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Tour d’horizon

Es ist noch nicht lange her, da brauste ein kleiner Sturm durch die Westschweizer Filmszene. Eine nicht ganz ernst gemeinte Initiative namens Doegmeli wurde im Jahr 2000 ins Leben gerufen – «um die Zukunft des jungen Schweizer Filmschaffens zu verbessern», wie proklamiert wurde. Inzwischen ist es ruhig geworden um das ehemalige Forum.

Text: Doris Senn / 01. Jan. 2007

Es ist noch nicht lange her, da brauste ein kleiner Sturm durch die Westschweizer Filmszene. Eine nicht ganz ernst gemeinte Initiative namens Doegmeli wurde im Jahr 2000 ins Leben gerufen – «um die Zukunft des jungen Schweizer Filmschaffens zu verbessern», wie proklamiert wurde. Eine junge Garde Filmemacher und Filmemacherinnen aus der Romandie protestierte damit gegen die eidgenössischen Subventionsstrukturen, die insbesondere dem Nachwuchs den Zugang zu den Geldtöpfen verwehrten: Ohne eine bestimmte Anzahl Langfilme durfte man sich dafür nämlich gar nicht erst bewerben. Kam noch dazu, dass 2000 der Kredit bereits zu Beginn des Jahres ausgeschöpft war. In der Folge lancierte eine kleine Gruppe, die schliesslich bis auf dreiundachtzig Unterzeichnende anwuchs, ein ironisches Manifest – «Doegmeli», in Anlehnung an Lars von Triers «Dogma» – und machte Filme auf Teufel komm raus: ohne Geld, mit bescheidenen Ansprüchen, dafür mit umso mehr kreativem Tatendrang. Im Jahr 2002 wurden an den Solothurner Filmtagen nicht weniger als vierzehn lange Doegmeli-Filme eingereicht, von denen allerdings nur gerade drei ins Programm aufgenommen wurden.

Inzwischen ist es ruhig geworden um das ehemalige Forum. Die Doegmeli-Website existiert nicht mehr, die damals geknüpften Kontakte werden aber zumindest teilweise noch gepflegt, wie der aus Genf stammende sechsunddreissigjährige Frédéric Landenberg, Mitbegründer von Doegmeli und seines Zeichens Schauspieler, versichert. Er selbst hat soeben einen neuen achtzigminütigen Spielfilm fertiggestellt, das Familiendrama De ce monde. Mit dem Vorverkauf an die Télévision Suisse Romande sowie dem Geld aus dem Fernsehverkauf seines damaligen Doegmeli-Films 20 balles de l’heure hat er De ce monde finanziert. 20 balles de l’heure ist einer der drei Filme, die es 2002 in die Solothurner Auswahl schafften, und erzählt eine etwas abstruse Geschichte um ein Kindermädchen, das aus Versehen das anvertraute Baby aus dem Fenster fallen lässt und einen Film lang um «Ersatz» bemüht ist. Die experimentelle Umsetzung der Story – der Film wurde in einer einzigen, dreiundsiebzig Minuten langen Plansequenz gedreht! – findet ihre Fortsetzung in Landenbergs neustem Werk De ce monde. Darin spielen zwölf Darsteller vier Figuren in drei Versionen derselben Sequenz. Der Post-Doegmeli-Film entpuppt sich allerdings als etwas strapaziöses Filmvergnügen und wurde von den Solothurner Filmtagen abgelehnt.

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(Bild: Absolut)

