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«Wie der Schweizer Film damals funktionieren musste»

Das Material, das wir in der Cinémathèque lagern, ist längst nicht vollständig aufgearbeitet – aber seit sieben Jahren sind wir intensiv daran, dies mit den beschränkten Mitteln des Hauses nachzuholen. Wir wissen manchmal nicht einmal mehr, wer die Filme bei uns deponiert hat.

Text: Walt R. Vian / 01. Aug. 2004

FILMBULLETIN Dass die Cinémathèque suisse jeweils im Rahmen des Filmfestivals von Locarno ältere Schweizer Filme präsentiert, hat Tradition. Wie aber ist «wiederentdeckt» zu verstehen?

HERVÉ DUMONT Meistens handelt es sich um Filme, die seit ihrer Erstaufführung nicht mehr gezeigt wurden, oder um Filme, die ausserhalb der deutschsprachigen Schweiz unbekannt geblieben sind. Das sind die beiden wichtigsten Kategorien. Wilder Urlaub, der damals sowieso ein Misserfolg, ein totaler Flop war, wurde (Fernsehen ausgenommen) fast nie mehr gezeigt, verdient es aber, einmal richtig gesehen zu werden.

FILMBULLETIN «Retrouvé» bedeutet also nicht, dass Ihr die Filme jetzt wiederentdeckt oder jetzt erst gefunden habt.

HERVÉ DUMONT Wilder Urlaub sowie Der doppelte Matthias und seine Töchter – die wir dieses Jahr in Locarno präsentieren werden – sind tatsächlich Kopien, die hier waren. Wilder Urlaub, das ist nicht schwierig, das ist ein Praesens-Film. Franz Schnyder ist nicht gerade unbekannt, auch wenn dieser Film von ihm nicht sehr bekannt ist. Der doppelte Matthias und seine Töchter von Sigfrit Steiner war eine Produktion einer Schweizer Firma, die längst eingegangen ist. Der Filmwurde, ausser hie und da in den fünfziger Jahren in der Innerschweiz, nie mehr gezeigt. In der Romandie ist er total unbekannt.

Es hat unter den Titeln, die wir in den letzten Jahren vorgestellt haben, aber immerhin vier oder fünf Filme gegeben, die entweder als verschollen galten oder die wir im Ausland erst entdeckten. Filme, die wir reimportiert haben, weil es in der Schweiz kein Material mehr gab. Ein typischer Fall war der bereits 1917/18 in einem Studio in Genf gedrehte Stummfilm Arena des Todes (Le cirque de la mort) des Dänen Alfred Lind, den wir 2001 in Locarno zeigten: in Rom wurde eine alte Nitratkopie davon gefunden, die liessen wir uns kommen, haben sie gesäubert und bearbeitet. Arena des Todes war als Schweizer Film unbekannt und ist nun ein Stummfilm mehr, den wir in der Sammlung haben – unter Helvetika.

Der Basler Film Weyherhuus von René Guggenheim, den wir vor zwei Jahren zeigten, war wiederum ein total vergessener Film. Aber es ist schon unsere Aufgabe, das Gedächtnis zu reaktivieren, und gleichzeitig ist es natürlich auch die Gelegenheit für uns, diese Filme – muss man schon sagen – zu retten.

Das Material, das wir in der Cinémathèque lagern, ist längst nicht vollständig aufgearbeitet – aber seit sieben Jahren sind wir intensiv daran, dies mit den beschränkten Mitteln des Hauses nachzuholen. Wir wissen manchmal nicht einmal mehr, wer die Filme bei uns deponiert hat. Das kann sogar vor 1950 gewesen sein, und da liegen nicht alle Dokumente gleich zur Hand. Manchmal wissen wir auch nicht so genau, in welchem Zustand sich die eingelagerten Filme befinden. Bei der Aufarbeitung unserer Bestände finden wir zum Teil auch Spulen, die wir erst identifizieren müssen. Schliesslich kommen wir dann auf einen Titel. Das war unter anderem der Fall für eine Basler Komödie, die wir 2000 in Locarno zeigten: Das Glück auf der Landstrasse (auch als Schaggi der Vagabund verzeichnet) aus dem Jahr 1938/39, ein Film, der noch auf dem Gelände der Landi gedreht wurde. Diesen Film mit Fredy Scheim, der heute wieder als Fragment vorliegt, hat niemand gesehen. Ich bezweifle sogar, dass der Film – auch damals – überhaupt in einem Kino gezeigt wurde. Und da haben wir tatsächlich, niemand weiss genau woher, Spulen geerbt. Unter anderem auch Szenen, die nicht hineinpassten, oder von denen wir nicht wussten, was damit anzufangen ist. Wir haben sie dann separat gezeigt. Und dies ist eine Art von Rettungsaktion.

