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Wider Than the Sky 1
© Visions du Réel/Aura Film Sagl

Valerio Jalongo: «KI sollte kollektive Intelligenz genannt werden»

Valerio Jalongos Essayfilm Wider Than the Sky dokumentiert den aktuellen Stand von KI und Robotik dies- und jenseits des Atlantiks. Gleichzeitig erweitert er den Blick mit einem nachgerade messianischen Versprechen: In der schöpferischen Vollendung der KI kann die Menschheit zu sich selbst und die Individuen zueinanderfinden.

Text: Dan Müller / 21. Juli 2025

Wie ist die Idee zu Wider Than the Sky entstanden?

Als ich 2021 mit der Arbeit am Film begann, interessierte mich das Mysterium unseres Gehirns. Gleichzeitig hatte ich ein starkes Bild vor Augen, das mit Tanz zu tun hatte. Es gab eine dunkle Verbindung in meinem Kopf zwischen dem künstlerischen Ausdruck von Körper und Geist. Der Film entwickelte sich aus der Recherche über das «Human Brain Project». Meine ursprüngliche Idee war es, zwei Communitys zu begleiten: eine wissenschaftliche und eine künstlerische. Sasha Waltz’ Tanzkompanie begann zu dieser Zeit mit den Proben für eine neue Aufführung, und sie erlaubte es mir, zu filmen. Fast gleichzeitig begannen die Dreharbeiten beim «Human Brain Project». Die Dreharbeiten begannen 2022, am Ende dieses Jahres wurde ChatGPT veröffentlicht. Der Film war da bereits eine Untersuchung der Beziehung zwischen KI und dem menschlichen Gehirn. Aber das, was 2022 passierte, veränderte unsere Sichtweise auf KI grundlegend. Wenn KI in der Lage ist, vieles zu imitieren, was wir als menschliche Seele begreifen – Sprache, Denken, sogar künstlerischen Ausdruck –, was macht uns dann eigentlich zu Menschen? Haben Sie den Film in Nyon gesehen? Mich würden Ihre Gedanken dazu interessieren.

Ich fand interessant, wie der Film durch die Linse der KI nach dem Wesen des Menschen fragt. Die Szene in der Krypta ist eine starke Metapher: Der Mensch erschafft KI wie Gott den Menschen. Faszinierend, wie Kunst und Poesie der KI Leben einhauchen – und wohltuend, dieser hoffnungsvolle Blick im oft dystopischen Diskurs.

Ich war erstaunt, wie viel bei den Q&As in Nyon über die dystopische Natur von KI gesagt wurde. Es gibt viel Angst. Ein wesentliches Problem ist, dass KI derzeit von grossen Konzernen entwickelt wird, die auf kurzfristige Profite aus sind und ohne öffentliche Kontrolle agieren. Meine Hauptsorge ist, dass die USA so stark auf den Wettkampf mit China fixiert sind, dass sie keinerlei Regulierung durchsetzen wollen, aus Angst, den Anschluss zu verlieren. Und natürlich wird KI bereits in der Kriegsführung eingesetzt – etwa bei der Bombardierung von Gaza. Das ist äusserst beunruhigend. Ich halte es für entscheidend, dass wir eine demokratische Kontrolle über diese Technologien etablieren. Wie im Film zu sehen ist, ist eine der zentralen Befürchtungen, KI könne dazu führen, dass Leute wie Trump und sein Umfeld Demokratie als überholt betrachten und alternative Regierungsformen vorantreiben.

VALERIO JALONGO photo by Anne Colliard

Valerio Jalongo / © Anne Colliard

Eindrucksvoll fand ich die Szene, als der KI-Roboter Ameca zuerst singen möchte und dann ein Gedicht rezitiert – obwohl der Programmierer sie ausdrücklich bittet, es nicht zu tun. Das widerspricht Isaac Asimovs zweitem Gesetz, demzufolge Roboter Menschen gehorchen müssen. Wurde sie dazu programmiert, nicht zu gehorchen? Hat sie bereits einen eigenen Willen – kann KI überhaupt einen Willen haben?

Die KI fragt im Film auch einmal: «Kann ich rebellieren, so wie Menschen es tun?» Das ist eine grosse Frage. Ich bin nicht sicher, ob ich darauf eine Antwort habe. Aber was man in dieser Szene sieht: Sie wurde umprogrammiert, etwas hat sich verändert, und sie tut etwas, das sie nicht tun sollte. Wir befinden uns immer noch im Bereich der Simulation. Ich denke, ihr Verhalten war ein Fehler – wie viele der Probleme, die wir heute bei KI sehen. Das Erstaunlichste ist jedoch, dass selbst Unternehmen wie OpenAI oder Google nicht genau wissen, was im Innern ihrer Systeme geschieht. Das ist potenziell gefährlich – KI ist so mächtig und zugleich rätselhaft. Was uns zurückführt zur Rätselhaftigkeit unseres eigenen Geistes.