Frédéric Landenberg, der nach wie vor als Schauspieler tätig ist, steht in Kontakt zu Vincent Pluss, ebenfalls einem Doegmeli-Begründer. Insbesondere spielte er in dessen On dirait le sud (2002) mit. Der Film war im Gefolge und getragen vom Enthusiasmus der damaligen Doegmeli-Bewegung entstanden, auch wenn er deren formale Ansprüche weit überflügelte. On dirait le sud ist ein schmissiges Familiendrama, in dem ein Vater und Ex-Mann mit schlitzohrigem Charme seine kleine Familie zurückzuerobern sucht. An Doegmeli erinnerten allerdings nur noch die schnelle Drehzeit – ein Wochenende –, der Kameramodus à la Dogma (Handkamera, Verzicht auf künstliches Licht) und die Improvisation der Schauspieler. Vorbereitungszeit und Postproduktion waren langwierig und intensiv, zahlten sich für den heute siebenunddreissigjährigen Genfer Filmemacher, der in New York Regie studiert hatte, aber aus: Sein mitreissendes Beziehungsdrama erhielt 2003 den Schweizer Filmpreis als bester Spielfilm. Pluss, der bereits 2001 mit seinem Kurzfilm tout est bien für den Filmpreis nominiert war, ist damit auch einer der wenigen aus der Gruppe, die sich durchzusetzen vermochten. Zurzeit arbeitet er an der Postproduktion seines neuen Langspielfilms Du bruit dans la tête.

Nicht zu Doegmeli – das er etwas boshaft als «Akne» im Sinn von naiv-jugendlichem Ungestüm bezeichnet – zählt Jean-Stéphane Bron. Und doch gehört der siebenunddreissigjährige Filmemacher zur selben Aufbruchsgeneration, die in den vergangenen Jahren durch kontinuierliches Schaffen und Achtungserfolge auf sich aufmerksam gemacht hat. Bron, der seine Regieausbildung in Rom und Lausanne absolvierte, machte vorerst als Dokumentarfilmer von sich reden: einerseits mit Connu de nos services (1997) über die schweizerische Fichenpolizei im Gefolge der Achtundsechziger sowie La bonne conduite (1999) über die multikulturellen Implikationen zwischen waadtländischen Fahrlehrern und -schülern. Bereits in diesen Werken verstand es Bron, seine Themen mit feinem Humor zu transportieren.

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(Bild: Des épaules solides)

Seinen «Durchbruch» erlebte er allerdings mit Mais im Bundeshuus (Le génie hélvetique, 2003) – einem zweisprachigen Doku-Thriller über den guteidgenössischen Parlamentsalltag. Insgesamt drei Jahre nahm die Fertigstellung des Films in Anspruch. Mais im Bundeshuus hielt das Treiben in den Wandelhallen des Bundeshauses rund um die Gentech-Mais-Diskussion fest und stilisierte das Taktieren und Paktieren zum veritablen Politkrimi hoch. Mit seinem Film, der 2004 zum besten Schweizer Dokumentarfilm gekürt wurde, sorgte Bron gleich für zwei Überraschungen: einerseits mit einem beachtlichen Erfolg an der Kinokasse (120 000 Kinoeintritte, und das für einen Dokumentarfilm!), andererseits durch die Tatsache, dass nicht weniger als ein Drittel der Tickets in der Westschweiz gelöst wurden. Was deshalb aussergewöhnlich ist, weil das welsche Publikum bekanntlich nur schwer für das einheimische Filmschaffen begeistert werden kann. Dies sorgt nicht zuletzt auch für ein Umdenken bei der jüngeren Generation, die ihre Filme vermehrt mit Koproduktionen einem Publikum über die Landesgrenze hinaus zu erschliessen sucht – so auch Jean-Stéphane Bron.