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(Bild: Dreharbeiten zu Der doppelte Matthias und seine Töchter)

FILMBULLETIN Für Locarno, nehme ich mal an, werden neue Kopien hergestellt. Wird auch restauriert?

HERVÉ DUMONT Restauriert werden sie zum grösseren Teil. Man muss allerdings zwischen einer Restaurierung und einer «sauvegarde» unterscheiden. Für eine Sicherung, oder Rettung, wird Nitratmaterial auf Azetat beziehungsweise Polyester umkopiert, ohne besondere Restaurierungsarbeit. Umkopierungen sind die billigeren Unternehmen, die kosten uns «nur» fünfzig- bis sechzigtausend Franken. Restaurierungen, wo die Bilder wirklich repariert werden müssen, weil der ganze Film klebt – ein Klumpen Film, der sich langsam zersetzt –, ganz kaputt ist, mit kaputter Perforation und Kratzern überall, wo bei Stummfilmen neue Zwischentitel herzustellen sind: das kann bedeutend teurer werden.

Wir haben seit Winter 1998/99 in Penthaz ein Atelier eingerichtet, das buchstäblich Restaurierungen macht. Niemand sonst in der Schweiz kann diese Arbeit machen. Wir haben Leute ausbilden lassen. Die sind ziemlich Spitze, haben auch den anerkannten Titel «Restaurator», und die bearbeiten das zerfallende Material tatsächlich wochen-, wenn nicht monatelang bei uns in Penthaz, bis die Kopie hält und man sie dem Labor für die weitere Bearbeitung übergeben kann. Für die Etappe der Restaurierung ist kein Labor in der Schweiz eingerichtet. Wir sind schon ziemlich stolz darauf, dass wir da zu einem ganz ansehnlichen Resultat gekommen sind, das 2002 im Stummfilmfestival von Pordenone international anerkannt wurde – auch wenn wir noch immer viel zu wenig Mittel und Geld haben, um alles retten zu können, wie wir es sollten, und gegen die Zeit ankämpfen.

FILMBULLETIN Bei Wilder Urlaub und Der doppelte Matthias und seine Töchter aber war keine grössere Restaurierungsarbeit notwendig?

HERVÉ DUMONT Bei Wilder Urlaub wurde eine neue Kopie hergestellt, wobei auf das beste Basismaterial geachtet, die alten Kopien vorab gesäubert und geputzt wurden – auch das können wir jetzt in unserem eigenen Atelier machen.

Man kann natürlich fragen, warum gerade diese zwei Filme? Für Wilder Urlaub liess ich eine Kopie französisch untertiteln, weil ich ihn auch in Lausanne und Genf zeigen möchte. Das soll ruhig diesseits des Röstigrabens ebenfalls entdeckt werden. Und was den Sigfrit-Steiner-Film betrifft – den wir bereits 1996 kopiert haben, wir haben ihn einfach nie gezeigt, es ist ja auch keine Nachfrage da, die Leute kennen die Filme ja nicht –, so schien es mir dann doch interessant, dass er wenigstens in Locarno wieder einmal gezeigt wird, so dass man wenigstens weiss, dass der Film existiert und dass in der Schweiz auch versucht wurde, Komödien zu machen – manchmal sogar leicht spritzige, erotische. Leicht spritzig, leicht erotisch natürlich – wir Schweizer übertreiben ja nicht.

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(Bild: Der doppelte Matthias und seine Töchter)

FILMBULLETIN Die beiden Filme wurden während des Zweiten Weltkriegs gedreht.

HERVÉ DUMONT Wilder Urlaub wurde 1943 gedreht und war eigentlich eine undenkbare Produktion für anno dazumal. Beim Militärdepartement wurden einige Leute buchstäblich rot vor Wut, als Lazar Wechsler und die Praesens sich entschlossen, den Roman «Wilder Urlaub» von Kurt Guggenheim zu verfilmen, der einen Fall von Desertion in der Schweizer Armee behandelt. Sie haben, das kann man in den Akten im Bundesarchiv nachsehen und nachlesen, eine unendliche Korrespondenz geführt. Die Militärzensur wollte alles mögliche entfernt haben. Man hat aber nicht alles entfernt. Allein schon die Idee, dass ein Soldat einen Offizier töten könne, dass er dazu noch desertiert und dennoch der Held des Films ist, wurde als sehr störend empfunden. Ausserdem gibt es im Film Betrachtungen über die bürgerliche Klasse, kritische Bemerkungen über die Reichen, die automatisch Offiziere werden – unterschwellige soziale Kritik also. Zur Zeit der Geistigen Landesverteidigung war das starker Toback. Auch die Schweizer Bevölkerung, die Zuschauer haben kaum akzeptiert, dass man die Armee kritisiert, dass man da Dinge auf die Leinwand bringt, die dem offiziellen Diskurs widersprachen. Auch wenn der Film zum Schluss durch einige Kompromisse – der Offizier hat überlebt, der Deserteur stellt sich der Militärjustiz – dann doch auf den «richtigen Pfad» gelenkt wird, hat er eben bereits ein paar Tabus gebrochen. Ausserdem hat Schnyder wilder urlaub in einem Stil gefilmt, der dem amerikanischen Film noir sehr gleicht, mit sehr schönen Kameraeinstellungen von Emil Berna. Aber wie gesagt, der Film war ein totaler Flop und hat Schnyder beinah seine Karriere gekostet. Er hat danach zehn Jahre lang nicht mehr gefilmt – jedenfalls keinen grösseren Spielfilm.

