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Paradies hoffnung 01

Paradies: Hoffnung – Erniedrigung im Diätcamp

Die Tochter der Mutter aus Paradies: Liebe muss ins Diätcamp. Der zweite Teil der Trilogie ist ein Coming-of-age mit erstaunlich viel Humor.

Text: Stefan Volk / 24. Apr. 2013

Ihre Tante Anna Maria segnet sie zum Abschied noch einmal kurz. Von da an ist Melanie auf sich allein gestellt. Dreizehn Jahre alt ist das Mädchen, und während die Mutter in Kenia auch telefonisch unerreichbar bleibt, soll «Melli» in einem Diätcamp ihr Übergewicht in den Griff bekommen. Solche Bootcamps für Beleibte sind in Zeiten von The Biggest Loser und ähnlichen Fernsehshows längst keine Sensation mehr. Ulrich Seidl nutzt das Abnehmlager denn auch vor allem als symbolische Kulisse für seine Coming-of-Age-Geschichte über die Suche nach der eigenen Identität und dem sprichwörtlichen Paradies.

Seidl skizziert die Rituale und den militärischen Drill im Camp mit einer tüchtigen Portion Humor. Ein sadistischer Sporttrainer quält die Mädchen und Jungs in der Turnhalle und schwingt die imaginäre Peitsche. Wie Zirkustiere werden die Kinder hier dressiert, um einem fragwürdigen Schönheitsideal zu genügen. Wenn sie nachts heimlich Schokoriegel aus der Grossküche klauen, müssen sie zu Zusatzübungen im Flur antreten. Tagsüber klatschen sie unter der Anleitung einer athletischen Trainerin in enger Jogginghose ihre Problemzonen ab: «If you’re happy and you know it, clap your fat!» Bei Seidl wirkt das beinah lustig. Erschreckend bleiben diese parodistischen Szenen, weil man ahnt, dass sie gar nicht so weit an der Wirklichkeit vorbei inszeniert sind.

Paradies hoffnung 02

Vor diesem bitterkomischen Hintergrund erzählt Paradies: Hoffnung von einer Schwärmerei, bei der man auch nie so recht weiss, ob man nun weinen oder lachen soll. Melanie verguckt sich in den Diätarzt, einen Mann Mitte fünfzig mit Jeans und Sakko, dem das volle graue Haar verwegen in die Stirn fällt. Sie erfindet stets einen neuen Vorwand, um sich von ihm untersuchen zu lassen. Immer offener flirtet sie mit ihm, immer ungenierter geht der Doktor darauf ein. Er erwidert ihre Blicke, lässt sich spielerisch von ihr untersuchen. Und bei einem Badeausflug folgt er ihr tief in den Wald hinein. Anders als man bei Seidl hätte erwarten können, schlägt die ungute Romanze aber nicht in ungehemmte Gewalt um.

Im Drehbuch, verrät Seidl im Presseheft, habe Melanie noch «Lolita» geheissen. Und vielleicht mag sie aus der Sicht des Mannes eine sein. Anders aber als Nabokov interessiert sich Seidl nicht für dessen Perspektive. Wenn er den Doktor wie einen Hund an dem schlafenden Mädchen schnuppern lässt, offenbart er zwar den Abgrund zwischen dem Mann, den Melanie sich erträumt, und dem, der er ist. Was in ihm vorgeht, lässt sich jedoch allenfalls vermuten. Im Leben von Melanie wird der väterlich-verführerische Doktor nur eine Episode sein. Und letztlich bleibt er das auch in Seidls Film. Seine stärksten Momente hat Paradies: Hoffnung ohne ihn. Wenn Melli sich mit ihrer neuen Freundin Verena über die Liebe, Jungs und Sex unterhält, kommt das mitten aus dem Leben. Es wirkt, als hätten die jungen Laiendarstellerinnen die Kameras völlig vergessen. Die artifiziellen, statisch und symmetrisch arrangierten Tableaus, in denen Seidl ihre Unterhaltungen auf die Leinwand bringt, bilden einen reizvollen Kontrast zu ihren improvisierten Dialogen.

Nicht nur visuell hebt sich Paradies: Hoffnung von anderen Filmen ab, die im dokumentarischen Handkamerastil ungeschönte Einblicke in das Teenagerleben versprechen. Zwar wird auch bei Seidl heimlich getrunken, gefeiert und geknutscht. Im Vergleich zu Thirteen oder Kids bleibt letztlich aber alles harmlos. Um ein Haar zwar hätte es für Melli so geendet wie für Larry Clarks «Jenny» oder Nabokovs «Lolita». Aber eben nur um ein Haar. Ein wenig Hoffnung auf ein Stück vom Paradies bleibt am Ende der Trilogie. Die Sehnsucht danach sowieso.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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