Auf den Orkney-Inseln – einem zu Schottland gehörenden Archipel – heisst es einer alten Legende nach, dass sich die Ertrunkenen in Seehunde verwandeln. Nachts werden sie wieder zu Menschen und tanzen entlang der Küste nackt im Mondschein. Bei Sonnenaufgang zieht es sie ins Wasser zurück. Es kann aber auch sein, dass sie in ihren menschlichen Körpern gefangen bleiben. Doch an Land können sie niemals glücklich werden, denn sie gehören ins Meer.
Die 29-jährige Rona (Saoirse Ronan), die diese Geschichte erzählt, ist inmitten dieser unberührten Natur aufgewachsen, lebte aber lange in London. Nun ist sie wieder in ihrer wildschönen, alten Heimat und engagiert sich als Vogelschützerin. Zwischen schroffen Felsklippen und rauen Winden möchte sie wieder gesund werden. Rona ist Alkoholikerin. Die Abhängigkeit hat die Biologin ihren Job gekostet und auch die Liebe zu ihrem Freund Daynin (Paapa Essiedu).
Zuvor trieb sie ihre exzessiv gelebte Sucht täglich in die Bars der Metropole. Unzählige durchzechte Nächte ohne Bewusstsein. Irgendwann sitzt Rona mit einem geschwollenen Gesicht und einem blutunterlaufenen Auge bei einer Therapeutin. Diese schickt sie in einen Entzug und sie selbst sich danach auf die Inseln, um trocken zu bleiben.
Was genau in der Nacht nach dem Rausschmiss aus einer Bar geschehen ist, erfährt das Publikum erst später in einer von vielen Rückblenden. Die meisten davon erzählen von der Beziehung mit Daynin. Von der anfänglichen Unbeschwertheit, die sich schnell in Hilflosigkeit verwandelt, als Rona an rauschenden Partys und im Alltag immer mehr die Kontrolle verliert.

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Einige davon blicken auch in Ronas Kindheit, gehen zurück in ein Elternhaus, das ebenfalls von einer Krankheit geprägt war – derjenigen des bipolaren Vaters. Während die Mutter ihr Seelenheil in Gott suchte, um die wechselhaften Ausbrüche ihres Mannes zu verarbeiten, konnte das Mädchen die Gefühle des Vaters zwischen Aufmerksamkeit und Ablehnung schwer einordnen.
Die deutsche Regisseurin Nora Fingscheidt verzichtet klugerweise darauf, den alleinigen Ursprung von Ronas Alkoholismus in deren Kindheit zu suchen. Vielmehr skizziert sie in der Adaption des Romans von Co-Drehbuchautorin Amy Liptrot einen schleichenden Absturz, der unzählige Gründe kennt. Zwar mögen die Sprünge in Ronas Vergangenheit zeitlich wahllos erscheinen. Doch damit macht Fingscheidt die Orientierungslosigkeit ihrer Figur auch auf der visuellen Ebene erfahrbar.
The Outrun ist gleichzeitig Traum und Albtraum. Unter die kompromisslose Authentizität mischen sich historische Schwarzweissbilder und animierte Sequenzen. Alles ist jedoch von derselben Sehnsucht getragen, die sich in Ronas Gesicht widerspiegelt. Saoirse Ronan stellt sie mit der Kraft einer entfesselten Naturgewalt dar. Fingscheidt lässt sie – wie schon in ihrem Debüt-Spielfilm Systemsprenger Helena Zengel – förmlich explodieren, übervoll an Energie, Emotionen und Facetten.
Als Rona sagt, dass sie ohne den Alkohol niemals glücklich sein wird, ist das ein erschütternder Moment. Sie ist ein Seehund, der ins Meer gehört. Man wünscht ihr, dass sie die Freiheit, die sie im Alkohol zu finden glaubt, letztlich in sich selbst findet.