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Habibi hat Glück: Er hat eine Freundin. Doch ihr Zusammenleben ist nicht immer einfach. Bild © Royal Film

Stille Einsamkeit: Rotzloch

Mit viel Ruhe porträtiert Maja Tschumi vier Geflüchtete auf der Suche nach Liebe.

Text: Oliver Camenzind / 05. Dez. 2022
  • Regie

    Maja Tschumi

  • Kamera

    Gabriel Lobos, Silvio Gerber

  • Musik

    Roman Lerch, Marcel Gschwend

  • Darsteller:innen

    Mahir Arslan, Aminullah Habibi, Amir Safai, Issac Yemane

Wer aus seinem Land flüchten muss, lässt alles zurück: seine Sprache, seine Heimat, seine Kultur. Und die Liebe. Am neuen Ort wird sodann von Integration die Rede sein. Eine neue Sprache muss gelernt werden, eine neue Heimat will erkundet sein. Es gilt, sich an eine neue Kultur zu gewöhnen. Aber die Liebe, sie bleibt meistens auf der Strecke. Wo findet man schliesslich jemand Besonderen, wenn man ohnehin kaum Kontakt zur lokalen Bevölkerung hat? Wenn man im Asylheim mit lauter anderen Geflüchteten lebt?

Diesen Fragen geht Maja Tschumi in ihrem Dokumentarfilm «Rotzloch» nach. Mit der Kamera begleitet sie vier junger Männer aus Afghanistan, aus der Türkei und Eritrea. Amir, Mahir, Issac und Habibi leben in Rotzloch, einem winzigen Weiler im Kanton Nidwalden, der eigentlich nur aus einer Zementfabrik besteht. Heute herrscht in der Fabrik weniger Betrieb, im alten Verwaltungsgebäude leben die Geflüchteten. Und warten darauf, dass die Schweizer Behörden über ihren Aufenthaltsstatus entscheiden.

Der Film beginnt bildgewaltig mit schneebedeckten Wipfeln, unterlegt mit finsteren Synthesizer-Klängen von Bit-Tuner. Tschumi kommentiert nicht, zeigt nur im gequetschten 4:3-Bildformat, wie die Männer da der Dinge harren, wie sie über ihre Vergangenheit nachdenken oder über ihre Zukunft. Eine Gegenwart haben sie indes nicht. Sie sind gefangen in der Schweiz. Weil sie keine Pässe mehr haben, weil ihnen in ihrem Heimatland Gefängnis und Folter drohen, müssen sie hierbleiben.

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Heisst wirklich so: Der Weiler Rotzloch im Kanton Nidwalden. Bild: © Royal Film

Es ist ein überraschender, ungekannter Blick, den Maja Tschumi hier auf die Asylproblematik wirft. Nicht das unmenschliche System steht hier im Vordergrund, und auch nicht die politischen Debatten der Schweizer:innen über den Umgang mit Geflüchteten. Zu Wort kommt die Staatsgewalt nur dann, wenn die Geflüchteten in Kontakt mit ihr treten, etwa als Issac einen Reisepass beantragen will und die absurde Antwort erhält, dass er sich dafür zuerst bei der eritreischen Regierung offiziell entschuldigen müsse.

Stattdessen sprechen die jungen Männer über Gefühle. Über ihre wenigen Berührungspunkte mit Frauen in diesem Land, über das ihnen fremde Verhältnis, das man im Westen zum anderen Geschlecht hat. Amir will anders als sein Vater sein, wünscht sich sehnlichst eine Freundin. Derweil trainiert er mit der Intensität eines Besessenen – oder eines Aussichtslosen. Issac versucht, die brüchige Verbindung zu seiner Freundin in Holland mit Anrufen, die meist ins Leere laufen, aufrechtzuerhalten. Mahir hat seit Jahren niemanden mehr berührt. Nur Habibi scheint im Glück. Seine Schweizer Freundin ist sein neuer Hafen, auch wenn sie als Katholikin für seine afghanische Mutter ein rotes Tuch ist.

Es herrscht eine melancholische Grundstimmung in Rotzloch, bisweilen macht sich die emotionale Leere der Protagonisten aber auch im Drehbuch breit. Dann wird es gar still. Und weil sich bald abzeichnet, dass die Träume der jungen Männer nicht in Erfüllung gehen, bleibt der Spannungsbogen in der Dokumentation manchmal eher flach.

Es bleibt eine Aussichtslosigkeit, die in diesem Anti-Heimatfilm immer wieder mit dem Blick auf die Berggipfel zusammenfällt. In ihrer entrückten Schönheit bleiben sie so unerreichbar wie das Liebesglück in der Fremde.

Rotzloch feierte am Human Rights Film Festival (HRFF) im Zürcher Kosmos am 1. Dezember Premiere. Eine zweite Vorführung im Rahmen des Festivals musste aufgrund des Konkurses der Kosmos Kultur AG abgesagt werden. Filmbulletin ist Medienpartner des HRFF.

 

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