FILMBULLETIN Bekannt geworden ist Franz Schnyder dann für seine Gotthelf-Verfilmungen.

HERVÉ DUMONT Allerdings sind die ja auch nicht von allein entstanden. Selbstverständlich kann man diese Filme ebenfalls scharf kritisieren, aber man soll nicht glauben, dass es die einfachste Lösung für ihn war. Gotthelf war für Schnyder vor allem ein Gesellschaftskritiker, und die Leute wollten diese Filme zunächst überhaupt nicht finanzieren. So leicht war das nicht. Er hat da Mut und Risikofreude gezeigt. Na ja, hie und da hat Schnyder Sachen im Stil von Gilberte de Courgenay und Heidi und Peter gemacht, weil es der Karriere half oder weil er damit wenigstens sein Brot verdienen konnte. Aber alle wichtigen Projekte, die ihm wirklich am Herzen lagen, sind eigentlich schiefgegangen. Mit Der zehnte Mai, seinem Lieblingsprojekt, erlitt er – finanziell gesprochen – ebenfalls einen enormen Schiffbruch.

FILMBULLETIN Wilder Urlaub, sein dritter Film, war aber durchaus kommerziell gedacht?

HERVÉ DUMONT Natürlich, da spielte ja Paul Hubschmid mit. Geholfen hat das allerdings wenig. Der Schweizer Film hatte 1943 ganz abgesehen von Wilder Urlaub ohnehin einen sehr schlechten Ruf, denn an der Kasse waren zuviele Schweizer Filme bereits durchgefallen.

Für die Praesens, die zur gleichen Zeit Marie Louise rausbrachte, war Wilder Urlaub aber einer der ersten Filme zu zeitgenössischen Themen, die sich nicht in die Gottfried-Keller- oder Landammann-Stauffacher-Zeit oder einfach in den Schwank flüchteten. Sie versuchten, etwas zur damaligen Problematik auszusagen, auch wenn es den Zensoren, dem Militärdepartement, nicht passte. Wir wissen heute um den Druck, der auf marie louise oder vor allem auf die letzte chance lastete, wir kennen die ganzen Manöver, die damals veranstaltet wurden, wenn ein Film ein zeitgenössisches Thema ansprechen wollte. Man kann sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen, wie schwierig es war, einen Film wie Wilder Urlaub zu produzieren, mit Druck von allen Seiten. Gegen eine Szene, in der eine Kellnerin in einem Bistro den Deserteur freundlich behandelt, hat der Schweizer Wirteverband lautstark protestiert: Nie würde eine Kellnerin mit einem Unbekannten flirten.

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(Bild: Dreharbeiten zu Gilberte de Courgenay)

FILMBULLETIN Weshalb engagierte die Praesens Schnyder, der doch damals noch ein gewisses Risiko war, als Regisseur? Die Praesens hat doch mit Leopold Lindtberg gearbeitet und sogar Eisenstein engagiert.

HERVÉ DUMONT Es gab einen ganz konkreten Grund. Es wurde der Praesens nämlich nahegelegt, sie solle keine ausländischen Regisseure mehr beschäftigen. Und Wechsler hat dann so ein Tauschgeschäft gemacht und gesagt: Ich beschäftige den Lindtberg weiter, aber bei Gilberte de Courgenay – den Lazar Wechsler unbedingt drehen wollte – setze ich mich dafür ein, dass ein Schweizer den drehen kann und nicht Lindtberg oder Leonard Steckel oder so jemand. So hat also Schnyder, damals Regisseur am Basler Stadttheater, den Auftrag bekommen. Wechsler hat dann immer sehr geschickt mit Schnyder als alternativer Schweizer Präsenz in seinen Filmen gearbeitet, damit er in seinen Initiativen für Filmproduktionen nicht systematisch gebremst wurde.

