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On Becoming A Guinea Fowl 06
© Bild: Trigon

On Becoming a Guinea Fowl – Unterdrücktes Erbe

Was, wenn Erinnerungen so schmerzhaft sind, weil sie im Schweigen der anderen nie heilen dürfen?

Text: Jesper Rusterholz / 13. Feb. 2025
  • Regie, Buch

    Rungano Nyoni

  • Kamera

    David Gallego

  • Musik

    Lucrecia Dalt

  • Mit

    Susan Chardy, Elizabeth Chisela, Henry B.J. Phiri, Blessings Bhamjee, Maggie Mulubwa

Wenn Shula (Susan Chardy) im schwarzen Puffa-Bodysuit auf dem Heimweg von einer Kostümparty die Leiche ihres Onkel Freds entdeckt, bleibt ihre Reaktion unbefangen, ihr Gesichtsausdruck starr. Nach einem abgebrühten Telefonat mit ihrem dauerfeiernden, inkompetenten Vater taucht auch noch ihre twerkende, stockbesoffene Cousine Nsansa (Elizabeth Chisela) mit Boom-Boxen auf. Alles wirkt zunächst harmlos, fast komödiantisch. Doch Shulas (scheinbar) affektloses Verhalten macht unmissverständlich klar: Diese Familie ist ein dysfunktionales Geflecht, das eigentlich nur darauf wartet, zu eskalieren.

Die sambisch-walisische Regisseurin Rungano Nyoni inszeniert in ihrem zweiten Langfilm On Becoming a Guinea Fowl zu Beginn ein humorvolles Kammerspiel im engen Raum eines Fahrzeugs. Und fängt schliesslich das düstere Ökosystem der Familie ein. Sobald Shuna gedrängt wird, bei der Beerdigung zu helfen, weil es ihre Pflicht sei, wird viel mehr als nur Trauer ausgelöst. Mit ihrem investigativen Blick dringt sie immer tiefer vor, bis verborgene Geheimnisse und schreckliche Wahrheiten an die Oberfläche gespült sind. Dabei stosst sie auf die vererbte Resistenz gegenüber unangenehmen Wahrheiten einer ganzen Familie.

On Becoming A Guinea Fowl 01

Verästelt und orchestriert wie Rhizome erzählt Nyonis filmischer Dialekt die unter- und oberirdische Familiengeschichte. Jede Sequenz sitzt, jede Einstellung ist präzise durchgedacht. Nicht ohne Grund hat On Becoming a Guinea Fowl 2024 in Cannes und am ZFF unter anderem Preise gewonnen. Schon allein für die Tonspur verdient der Film höchstes Lob. Der Einsatz von Stille ist poetisch, reflektiv und hoch emotional. Komponistin Lucrecia Dalt setzt punktuell, als Tonblende, auf einen ominösen Bass und nervöse Percussion, um den Guinea Fowl – einen in Subsahara-Afrika heimischen Vogel, der bei drohender Gefahr laut aufschreit – metaphorisch zu doppeln.

Die Ästhetik des Films wird so zur Mitermittlerin Shulas. Wenn Jump Cuts Figuren gespenstisch im Raum erscheinen lassen oder synthetische Videoaufnahmen spontan die Erzähllogik durchbrechen, trickst der Film mit Mitteln des magischen Realismus und den Erwartungen der Zuschauenden. Auch die Kamera folgt der Widersprüchlichkeit des hier porträtierten, familiären Ökosystems: nah und ungreifbar, schützend und zerstörend zeigt sie ihre Motive. Verzögerte Reaktionen, subjektivierende Hinterkopf-Aufnahmen verweigern uns strategisch den Zugang zu Shulas mysteriöser Innenwelt. Doch gerade dieses Zurückhalten von Wissen und Emotionen erzeugt eine beklemmende Spannung, bis uns Shula schliesslich selbst enthüllt, wie verstörend ihre Beziehung zu ihrem Onkel war – und bis sich unsere lang gehegte Befürchtung als bittere Wahrheit entpuppt.

Auch die schreckliche Enthüllung findet dann nicht nur in Worten statt: Der Film trägt sie auf der visuellen Ebene nochmals weiter, ohne, dass der Dialog jegliche furchtbaren Ereignisse explizit wiederholen muss. Erst wenn es doch wieder zum verbalen Austausch kommt, wie zwischen Mutter und Tochter, dann holt uns die harsche Realität wieder ein: «What did I tell you about what happend that day?» Shunas Konfrontation mit der Familie und ihren Mikromanipulationen gerät wieder und wieder an Grenzen. Das sich selbst erhaltende System erschüttert, weil die Antagonist:innen in den eigenen Reihen zu finden sind.

On Becoming a Guinea Fowl ist ein Film von feinster Beobachtung, charmant und unerschrocken zugleich. Eine aktuelle Perle jedes Kinoprogramms: herausfordernd, verstörend, fesselnd und unvergesslich. The Burial of Kojo (Blitz Bazawule, 2018) meets Atlantique (Mati Diop, 2019) meets Midsommar (Ari Aster, 2019) – Nyonis Film zeigt, dass widerständige Erinnerungen die Verleugnung überdauern. Und wie dermassen vertrackt und verhärtet gesponnene Gefüge eines sozialen Systemkomplexes sein können. Ja, über Tote schlecht zu sprechen gilt als beschämend, Kritik an den Lebenden als riskant. Ein realitätsnaher Catch-22 für jene, die von Mächtigeren Unrecht erfahren haben.

 

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