Obwohl Mais im Bundeshuus mit einem Budget von etwas mehr als einer halben Million Franken seine Kosten gerade knapp wieder einspielte, ebnete der Film Bron den Weg nach Frankreich: Der «kleine» Schweizer Dokumentarfilm zirkulierte dort an Festivals und in Studiokinos und löste ein phänomenales Presseecho aus. Davon profitierte sein Nachfolgefilm, Mon frère se marie, mit dem Bron gleich zweifach Neuland beschreitet: zum einen, indem er sich erstmals an einen Spielfilm wagt, zum andern, weil der Film als schweizerisch-französische Co-Produktion entstand und ein französischer Verleiher den Film mit vierzig Kopien in Frankreich herausbringen wird. Mon frère se marie handelt von einer Westschweizer Familie, die sich längst auseinandergelebt hat, und ihrem vietnamesischen Adoptivsohn Vinh. Aus Anlass von Vinhs Hochzeit versucht die Familie (vergeblich!), ein Idyll von Harmonie und Zusammengehörigkeit zurechtzuzimmern. Entstanden ist ein schauspielintensives Drama, für das Bron einerseits Schweizer Urgestein wie Jean-Luc Bideau (der dafür bei den Schweizer Filmpreisen 2007 als bester Hauptdarsteller nominiert ist) und die französische Starschauspielerin Aurore Clément verpflichtete – andererseits aber auch Laiendarsteller wie Quoc Dung Nguyen in der Rolle des Bräutigams. Experimentell bleibt Bron auch auf einer formalen Ebene: nicht nur, indem er Sequenzen des Films wie ein Videotagebuch erscheinen lässt – was sich wie eine Reminiszenz an seine Dokumentarfilmvergangenheit liest –, sondern auch im bewussten Genremix zwischen Komödie und Drama. Mon frère se marie ist für den Schweizer Filmpreis 2007 nominiert.

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(Bild: Mais im Bundeshuus)

Die Frage, ob er sich mit dem Schritt ins Spielfilmschaffen ein grösseres Publikum habe erschliessen wollen, verneint Bron – obwohl er den (West-)Schweizer Markt als zu klein empfindet. Der Forderung des Chefs der Sektion Film im Bundesamt für Kultur, Nicolas Bideau, nach mehr «Qualität und Popularität» des Schweizer Films steht Bron gelassen gegenüber. Er sieht den umstrittenen Slogan vor allem als Mittel, um den Schweizer Film ins Gespräch zu bringen und Imagewerbung zu betreiben. Seiner Meinung nach fungieren so grosse, publikumsträchtige Filme wie Ernstfall in Havanna (Susanne Boos, 2002), Achtung, fertig, Charlie (Mike Eschmann, 2003) oder die Herbstzeitlosen (Bettina Oberli, 2006) – die in erster Linie auf den (Deutsch-)Schweizer Markt abzielen – als die von Bideau erwünschten «Lokomotiven», die letztlich auch dem kleinen Autorenfilm zugute kommen, der weniger bei den Eintritten punktet als bei der Anerkennung auf in- und ausländischen Festivals. Wenn dann Filme wie Das Fräulein (2006) der Zürcher Regisseurin Andrea Staka, die dafür 2006 den Goldenen Leoparden in Locarno erhielt, auch an der Kinokasse funktionieren, und das sogar in der Westschweiz, glaubt Bron, dass dies wiederum auch «lokalen» Autorenfilmern wie Ursula Meier oder Lionel Baier zugute kommt.

Auch diese beiden gehören zu der jungen Filmergarde, haben schon verschiedentlich Auszeichnungen erhalten und weisen ein kontinuierliches Schaffen auf. Die fünfunddreissigjährige Ursula Meier ist schweizerisch-französische Doppelbürgerin und studierte an einer belgischen Filmschule. Sie machte bereits mit ihren Kurzfilmen auf sich aufmerksam: Ihr Tous à table über eine turbulente Geburtstagsfeier wurde dank der aussergewöhnlichen Kameraführung und einem ebensolchen Plot 2002 für den Schweizer Filmpreis nominiert – ebenso wie zwei Jahre später ihr erster langer Spielfilm des épaules solides. In diesem Debütfilm erzählte Meier von einer jungen Läuferin, die für die angestrebte Leistung ihren Körper bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten treibt. Der Film überzeugte nicht zuletzt dank der beeindruckenden Schauspielführung und fand insbesondere an internationalen Festivals Beachtung. Zurzeit arbeitet Ursula Meier an einem 6-Millionen-Franken-Projekt – dem Langspielfilm Home, für das sie zurzeit das Casting absolviert und auf Location-Suche ist. Die schweizerisch-französisch-belgische Koproduktion Home handelt von einer Autobahn, die just neben dem Häuschen einer Familie in einer ansonsten leeren Landschaft gebaut wird. Die neue Strasse wird das Leben der kleinen Familie aus den Angeln heben und zum Inferno verwandeln.