FILMBULLETIN Aber damals gab es noch keine Filmförderung, wer konnte da irgendwie etwas «nahelegen»?

HERVÉ DUMONT Dreherlaubnis, ganz einfach. Und: Fremdenpolizei. Sie monierte immer wieder: Leopold Lindtberg ist als Regisseur am Schauspielhaus engagiert, hat also keine Filme zu drehen. Filmen müssen die Schweizer. Lindtberg hat ja Füsilier Wipf gedreht, aber er versteckte sich immer. Bei allen Aussenaufnahmen war Hermann Haller oder jemand anderes auf dem Drehplatz zu sehen, und die Presse durfte nicht erwähnen, dass Lindtberg Regie führt. Erst als der Film geschnitten und fertiggestellt war, kam Lindtberg in den Vorspann. Das muss man wissen. Das ist schon enorm. Deshalb war es auch klar, dass man einem Lindtberg keinen Film, der die Schweizer Armee kritisiert, übergeben wollte. Ich weiss allerdings nicht, ob Lindtberg den Stoff überhaupt hätte drehen wollen. Die Thematik entsprach vielleicht gar nicht seinem literarischen Sinn, seiner Feinfühligkeit. Der polemische Charakter des Romans war Schnyder sicher näher.

FILMBULLETIN Generell waren in dieser Zeit Ausländer als Regisseure dominant in der Schweiz. Gab es denn einen Mangel an Schweizer Talenten?

HERVÉ DUMONT Ja, das muss man so bezeichnen: es war ein Mangel an Talenten. Die Schweiz ist ja winzig, wenn man auf die Europakarte sieht. Es kann gar nicht so viele Talente geben. Dänemark hatte auch nur einen Dreyer.

Es gab niemanden. Ein Franz Schnyder, ein Sigfrit Steiner haben da gerade erst angefangen, Max Haufler hat hie und da versucht, einen Film zu realisieren, Hans Trommer ist es einmal gelungen und dann nicht wieder. Es gab hierzulande auch keine so starke Persönlichkeit wie einen Ingmar Bergman in Schweden, der das Land, was den Film betrifft, irgendwie in die grosse Vitrine hätte stellen können. Das ist wohl auch eines der Dramen des ganzen Filmwesens in der Schweiz: Wir haben zwar ein paar sehr gute Regisseure, aber es gibt eben keinen Luis Buñuel und keinen Ingmar Bergman. Noch nicht. Wenn es solch eine Persönlichkeit gäbe, hätten wir vermutlich auch ganz andere staatliche Hilfen. Denn damit könnte man international glänzen. Das käme dann in die Vitrine.

FILMBULLETIN Bergman hat mindestens zehn Filme gedreht, bis er erkannt wurde, und berühmt wurde er erst so nach dem vierzigsten Film. Max Haufler beispielsweise oder Sigfrit Steiner...

HERVÉ DUMONT ... die hatten nie eine Chance, mehr als drei Filme zu drehen. Film wurde nicht unterstützt, also musste der eine Film den nächsten finanzieren, und wenn ein Film kein Geld einbrachte, dann gab es keinen nächsten. So einfach war das. Dazu ist natürlich noch das Gebiet, wo der Film etwas einspielen konnte, doch ziemlich klein. Dialektfilm, das ging an sich ja nur die deutsche Schweiz etwas an. Aber andererseits sag ich mir immer wieder, hätten wir Namen wie Manoel de Oliveira, dann würde die Regierung auch mehr tun, weil auch der hinterste Politiker sich irgendwie bewusst würde, dass Film bedeutend ist – zumindest in den Augen des Auslands.

FILMBULLETIN Generell gesprochen waren das in den vierziger Jahren alles Produzentenfilme.

HERVÉ DUMONT Es waren Produzentenfilme. Was die Praesens betrifft auf jeden Fall. Dass die Produzenten weitgehend festlegten, welche Stoffe gemacht werden, war nicht sehr neu. In Frankreich war es auch so, und von Hitler-Deutschland reden wir schon gar nicht.

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(Bild: Der doppelte Matthias und seine Töchter)

FILMBULLETIN Heute haben wir eher eine Dominanz der Autoren ...

HERVÉ DUMONT Den Begriff des Autors gab es damals nicht, der Filmemacher war ein Handwerker, und wenn er eine starke Persönlichkeit hatte, konnte er den Film zu echtbiegen oder auf seine Statur bringen, aber es waren zunächst einmal und immer wieder Filme der Produzenten. Produzenten haben das Filmschaffen dieser Zeit geprägt.