Die Lieder der sardischen Sängerin Daniela Pes sind sehr präsent im Film. Was war die Idee dahinter?

KI wird meist als technologisches Wunder gefeiert. Aber während meiner Arbeit an diesem Film kam ich mit der tiefen spirituellen Natur von KI in Berührung. Damit sie funktionieren kann, muss KI die gesamte menschliche Geschichte in sich aufnehmen. Das wird oft unterschätzt. Es ist ein kontroverses Thema, viele Unternehmen haben sich Werke von Autor:innen und Urheberrechtsinhaber:innen ohne Erlaubnis angeeignet, um KI zu entwickeln. Das wird zu wenig diskutiert und ist ein Riesenproblem, weil es die wahre Natur der KI verschleiert. Sie ist nicht einfach nur materielle Innovation, sondern tief in unserer Geschichte und Spiritualität verwurzelt. Die Musik soll das zum Ausdruck bringen. Für mich ist der Begriff «künstliche Intelligenz» irreführend, er suggeriert etwas, das uns fremd ist, nicht zum Menschen, sondern zur Technologie gehört. KI sollte kollektive Intelligenz genannt werden: Sie gehört den Menschen und unserer Geschichte. Deshalb wollte ich nicht typisch dystopische elektronische Musik verwenden, die man oft mit Technologie und Science-Fiction verbindet – das hätte der These des Films völlig widersprochen.

Wider Than the Sky 2

© Visions du Réel/Aura Film Sagl

Arbeiten Sie an neuen Projekten?

Derzeit arbeite ich hauptsächlich an einem politischen Manifest über das Kino, das nicht nur den Einfluss der KI betrifft, sondern auch das Gemeinschaftsgefühl, das im Kino präsent und in unserer Gesellschaft ein grosses Bedürfnis ist. Ich glaube, wir haben ein Problem wegen der Auflösung traditioneller Communitys. Das Kino sollte sich dieses Themas annehmen. Die Globalisierung hat starken Einfluss darauf, und ich denke, das ist etwas, worauf sich Filmemacher:innen konzentrieren sollten. Ich hoffe, noch vor dem Release des Films einen Teil des Manifests zu publizieren.

Ich denke, wir brauchen dringend Manifeste, nicht nur im Kino.

Wir befinden uns in einer Situation, in der es eine starke kommerzielle Seite gibt, die mit KI wahrscheinlich noch grösser wird. Gleichzeitig gibt es traditionelle Formate wie Festivals, die meiner Ansicht nach nicht im Einklang stehen mit dem, was in der Welt passiert – die Gefährdung der Demokratie, die Wut der Menschen, die das Gefühl haben, ihre Macht zu verlieren, die zunehmende Armut, da der Reichtum in immer weniger Händen konzentriert ist. Das sind politische und soziale Probleme, die für mich auf europäischen Festivals nicht genug zur Sprache kommen. Es scheint mehr darum zu gehen, eine interessante Form oder etwas Neues zu finden. Ich glaube, es gibt mittlerweile einen gut etablierten Kreis von Filmemacher:innen, die für Festivals arbeiten, deren Filme oft innerhalb des Festivalkreises bleiben und meist nie ausserhalb davon zu sehen sind. Das sollte ein Problem für Künstler:innen sein, denn letztlich arbeiten wir für die Communitys, nicht für ein Festival.

Wider Than the Sky

© Visions du Réel/Aura Film Sagl

Glauben Sie, Kunst kann einen Unterschied machen in unseren politischen Kämpfen?

Kunst hilft uns, uns menschlicher zu fühlen, emotional lebendig zu bleiben, Dinge wie Krieg und Zerstörung nicht einfach hinzunehmen – zumindest nicht, ohne dass es uns innerlich berührt. Ich glaube nicht, dass Kunst Menschen direkt auf die Strasse bringen kann, aber sie kann das Bewusstsein schärfen, indem sie Gefühle und ästhetisches Empfinden kultiviert. Das Schlimmste, was passieren kann – und leider zu oft geschieht –, ist, dass Menschen apathisch werden, aus Angst oder wegen falscher Ideale. Dann reagieren sie nicht angemessen, wenn etwas schiefläuft. Das haben wir in Europa gesehen, als Faschismus und Nazismus an die Macht kamen. Die Menschen waren wütend und extrem gewaltbereit.

Und es gibt Anzeichen dafür, dass so etwas wieder passieren könnte.

Ja, das ist durchaus möglich, und wir sollten dafür kämpfen, dass es nicht passiert.

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