Der einunddreissigjährige Filmemacher Lionel Baier aus Lausanne ist Autodidakt und damit eher eine Ausnahme unter den Filmschaffenden seiner Generation. Seine Dokumentarfilme kreisten bis anhin vor allem um seine Identität und sein Coming-out (etwa Celui au pasteur, 2000) oder die umstrittene Durchführung des nationalen Gay Pride im konservativen Waadtland (La parade [notre histoire], 2002). Mit Garçon stupide (2004) wagte es Baier, dokumentarisch-autobiografische Elemente mit dem Spielfilm zu verbinden – ein Genremix, den Baier «autofiktional» nennt. Erfolg konnte er damit vor allem an ausländischen Festivals verbuchen. Last but not least fand der Film einen Verleih in den USA, und für die «New York Times» gehörte er sogar zu den besten zehn Filmen des Jahres!

Nicht nur in Garçon stupide, der die schwule Selbstfindung am Beispiel des jungen Erwachsenen Loïc thematisiert, fügt Baier sich selbst als Figur in des Filmgeschehen ein – auch in seinem neusten Werk Comme les voleurs tritt der Filmemacher als Darsteller auf. In einer sorglosen Mischung aus Komödie und Beziehungsdrama illustriert Comme les voleurs als fiktional-autobiografische Enquete die Suche des Regisseurs nach seinen mutmasslichen polnischen Wurzeln. In einem verschachtelten, nicht immer schlüssigen, aber mit viel Charme erzählten Roadmovie wird die Flucht des Hauptdarstellerpaars gen Osten erzählt. Comme les voleurs ist wie Brons Mon frère se marie als bester Spielfilm für den Schweizer Filmpreis 2007 nominiert.

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(Bild: Comme des voleurs)

Die bisher Genannten stehen beispielhaft für einen soliden «Mittelbau» des Westschweizer Spielfilmschaffens. Dabei können diese sich mit Altmeistern wie Alain Tanner, Claude Goretta, Michel Soutter auf eine durchaus illustre Vergangenheit abstützen. Allerdings sieht der Direktor der Solothurner Filmtage, Ivo Kummer, diese Tradition nunmehr eher als Hindernis denn als Stimulus: «Die Westschweizer hängen noch zu sehr am Autorenfilm», meint er und befürwortet ein dynamischeres Modell, das den Produzenten mehr in die Filmentstehung miteinbeziehe – wie das letztlich auch Nicolas Bideau anstrebe. Tatsache ist, dass die Deutschschweiz zurzeit ein kleines «Filmwunder» erlebt – was auch von den Westschweizer Filmemachern anerkennend vermerkt wird: Filme werden erfolgreich auf ein grosses Publikum hin konzipiert und produziert oder – im Fall der Fernsehproduktion Die Herbstzeitlosen – dank einem grossen Verleih (Buena Vista) mit entsprechendem Erfolg vermarktet. Das schlägt sich nicht zuletzt in einem rekordverdächtigen Anteil der Schweizer Filme an den Kinobesucherzahlen nieder, die sich 2006 auf erstaunliche zehn Prozent hochgeschraubt haben. In der Westschweiz sieht die Bilanz nüchterner aus: Zwar ist auch dort der Anteil des Schweizer Films an den Kinoeintritten gestiegen, doch längst nicht im selben Masse wie in der deutschen Schweiz – und paradoxerweise auch nicht unbedingt aufgrund von Westschweizer Filmen, sondern eher dank Titeln aus der deutschen Schweiz wie Jeune homme von Christoph Schaub, einer Komödie über einen Deutschschweizer Au-pair-Mann in einer Genfer Familie, oder Grounding von Michael Steiner, der fast 70 000 Eintritte allein in der Romandie verzeichnete. Im Gegensatz zu der Deutschschweiz, wo das Label «Schweizer Film» im vergangenen Jahrzehnt einen enormen Wandel durchgemacht hat und mittlerweile durchaus als Argument für einen Kinobesuch gewertet wird – sei es auf der Ebene Kassenschlager als auch auf jener des Autorenfilms –, muss der Westschweizer Film, seiner Qualität zum Trotz, bis heute um seine Anerkennung kämpfen.