Natürlich musste ein Film damals immer etwas einbringen. Kein Produzent konnte sich erlauben, einen Film rauszubringen, der nicht mindestens das einspielte, was er gekostet hat, denn dann ging es ihm direkt an den Kragen – und nicht nur ihm, sondern auch der ganzen Crew. Das sieht man bei der Praesens, die festangestellte Mitarbeiter hatte, die für das ganze Jahr engagiert waren. Das war ein Unikum für die Schweiz. Aber wenn da ein Film nicht lief, war das eine Katastrophe für alle. Also überlegten sie sich, bevor sie sich für einen Stoff entschieden, fünfzehn Mal, wie der ankommen könnte.

FILMBULLETIN Wieviele Leute waren das etwa? Die Bekannten sind Richard Schweizer als Drehbuchautor, Emil Berna als Kameramann und Hermann Haller als Cutter.

HERVÉ DUMONT Die Montage war fest, der Dekorateur war fest. Es waren sechs oder sieben Leute, nicht viel mehr. Aber das war schon enorm für die Schweiz. Die Praesens war überhaupt die einzige Gesellschaft in der Schweiz, die so im deutschen oder amerikanischen Stil gearbeitet hat.

FILMBULLETIN Diese Mitarbeiter haben dann offensichtlich auch – Berna etwa als Kameramann – eine ganze Reihe von Filmen geprägt.

HERVÉ DUMONT Natürlich, der Vorteil dieser Politik war, auch wenn immer ein grosses Risiko bestand, der grosse Vorteil war, dass diese Leute arbeiteten. Und indem sie Jahr für Jahr arbeiteten, verbesserten sie sich und lernten Neues dazu. Diese Chance war einmalig. Wir wissen zwar, dass beim Schweizer Film – das ist anderswo allerdings auch passiert – dann mit der Zeit nur noch die Älteren da waren und die Jungen keine Chance mehr hatten. Das kann ein Nachteil des Systems sein, muss es aber nicht. Wenigstens schuf man so eine Art von Stil, eine gewisse Schule, wo die Leute, von einem Film zum andern, systematisch etwas dazulernen konnten.

FILMBULLETIN Wilder Urlaub wurde weitgehend im Studio gedreht.

HERVÉ DUMONT Das ist ein Studiofilm, was schon erstaunlich ist. Na ja, die Studios waren teuer, die musste man irgendwie auch ausnutzen. Aber auch das Thema verlangte nach dem Studio, obwohl es auch einzelne Szenen gibt, die draussen gedreht wurden, Nachtszenen vor allem. Es machte auch keinen Sinn, teuer Strassen zu blockieren, wenn man das alles im Studio, im Rosenhof oder im Bellerive, haben konnte. Der grosse Vorteil des Studios war – das wird auch Emil Berna gesagt haben –, dass man das Licht kontrollieren kann. Man kann genau die Effekte in der Ästhetik der Zeit erzielen, die man auf der Leinwand haben will. Und das sieht man eben in Wilder Urlaub. Bestimmte, ziemlich komplizierte Kameraschwenks, Licht- und Schatteneffekte, die man draussen nie haben könnte. Genau diese Effekte wollten sie. Deshalb entspricht die Ästhetik eben auch sehr frappant bestimmten Films noirs der Zeit aus Hollywood – von Siodmak etwa.

FILMBULLETIN Unterscheidet sich der Film stilistisch von den gängigen Schweizer Produktionen dieser Zeit?

HERVÉ DUMONT In diesem Sinne schon. Das liegt eben an der ganz bewussten Annäherung an den Film noir. Wilder Urlaub ist an sich eben ein Kamerafilm, die Rolle der Beleuchtung und der Kamera sind sehr wichtig. Franz Schnyder wollte damit experimentieren, das sieht man bestimmten Szenen ganz genau an. Das war aber ausserhalb des Studios ausgeschlossen.

FILMBULLETIN Der doppelte Matthias und seine Töchter, der im selben Zeitraum entstand, wurde weitgehend draussen gedreht.

HERVÉ DUMONT Der wurde draussen, vor allem in Oberiberg (Schwyz) gedreht. Das Thema verlangte es auch da: man dreht doch keinen Bauernfilm im Studio. Aber warum soll man einen Film wie Wilder Urlaub, der nur in Mansarden spielt, draussen drehen?

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(Bild: Wilder Urlaub)

FILMBULLETIN War es für diese Zeit nicht eher ungewöhnlich, draussen zu drehen?

