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Irène Schweizer

Irène Schweizer ist vor allem eine – durchaus facettenreiche – Annäherung an die Musikerin und ihren Werdegang, eine Hommage an eine Künstlerin, die dem Hier und Jetzt ebenso verbunden ist wie ihrer Leidenschaft, dem Jazz.

Text: Doris Senn / 01. Okt. 2005

Ihre ersten Auftritte wurden als kleine Sensation gefeiert. Bereits Ende der fünfziger Jahre nahm sie – noch nicht zwanzigjährig – erstmals am Zürcher «Amateur Jazz Festival» teil. «Fräulein Irène Schweizer», wie sie damals angekündigt wurde, war eine Ausnahmeerscheinung und sorgte für Schlagzeilen – nicht nur als Musikerin, sondern auch als Vertreterin eines Genres, das sich um Tradition und Massentauglichkeit foutierte: Jazz. Liebe auf den ersten Blick, nennt Irène Schweizer es. Und sie mutmasst, dass – hätte es keinen Jazz gegeben – sie nicht Musikerin geworden wäre.

Die Pianistin mit Schaffhauser Wurzeln gehört seit ihren Anfängen zur Avantgarde im deutschen Raum: seit den Sechzigern, in denen Schweizer sich dem Freejazz zuwandte und Kontakte zur Berliner Szene knüpfte, über die Begegnungen mit schwarzen Musikern aus den USA und Südafrika in den Siebzigern, ihr Zusammenspiel in wechselnden Besetzungen bis heute: mit dem Neuenburger Schlagzeuger Pierre Favre etwa, dem südafrikanischen Perkussionisten Louis Moholo, dem Holländer Drurnrner Han Bennink. Ihr Faible für die Perkussion ist dabei kein Zufall, nutzt sie doch selbst immer wieder ihr Instrument perkussiv: mitunter mit Ellbogeneinsatz auf der Tastatur oder einem Griff in die Saiten.

Gegen den Strich und die Konventionen bürstete Schweizer nicht nur das Musikverständnis vergangener Jahrzehnte – auch ihr Leben und ihre politischen Überzeugungen sind geprägt vom Aufbruch der Sechzigerjahre. Ihr Engagement verlief offen und parallel zu ihrer musikalischen Entwicklung: sei es, dass sie mit südafrikanischen Musikern gegen die Apartheid Stellung bezog. Sei es, dass sie sich in der Emanzipationsbewegung engagierte und in Frauenformationen spielte und spielt: in den Siebzigern mit der legendären Feminist Improvising Group mit Lindsay Cooper und Sally Potter – heute mit der Zürcher Saxofonistin Co Streiff oder als «Diaboliques» mit der britischen Sängerin Maggie Nicols und der französischen Bassistin [oelle Leandre. Irène Schweizer, deren Stil sich mit Instant Composing und freier Improvisation charakterisieren lässt, kann auf eine schillernde und international erfolgreiche Karriere zurückblicken. Und obwohl sie im vergangenen Jahr zum ersten Mal ihre gutschweizerische AHV erhielt – was sie doch etwas nachdenklich stimmte, wie sie anmerkt–, hat sie nichts von ihrer Virtuosität und Eigenwilligkeit eingebüsst.

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Gitta Gsell, die mit experimentellen Dokumentarfilmen (Umgezogen, 1994) und – klassischeren – Spielfilmen auf sich aufmerksam machte (Propellerblume, 1997), nutzt ein vielfältiges Bilderarsenal, um die Biografie und die Persönlichkeit Irene Schweizers zu zeichnen: anekdotische Archivbilder aus den Sechzigern für das Lebensgefühl zwischen Rock 'n' Roll und Globuskrawall, Aufnahmen von Demos und Protestaktionen für die Frauen- und Lesbenbewegung in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Sie kompensieren, dass für die biografischen Eckdaten nur eine Handvoll Fotos und kaum Filmaufnahmen von den frühen Auftritten der Künstlerin zur Verfügung stehen. Für das Heute tauchte Gsell in den Alltag der Musikerin ein, befragte Menschen, die ihr in Freundschaft und durch die Musik verbunden sind: Marianne Regard, Patrik Landolt von Intakt Records, Niklaus Troxler vom Jazzfestival Willisau, Louis Moholo.

Dieses reiche Kaleidoskop an Bildern und Stimmen ergänzt Gsell noch mit der Verwendung von Split Screen, die den Film allerdings kaum zusätzliche Dynamik gewinnen lässt – am wenigsten dann, wenn sie imposante Landschaftsbilder (von Schweizers Südafrikatournee) verkleinert und vervielfältigt. Spannender sind diejenigen Bildexperimente, in denen die Filmemacherin die Aufnahmen zu grafischen Figuren gerinnen lässt und sie zur Musik assoziiert: Baumsilhouetten, die scherenschnittartig vorüberflitzen, Bilder, in denen die fahle Landschaft zum abstrakten Gemälde wird, Konzertmitschnitte, in denen die weissen Klaviertasten sich aus dem Dunkel des Bühnenraums schälen. Gerne hätte man mehr von diesen visuellen «Improvisationen » gesehen, die auch der Musik etwas mehr Eigenraum und Eigenleben verschafft hätten. So ist Irène Schweizer vor allem eine – durchaus facettenreiche – Annäherung an die Musikerin und ihren Werdegang, eine Hommage an eine Künstlerin, die dem Hier und Jetzt ebenso verbunden ist wie ihrer Leidenschaft, dem Jazz.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2005 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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