Mit dem Einbezug dieser Dokumente versuche ich zu zeigen, dass es einst Gemeinsamkeiten gegeben hat.»

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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