HERVÉ DUMONT Nein, das würde ich nicht sagen, jedenfalls nicht in der Schweiz. Es war erstens viel billiger, und das Thema, wie etwa bei Romeo und Julia auf dem Dorfe von Hans Trommer, verlangte es einfach automatisch. Die paar Studioszenen, die sie in Der doppelte Matthias und seine Töchter gemacht haben, spielen natürlich innerhalb des Bauernhauses. Sie wurden übrigens im Studio der Frobenius in Basel-Münchenstein gedreht. Mit einer Arriflex-Kamera, also stumm. Alle Dialoge wurden nachsynchronisiert. Es wäre auch ökonomisch völlig irreal gewesen, da mehr im Studio zu drehen. Dazu hatte der Produzent, Stefan Markus, auch nie die Mittel, obwohl er der grosse Rivale von Lazar Wechsler war, und in der Schweiz damals sicher der gefährlichste.

FILMBULLETIN Auch Stefan Markus hat einen Ausländer gewissermassen hinter beziehungsweise vor den Regisseur gestellt.

HERVÉ DUMONT Ja, natürlich, was man ja versteht. Sigfrit Steiner war wirklich ein Anfänger. Er war Schauspieler, hatte von Filmtechnik keine grosse Ahnung, war es aber als Theatermann eben doch gewohnt, Schauspieler zu führen. Logischerweise hat er also die Schauspieler geführt, und der mysteriöse Emile Edwin Reinert – mysteriös einfach deshalb, weil er international sehr viel gedreht hat und eine bizarre internationale Karriere hatte – hat dann als Filmmensch hinter Steiner gesagt: die Schauspieler können nicht von rechts nach links in die Szene hineinkommen, wenn in der anderen Szene, je nachdem wie man schneidet, die Achse nicht stimmt. Das sind Dinge, die man eben lernen muss.

FILMBULLETIN Für das Drehbuch wurde auch Ernst Iros angeworben.

HERVÉ DUMONT Das war normal. Das haben alle gemacht, alle suchten sie verzweifelt Leute, die etwas von Film verstanden. Die haben sich ja anfänglich oft da reingeworfen, weil sie glaubten, sie könnten einfach leicht Geld machen. Leicht und schnell. Das ist so das Klischee vom Filmemachen. Dann haben sie sehr schnell gemerkt: Achtung, das ist ein Beruf.

Das grosse «Glück» der Schweiz war damals eben, dass viele Leute in die Schweiz geflohen waren, die ausserhalb der Grenzen nicht mehr arbeiten konnten und in der Schweiz halt mehr oder weniger schwarz arbeiteten. Das hat sich schnell im ganzen Film- und Theatermilieu herumgesprochen. Viele Emigranten haben überlebt, indem sie Theater, auch Kabarett, Radio machten, und wer auch immer irgendwie einmal an einem Film mitgearbeitet hatte, den hat man sofort angefragt. Man war sehr gierig auf ihr Wissen, und gleichzeitig durfte man es offiziell nicht zugeben. Aber das war ganz elementar. Es gab ja keine Filmschule, auch die Tontechnik war sehr amateurhaft. Wechsler hatte noch den Vorteil, dass er viel früher angefangen hatte als andere. Er hatte schon anfangs der Dreissiger Jahre ein Studio in Berlin. Also hatte er erstens die Kontakte, und zweitens hatten die Schweizer, die er beschäftigte, Käthe May und andere, schon an verschiedenen Produktionen auch im Ausland gearbeitet – hatten also bereits ein minimales Know-how. Es wurde, wenn man das so sieht, es wurde schon auch irgendwie gebastelt. Ein Wunder, dass da etwas rausgekommen ist – aber das ist im Kino ja sehr oft so.

FILMBULLETIN Das Studio wurde von der Praesens betrieben.

HERVÉ DUMONT Ja, der grosse Coup von Wechsler war, dass er gleichzeitig noch sein eigenes Studio hatte.

FILMBULLETIN Wie muss man sich ein solches Studio damals vorstellen?

HERVÉ DUMONT Auf jeden Fall nicht sehr gross, eine Etage. Eigentlich nicht sehr verschieden von einem Theater, von dem, was in einer Theaterszene passiert. Im Filmstudio haben auch Theaterleute gearbeitet, vor allem die Techniker des Schauspielhauses, auch die Kostüme und die Requisiten kamen sehr oft vom Theater. Es gab da keinen richtigen Fundus für den Film. Es war ein allgemeiner Austausch.

FILMBULLETIN Franz Schnyder hat später, 1958, eine Scheune als Studio genutzt.

HERVÉ DUMONT Ja, die war gross, 150 auf 50 Meter, die hab ich in Alchenflüh bei Kirchberg (Bern) noch besucht. Es war ein Wahnsinn, dass er das gemacht hat. Mut hatte er schon, irgendwie. Es ist ihm auch eine Zeitlang gelungen, erfolgreich zu arbeiten.

FILMBULLETIN Waren die Studios von Praesens kleiner oder grösser als die Scheune von Schnyder?