So ergeht es auch dem neununddreissigjährigen Filmemacher Romed Wyder, der in Genf seine Filmausbildung absolvierte. Seine sympathische Liebesgeschichte im Genfer Hausbesetzermilieu Pas de café, pas de télé, pas de sexe wurde zwar im Jahr 2000 gleich zweimal für den Schweizer Filmpreis nominiert (für die beste Hauptdarstellerin und als bester Spielfilm), konnte aber an der Kinokasse nur gerade einen Achtungserfolg erringen, wobei die Eintritte in der Deutschschweiz diejenigen in der Romandie prozentual fast übertrafen. Wyders Nachfolgerfilm absolut (2004), ein Thriller um zwei Genfer Computerpiraten, die sich mit einem Finanznetzwerk anlegen – in brisanter Anspielung auf den Hacker-Angriff auf das Davoser Weltwirtschaftsforum –, prallte an der Zuschauergunst ab und machte nur noch halb so viele Eintritte wie Pas de café. Andererseits konnten die Filmrechte von absolut nach Deutschland verkauft werden, wo der Film einen diskreten Zuschauerzuspruch verzeichnen konnte.

Den Grund, wieso es Westschweizer Filme in ihrer Heimat besonders schwer haben, sieht nicht nur Romed Wyder in der fehlenden kulturellen Identität der Romands: «Das Kulturverständnis der Romands ist geprägt durch Frankreich. In der Deutschschweiz schafft der Dialekt eine Art Identität. Die Romandie hat da schon eher die Position einer französischen Provinzregion; die Leute hier schauen sich in erster Linie französische Filme an. Filme aus der lokalen Produktion schaut man sich nur an, wenn man jemanden darin kennt. Andererseits muss man aber auch eingestehen, dass die anderen Filme einfach offensichtlich besser sind als unsere. Wenn es ein Film wie jeune homme schafft, allein in der Westschweiz 30 000 Eintritte zu machen – und der eigene nur 3000, dann ist das kein Problem der Identität mehr … Klar, spielt auch mit, dass Jeune homme als Komödie mehrheitsfähiger ist als ein Thriller wie absolut, der ausserdem ein Low-Budget-Thriller war und sich an ein spezielleres Publikum richtet, das aber auch gewisse Erwartungen hat …»

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(Bild: L'escalier)

Auf sein neues Projekt angesprochen – die Adaption eines Buchs von Elie Wiesel, Die Nacht zu begraben, Elischa –, umreisst Wyder den Inhalt der Geschichte als das, «was im Kopf eines Terroristen vorgeht». Schauplatz soll Palästina sein, und wie um unbewusst Ivo Kummers Statement Lügen zu strafen, meint Romed Wyder: «Für einmal möchte ich den Film nicht selbst produzieren. Ich möchte einen Dialog haben, die Entscheidungen mit einem Produzenten zusammen fällen. Eine neue Phase für mich also. Ich bin aber noch auf der Suche. Ich habe bis jetzt schon minoritäre Koproduzenten in Frankreich und Deutschland gefunden, aber leider noch keinen Hauptproduzenten. Da spielt das Inseldasein der Schweiz leider eine prominente Rolle.»

Als Letzter in dieser kleinen, gezwungenermassen unvollständigen Tour d’horizon durch die Nachwuchsgeneration des Westschweizer Filmschaffens soll Frédéric Mermoud stehen. Der siebenunddreissigjährige Filmemacher studierte an der Lausanner Ecal und hat schon viel Beachtung mit seinen Kurzfilmen gewonnen, etwa mit Son jour à elle (1998), einem kleinen Drama um ein Mädchen am Tag seiner Firmung, oder einem Beziehungskonflikt unter Jugendlichen in Les électrons libres (1999). L’escalier, ein atmosphärisch-dichtes Erzählfragment, das sich um die junge Protagonistin Rachel (Nina Meurisse) dreht, wurde 2004 als bester Schweizer Kurzfilm ausgezeichnet. Mit derselben Hauptdarstellerin in der Rolle derselben Figur führte er die Geschichte um die liebe Not mit dem Sex und dem «ersten Mal» in seinem neusten Kurzfilm Rachel fort, mit dem Mermoud 2007 wieder für den besten Kurzfilm nominiert ist.

