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Jusqu’à la garde

Vater, Mutter, Tochter, Sohn und die Dynamiken einer Scheidung. Wie geht es weiter? Wer ist schuld? Wem soll man glauben?

Text: Julia Zutavern / 03. Sep. 2018

Wer lügt mehr? So fragt sich die Richterin während der Anhörung zu Beginn des Films. Vor ihr sitzen Miriam und Antoine, die um Obhut und Besuchsrecht ihres Sohns kämpfen. Julien ist elf und hat zu Protokoll gegeben, seinen Vater nicht sehen, geschweige denn bei ihm wohnen zu wollen. Sein Vater sei kein Vater, er sei froh, dass seine Eltern sich scheiden liessen. Und auch die Tochter Joséphine, die, da beinahe volljährig, selbst über den Kontakt entscheiden kann, will nichts mehr von Antoine wissen. Die Anwältin der Mutter berichtet von Drohungen, Belästigungen, Misshandlungen; die Anwältin des Vaters weist alle Anschuldigungen zurück. Die Beweislage sei schwach, «Grauzonen» gebe es auf beiden Seiten. Die Mutter habe die Kinder auf ihre Seite gezogen, ja unter Druck gesetzt, um ihrem Mann zu schaden. Wer lügt mehr?

Die Frage bleibt hängen. Vor dem Verhandlungssaal warten die Eltern des Vaters, drücken Miriam einen Sack Kleider für die Enkel in die Hand. Warum dürfen auch sie die Kinder nicht sehen? Kurz darauf steht die Tochter auf einem Bahnsteig, eng umschlungen mit ihrem Freund, bis ihr Handy klingelt. Warum Joséphine nicht im Unterricht war, ob ihr Freund bei ihr sei, was ihr denn einfalle, will die Mutter wissen. Kontrollanrufe bei der Tochter, Besuchsverbote der Schwiegereltern. War es Miriam, die mehr gelogen hat?

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Das Gericht entscheidet zugunsten Antoines. Nach dem Urteil (so auch der deutsche Titel des Films) soll Julien jedes zweite Wochenende mit seinem Vater verbringen und auch jede zweite Woche bei ihm wohnen, sobald Antoine eine Wohnung in der Nähe gefunden hat. Was das für den Jungen bedeutet, wird gleich beim ersten Treffen klar. Er wird zum Spielball des Kontrollwahns seines Vaters, der um jeden Preis versucht, den Kontakt zu Frau und Tochter wiederherzustellen: Julien hat Bauchschmerzen und will nicht aus dem Haus; sein Vater droht mit einer Klage. Julien möchte die kommenden Wochenenden tauschen, um die Geburtstagsparty seiner Schwester nicht zu verpassen; sein Vater verlangt, dass Miriam ihn unter vier Augen darum bittet.

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Das Gericht hat also falsch entschieden, das Unglück nimmt seinen Lauf. Lange, unaufgeregte Einstellungen breiten es vor uns aus. Wir sehen, was sich den juristischen Akten und Protokollen verschliesst: das Drama hinter den Aussagen, die selbstsüchtige, zerstörerische Liebe, mit der ein Mann seine Familie quält – kurz: den schwarzen Bereich jenseits der «Grauzonen».

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Für sein Spielfilmdebüt hat Xavier Legrand verschiedene Preise gewonnen, unter anderem den Silbernen Löwen in Venedig für die beste Regie. Vielleicht zu Recht. Der Film ist nah an seinen Protagonist_innen dran, wahrt zugleich aber auch Distanz – zum Beispiel erfahren wir nie mehr über eine Figur, als sie selbst über sich weiss –, so, als wollte der Regisseur den Grenzüberschreitungen des Vaters entgegenwirken. Ausserdem bietet er seinen Schauspieler_innen einen ausdrucksstarken Rahmen. Antoine und Julien begegnen sich immer wieder im Auto – festgeschnallt, auch im übertragenen Sinn, auf Fahrer- und Beifahrersitz – oder in Antoines Elternhaus, in dem der Vater, nun selbst wieder Sohn, den Launen seines eigenen Vaters ausgesetzt ist. Denis Ménochet als Antoine und Thomas Gioria als sein Sohn Julien wissen diesen Rahmen für ihre Rollen zu nutzen: Gioria spielt ihn nicht, er ist Julien – anders ist die emotionale Präsenz des Jungen kaum zu erklären. Und Ménochet verleiht dem grobschlächtigen Vater eine verletzliche, beinahe kindliche Seite, dank der man sich, zumindest stellenweise, auch in ihn einfühlen kann.

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Die Frage der Richterin ist falsch gestellt. Entscheidend ist nicht, wer mehr lügt, sondern wer lügt, ohne es sich einzugestehen. Doch was heisst das für die juristische Praxis? Hätte das Fehlurteil verhindert werden können? Ja, scheint der Film zu sagen, die Richterin hätte bloss den Aussagen der Kinder zu glauben brauchen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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