HERVÉ DUMONT Die waren viel kleiner. Das war relativ primitiv. Gleichzeitig war ein Studio unbedingt notwendig wegen der relativ primitiven Tonapparatur. Tonaufnahmen konnte man fast nicht draussen machen. Eigentlich musste im Studio gedreht werden, wenn man keine Nachsynchronisation machen wollte.

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(Bild: Dreharbeiten zu Der doppelte Matthias und seine Töchter)

FILMBULLETIN Der Stab von Der doppelte Matthias und seine Töchter...

HERVÉ DUMONT É das Interessante an Der doppelte Matthias und seine Töchter ist tatsächlich weniger der Film an sich als die ganzen Mitarbeiter, die da zusammengekommen sind. Es war eine sehr bunte Gesellschaft. Die kamen wirklich aus allen Ecken und haben sich an diesem Roman von Meinrad Lienert versucht. Wenn man den Cast und den Vorspann ansieht, dann ist das geradezu beeindruckend.

FILMBULLETIN Der Kameramann Marc Bujard hatte bereits mit Abel Gance gedreht.

HERVÉ DUMONT Marc Bujard war so etwas wie der Emil Berna von Produzent Stefan Markus. Markus hatte bis 1938 auch ein Produktionshaus in Paris, daher hatte er ganz gute Kontakte, und die Schweizer in Frankreich, die kannte er alle sehr gut. Als Bujard, ein Neuenburger, gegen Ende des Krieges in die Schweiz zurückkehrte, wusste er, dass er bei Markus, sofern es diesem gelänge, seine Produktionsfirma wieder auferstehen zu lassen, sicher einen Job finden würde. Nach dem Krieg ging Bujard dann wieder zurück nach Frankreich.

FILMBULLETIN Hat sich dieses Team auf die Qualität des Films ausgewirkt?

HERVÉ DUMONT Nein, weil der Film an sich keinen grossen Erfolg hatte. Der Film ist ja total vergessen. Stefan Markus hat zwei Jahre später Konkurs gemacht, er konnte einfach nicht mehr weitermachen. Aber die meisten Schweizer Produzenten, mit Ausnahme von Wechsler, haben mit dem Ende des Krieges Konkurs gemacht.

Der doppelte Matthias und seine Töchter ist saubere Handarbeit, professionell durchaus korrekt. Er lässt sich sehen, ist besser gemacht als die Mehrzahl der Schweizer Filme dieser Zeit, die amateurhaften Fredy-Scheim-Komödien etwa und der ganze Mist. Es ist aber schwer zu sagen und nachzuvollziehen, inwiefern Leute mit einem Talent wie Bujard wirklich das machen konnten, was sie machen wollten. Zwischen einem Regisseur wie Steiner, der eigentlich von Filmtechnik und Filmsprache nicht sehr viel verstand, einem offizösen Regisseur wie Reinert, der ein guter Handwerker ist, aber sicher kein Genie – sonst wüsste man es –, und den einheimischen Technikern, die eigentlich auch nicht sehr originell waren: was kann man da viel machen? Die Geschichte wurde sauber verfilmt, die Schauspieler – es waren ja eigentlich alles Theaterschauspieler, manchmal sogar Laien – waren korrekt. Man hat sicherlich versucht, aus dem Material das Beste zu machen.

FILMBULLETIN Bei beiden Filmen wurde die Beleuchtung von Albert Bolliger gemacht. Also gab es auch den Wechsel von einer Produktionsfirma zur anderen.

HERVÉ DUMONT Natürlich. Die Praesens hatte nur eine begrenzte Zahl von Leuten mit einem Jahresvertrag unter Kontrakt. Die andern Filmtechniker nahmen jede Gelegenheit wahr, um irgendwie zu arbeiten. So viele Chancen und Möglichkeiten gab es nicht. Bolliger sieht man im Vorspann von allen möglichen Filmen, der war in den Jahren 1940, 41, 42, als die Produktion in der Schweiz noch ziemlich stark war, immer beschäftigt. Da nahm man eben immer die zwei, drei Leute, die es gab im Land.

FILMBULLETIN Bruno Müller oder Fritz Obitsch beim Ton.

HERVÉ DUMONT Es waren immer wieder die gleichen. Bruno Müller habe ich noch gekannt. Das waren lustige Kerls. Gute Techniker, die ihre Arbeit sehr sauber machten.

FILMBULLETIN Die Techniker haben mehr Filme gemacht als die Regisseure, hatten also auch mehr Erfahrung.

HERVÉ DUMONT Das Drama ist eben, dass die Regisseure selbst nicht zum Drehen kamen. Mit Ausnahme – dann später – eines Franz Schnyder oder eines Kurt Früh.

