1995 veröffentlichte Gregory Maguire den düsteren Fantasyroman «Wicked»; acht Jahre später landeten Komponist Stephen Schwartz und Librettistin Winnie Holzman mit ihrer gleichnamigen, etwas entschärften Bühnenadaption einen der ganz grossen Musicalhits unserer Zeit. Sie alle waren ihrer Zeit voraus: Ihr Vorhaben, die «Wicked Witch of the West» – die ikonische grünhäutige Bösewichtin aus L. Frank Baums Kinderbuchklassiker «The Wonderful Wizard of Oz» (1900) und dem Farbfilm-Monument The Wizard of Oz (1939) – zur tragisch missverstandenen Heldin umzudeuten, passt wie angegossen in unsere florierende Entertainment-Welt der Origin-Storys, Prequels und Legacy-Sequels.
Die gebeutelte, unfair ausgestossene Wicked Witch, die bei Maguire, Schwarz und Holzman in Wahrheit Elphaba heisst, eng mit der guten Hexe Glinda befreundet ist und entschieden für ihre Meinungen zu den Missständen im Lande Oz einsteht – eine Wegbereiterin für die Ehrenrettungen von vermeintlichen Fieslingen wie Malefiz aus Sleeping Beauty (Maleficent), Schwester Ratched aus One Flew Over the Cuckoo’s Nest (Ratched) und Cruella de Vil aus One Hundred and One Dalmatians (Cruella).
Entsprechend unausweichlich war eine Leinwandversion dieser alternativen Oz’schen Geschichtsschreibung. Aber weil sich die 2012 begonnene Produktion immer mehr in die Länge zog, wirkte Wicked, als er Ende 2024 in die Kinos kam, schliesslich doch ein bisschen wie ein Nachzügler: ein später Epilog zum kleinen Broadway-Trend der späten Nuller- und frühen Zehnerjahre (Mamma Mia!, Les Misérables, Into the Woods), eine aus dem digitalen Zeitalter gefallene Liebeserklärung an aufwendig handgearbeitete Kulissen, eine zweigeteilte Erzählung nach dem Vorbild von Blockbuster-Events wie Harry Potter and the Deathly Hallows (2010–2011), The Twilight Saga: Breaking Dawn (2011–2012) und The Hunger Games: Mockingjay (2014–2015).
© 2025 Universal Studios. All Rights Reserved.
Dass diese Rezeptur Erfolg haben würde, war im Grunde vorprogrammiert. The Wizard of Oz ist gerade in den USA eine popkulturelle Institution, «Wicked» erfreut sich in der theaterbegeisterten Szene nach wie vor enormer Beliebtheit, und Universal Pictures setzte geschickt auf den populären Regisseur Jon M. Chu (Crazy Rich Asians, In the Heights) und seine diversen Casting-Coups, darunter Cynthia Erivo als Elphaba, Ariana Grande als G(a)linda, Jeff Goldblum als Zauberer von Oz und Michelle Yeoh als intrigierende Madame Morrible. Zu Buche standen zum Schluss eine begeisterte Fangemeinde, 759 Millionen Dollar an den Kinokassen, zwei gewonnene Oscars und acht weitere Nominierungen – und ein Film, der den unausgegorenen Faschismus-Plot des Quellenmaterials und Chus Schwächen bei der Inszenierung von Gesangs- und Tanzeinlagen mit soliden Schauwerten, verschrobenem worldbuilding, leidlich unterhaltsamen Internatskindereien und einnehmenden Hauptdarstellerinnen einigermassen zu übertünchen vermochte.
Im zweiten und letzten Akt des Musicals stechen diese Trümpfe aber nur noch bedingt. Handwerklich mag Wicked: For Good seinem Vorgänger in so gut wie nichts nachstehen – die Sets sind beeindruckend, die Kostüme voller verspielter Details –, doch dieses Handwerk dient nun, gezwungenermassen, einer vertiefteren Auseinandersetzung mit den im ersten Teil angerissenen Erzählelementen. Und diese lassen wahrlich zu wünschen übrig.
Einige Zeit nach den Ereignissen von Wicked lebt Elphaba als allseits gefürchtete Meisterhexe in einem Versteck, von wo aus sie einen Solo-Guerillakrieg gegen die von Vorurteilen und Propaganda geschürte Diskriminierung von Tieren und Munchkins führt, während Madam Morrible und der aufschneiderische Zauberer die gänzlich unmagische Glinda als freundlich lächelnde Galionsfigur ihres Regimes aufbauen. Ausserdem: Wieso kamen Dorothy und ihr Hund Toto nach Oz? Was hat es mit ihren Begleitern, dem feigen Löwen, dem herzlosen Zinnmann und der hirnlosen Vogelscheuche, auf sich? Und wer ist die «Wicked Witch of the East», der Dorothy gleich zu Beginn ihrer Reise den Garaus macht?
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Hin und wieder blitzt hier etwas Bühnenmagie auf – etwa die recht klassisch gehaltene Darbietung von «Wonderful» oder die ganz auf Cynthia Erivos Gesangstalent zugeschnittene «No Good Deed»-Szene. Insgesamt ist Wicked: For Good aber vor allem eine unbeholfene Mischung aus zwanghaften Prequel-Verweisen, bizarren Anleihen aus dem Superheld:innen-Genre – einschliesslich superhero landing von Elphaba – und einer inkohärenten Faschismus-Allegorie, die nach und nach an erzählerischer Relevanz verliert und schliesslich ganz in sich zusammenfällt. Dass das Ganze mit der schwächeren Hälfte des «Wicked»-Liederrepertoires auskommen muss – sowie der nicht sonderlich gelungenen Neukomposition «Girl in the Bubble» –, hilft da natürlich auch nicht.
Der ausgeweitete Fokus auf das Drama um Elphaba, Glinda, den Zauberer, Madame Morrible und den zwischen den beiden Hauptfiguren hin- und hergerissenen Beau Fiyero (Jonathan Bailey) sorgt zudem dafür, dass gewisse Probleme, die in Wicked noch im allgemeinen Figuren- und Anekdotenchaos verschwinden konnten, nun empfindlich exponiert sind: Michelle Yeohs gelangweilt wirkendes Schauspiel, Jonathan Baileys fehlende Präsenz als romantischer Held, die nachlässige Charakterisierung von Elphaba und Glinda, deren Beziehung in diesem Film weniger auf emotional nachvollziehbarer Erzählkunst fusst, als dass sie auf die parasoziale Anbindung des Publikums an Grande und Erivo und ihre medienwirksamen PR-Auftritte zählt. Man muss Wicked: For Good jedenfalls beim Wort nehmen, wenn die beiden im titelgebenden Song tränenreich behaupten, sie hätten sich gegenseitig «for good» verändert: Der Film selbst bleibt den Beweis schuldig.