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It Was Just an Accident
© Frenetic Films AG

This is a film: It Was Just an Accident

Der iranische Filmemacher Jafar Panahi schlägt mit seinem preisgekrönten Film ein aufregendes neues Kapitel in seiner unvergleichlichen Karriere auf.

Text: Alan Mattli / 29. Okt. 2025
  • Regie, Buch

    Jafar Panahi

  • Kamera

    Amin Jafari

  • Schnitt

    Amir Etmian

  • Mit

    Vahid Mobasseri, Mariam Afshari, Mohamad Ali Elyasmehr, Hadis Pakbaten, Majid Panahi, Ebrahim Azizi

  • Start

    30. Oktober 2025

In Taxi (2015), dem dritten im Geheimen realisierten Film von Jafar Panahi, unterhält sich der iranische Regisseur mit der Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh. Bald schon kommen sie auf ihre individuellen Erfahrungen als politische Gefangene zu sprechen, insbesondere auf die seltsamen psychologischen Konsequenzen, mit verbundenen Augen verhört worden zu sein: Mit der Zeit lerne man, Wärter nicht nur an der Stimme, sondern sogar an den Bewegungsgeräuschen zu erkennen. Ob man ihn wohl auf offener Strasse auch wiedererkennen würde?

Zehn Jahre, ein weiterer Gefängnisaufenthalt und eine Aufhebung des ihm 2010 auferlegten Reise- und Arbeitsverbots später hat Panahi diese Idee zu einer packenden Mischung aus Thriller, Psychodrama und Tragikomödie verarbeitet. Der Twist: Der in Cannes mit dem Hauptpreis ausgezeichnete It Was Just an Accident macht sein Publikum zuerst mit dem (mutmasslichen) Regimeschergen vertraut, bevor er ihn als solchen identifiziert.

It Was Just an Accident 2

© Frenetic Films AG

Zu Beginn ist dieser, gespielt von Ebrahim Azizi, einfach nur ein ganz normaler Mann, der eines Nachts mit seiner schwangeren Ehefrau (Afssaneh Najmabadi) und seiner herumalbernden Tochter (Delmaz Najafi) mit dem Auto unterwegs ist. Als er auf der schlecht beleuchteten Landstrasse versehentlich einen Hund überfährt, nimmt das Schicksal seinen Lauf: Als die Familie bei der Werkstatt Halt macht, in der Vahid (Vahid Mobasseri) arbeitet, glaubt dieser, die quietschende Beinprothese seines Kunden als jene des Geheimdienstlers Eghbal («Holzbein») wiederzuerkennen, der ihn einst im Gefängnis folterte.

Aus dieser brisanten Konstellation leitet Panahi ein absurd-eindringliches Teheran-Roadmovie ab, das zwar nicht vollständig mit der Vérité-Ästhetik und den dokumentarischen Erzählrhythmen von Untergrundfilmen wie This Is Not a Film (2011) 3 Faces (2018) und No Bears (2023) bricht, sich aber in mehrerlei Hinsicht wie eine Rückbesinnung auf sein Frühwerk anfühlt. Nicht nur steht Panahi zum ersten Mal seit Offside (2006) nicht mehr selber vor der Kamera; It Was Just an Accident wirkt mit seiner grösser angelegten, nachdrücklich fiktiven Handlung und mit Kameramann Amin Jafaris langen, ruhigen, die Guerrilla-Produktion verbergenden Einstellungen wie ein kreatives Durchatmen, ein Wiederaufnehmen der künstlerischen Ausdrucksformen, denen Panahi während der letzten 15 Jahre nur bedingt frönen konnte.

It Was Just an Accident 1

© Frenetic Films AG

Wie die Protagonist:innen von The White Balloon (1995), The Circle (2000) und Crimson Gold (2003) wird auch Vahid nach seiner vermeintlichen Entdeckung auf eine Odyssee aus Besorgungen und Botengängen geschickt, in deren Verlauf er mit diversen Archetypen der modernen iranischen Gesellschaft konfrontiert wird. Mit dem Ziel, die nagenden Zweifel an der wahren Identität des ominösen Einbeinigen, den er in seinem Kleinlaster eingesperrt hat, auszuräumen, aktiviert der naive Mechaniker sein Netzwerk aus unflätigen Gesinnungsgenoss:innen und Ex-Sträflingen. Und schon bald führen er, die Fotografin Shiva (Mariam Afshari), der aufbrausende Arbeiter Hamid (Mohamad Ali Elyasmehr) und das Brautpaar Goli (Hadis Pakbaten) und Ali (Majid Panahi) hitzige Diskussionen darüber, was mit dem Gefangenen geschehen soll, und was sie überhaupt davon hätten, blutige Rache an Eghbal zu nehmen.

Panahi selbst beschreibt das Dilemma seiner liebenswert exzentrischen, tragisch gebrochenen Figuren als jenes, das der iranischen Gesellschaft blüht, sobald das theokratische System in sich zusammenbricht. Seine Kombination aus exemplarisch überhöhten Persönlichkeiten, gewollt deklamatorischen Dialogen, heimlich gefilmten Szenen aus dem realen Teheraner Alltag und einem moralisch vertrackten Doppelgänger-Plot, der sich wie eine raffinierte Umkehr von Abbas Kiarostamis Meisterwerk Close-Up (1990) liest, verhindert dabei, dass It Was Just an Accident je ins Didaktische kippt. Vielmehr ist es der aufregende nächste Schritt in einer künstlerischen Laufbahn, die in der Dokufiktion begann, ins Autobiografische wechseln musste, als der iranische Staat an die Tür klopfte, und diese neue Perspektive nun auf faszinierende Weise wieder ins Fiktive übersetzt. Wir können uns glücklich schätzen, dass es Jafar Panahi gibt.

 

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In Taxi, der auf der diesjährigen Berlinale mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde, setzt sich der Regisseur Jafar Panahi selbst ans Steuer eines Taxis und begibt sich dabei auf eine Fahrt, die ihn nicht nur durch diverse Stadtteile Teherans führt, sondern auch in Kontakt mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bringt – und die ausserdem den Film strukturiert, als einen Durchgang durch mehrere, mehrheitlich relativ strikt voneinander geschiedene Episoden, wenn nicht sogar Genres.