Mermouds Filme wirken formal leichtfüssig. So hat er etwa Rachel mit 35 Millimeter gedreht, erweckte aber bewusst den Eindruck, als wäre die Handlung mit einer bewegten Digitalhandkamera gedreht worden. Auch vermitteln seine Filme das Gefühl einer – äusserst gelungenen – Ad-hoc-Improvisation zwischen Regie, Schauspielern und Kamera. Doch Mermoud winkt ab: Seine Inszenierungen stützen sich jeweils auf ein minuziös geschriebenes Drehbuch, insbesondere was die Dialoge betrifft, und auf ein strenges Stilprinzip: War es die Einheit des Orts für L’escalier – das Treppenhaus als symbolischer Ort für die Lebenssituation Heranwachsender –, ist es die Einheit der Zeit für Rachel: Die Handlung spielt sich in einer Nacht ab.

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(Bild: De ce monde)

Angesprochen auf sein nächstes Projekt, meint Frédéric Mermoud: «Ich schreibe an einem langen Spielfilm. Endlich! Dabei geht es um einen Krimi. Im Zentrum steht ein fünfundvierzigjähriger Polizist, der den Mord an einem zwanzigjährigen Mann untersucht. Mit diesem Genrefilm wollte ich in eine Richtung gehen, wo man mich eher weniger erwartet. Gleichzeitig geht es aber auch wieder um die Welt von Jugendlichen – ein Thema, das mir von meinen Kurzfilmen her vertraut ist.» Dafür hat er auch bereits einen Schweizer Produzenten gefunden – Robert Boner. Wie Bron und Meier hat auch Mermoud, der in Paris lebt, seine Fühler ins Nachbarland ausgestreckt: Der Krimi wird als schweizerisch-französische Koproduktion finanziert; herauszuhören ist, dass man beim Cast gerne mit klingenden Namen aus der Gilde französischer Darsteller arbeiten würde. Mit dem Schritt hin auf das Publikum des Nachbarlands erhofft Mermoud sich nicht zuletzt, auch in seiner Heimatregion reüssieren zu können. Er vermisst in der Romandie eine eigene Tradition, was den Humor und das Cabaret betreffe. Diese Lücke füllt nicht zuletzt der französische Komödienfilm. Ungefragt bestätigt auch Mermoud das Votum bezüglich des in der Westschweiz vorherrschenden Autorenfilms, oder des «kunsthandwerklichen Kinos» («cinéma d’artisan»), wie er es nennt: mit den entsprechenden «kunsthandwerklichen» Mitteln und Strategien wie kleine Budgets, kleine Crews – im Gegensatz zu einer Filmindustrie, wie sie sich zurzeit in Zürich herausbilde. Damit Spielfilme sich in der Westschweiz durchsetzen können, müssten sie seiner Meinung nach bei einem grösseren französisch sprechenden Publikum funktionieren – während ein Film in der Deutschschweiz nicht unbedingt über die Grenzen hinaus sein Publikum suchen müsse. Fest steht, dass es in der Westschweiz eine ganze Reihe filmisch innovativer, kontinuierlich arbeitender Regisseure gibt, die sich beim Erfolg ihrer Werke allerdings nicht auf ihr Heimpublikum abstützen können. Und es – selbst wenn die Romands vermehrt auf den Geschmack kommen – auch in Zukunft nie ausreichen wird, einen Film erfolgreich auf dem «Heimmarkt» zu plazieren. Das schreckt diese aufstrebende Garde an Autorenfilmern aber nicht ab – je für sich suchen sie nach Strategien, um ihre Projekte zu verwirklichen und den Weg zu ihrem Publikum zu finden.

(Titelbild: Garçon stupide; Letztes Bild: Rachel)

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2007 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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