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(Bild: Franz Schnyder und Lazar Wechsler)

FILMBULLETIN Hermann Haller war auch im Team der Praesens.

HERVÉ DUMONT Haller ist ein Sonderfall. Hermann Haller war eigentlich Schnittmeister, und zwar ein hervorragender – ein ganz grosser. Einer der besten, die es damals in Deutschland gab. Er konnte dann in Deutschland nicht mehr weiterarbeiten, und Wechsler war intelligent genug, ihn heranzuziehen. Er war Cutter bei den meisten Praesens-Filmen, bis er sich dann von der Praesens losgemacht hat. Haller wollte immer Regie führen. Doch man wusste, dazu reichte es nicht. Die wenigen Arbeiten, die er als selbständiger Regisseur gemacht hat, vergisst man lieber. Er war aber auch gut als Co-Regisseur, hat mit Lindtberg etwa bei Füsilier Wipf gearbeitet, und Lindtberg hat mir gesagt, ohne Haller hätte er vieles nicht gelernt. Haller war ja immer dabei, wenn sie in Berlin oder in Wien gedreht haben. Er hatte durchaus die richtige Erfahrung. Er hatte nur leider nicht das Talent zur Regie, hatte auch überhaupt keine Erfahrung mit Schauspielern.

FILMBULLETIN Gibt es für die Vorführung in Locarno und die Wiederherstellung dieser Filme einen speziellen Kredit?

HERVÉ DUMONT Das machen wir dank Memoriav – Wilder Urlaub hat das Schweizer Fernsehen mitfinanziert, welches ja die Rechte für die Praesens-Filme hat. Die Vorführungen in Locarno sind für uns ein Anlass zu zeigen, was wir gerade machen, und eine Gelegenheit zu zeigen, dass wir aktiv bleiben. Ich kann übrigens überhaupt nicht genug raten, auch einen Blick auf unsere Website zu werfen. Sie ist ganz neu, seit drei Wochen aktiv und wird jetzt auf Deutsch übersetzt, aber das wird vor Weihnachten nicht fertig sein. Auf dieser Website findet sich zum Beispiel die Liste aller Filme, die wir seit den sechziger Jahren gerettet haben. Natürlich unser Kinoprogramm und die ganze Geschichte der Cinémathèque suisse seit 1948 – alle Departemente werden beschrieben, auch die Restaurationen, was das bedeutet. Da findet man wirklich sehr viele Antworten.

FILMBULLETIN Es werden ja nicht nur Schweizer Filme restauriert, aber für Locarno ist es doch sinnvoll, dass man Schweizer Filme zeigt.

HERVÉ DUMONT Wir restaurieren nur Schweizer Filme. Wir haben nur Geld für Schweizer Filme. Nur mit Hilfe der «Freunde der Cinémathèque» können wir gelegentlich Kopien im Ausland kaufen.

FILMBULLETIN Für Kopien von Meisterwerken, die bei Euch verfallen, gibt es kein Geld?

HERVÉ DUMONT Dafür bekommen wir keinen Franken. Wir arbeiten aber natürlich mit den Kinematheken anderer Länder zusammen (auch da findet sich im Web eine «Liste des films nitrates de la collection de la Cinémathèque suisse sauvegardé par d’autres cinémathèques»). Wenn wir ein Unikat haben, ein Weltunikat etwa aus der französischen Produktion, dann rufen wir bei unsern Kollegen in Frankreich an und fragen: Habt ihr das? Interessiert euch das? Sie holen unser Material, retten den Film, geben uns das Nitratmaterial zurück plus eine neue Kopie. Damit ist der Film gerettet – und wir haben eine neue Kopie davon.

FILMBULLETIN Dieser Austausch funktioniert zwischenzeitlich sehr gut?

HERVÉ DUMONT Ja, sehr intensiv. Sonst wäre es ja ein Drama. Wir haben übrigens eben kürzlich den jugoslawischen Film Der Schatzgräber von Blagay (Kopac blaga od blagaja, 1919) von Robert Michel bei uns gefunden, den es nirgendwo mehr gab. In Belgrad hatten sie auch keinen Rappen für die Rettung des Materials und haben die Schweizer Botschaft angefragt. Das Bundesamt für auswärtige Angelegenheiten hat das Geld aufgebracht, das die Restaurierung des Films durch uns ermöglichte. Ein Geschenk der Schweiz an Belgrad.

FILMBULLETIN Gibt es da sogar eine Verpflichtung, nur schweizerische Filme zu restaurieren?

HERVÉ DUMONT Das ist ganz einfach. Memoriav – die Gesellschaft, die das Geld des Bundes betreut und weiterverteilt – macht das nur für audiovisuelle Produkte der Schweiz, und sonst kriegen wir keinen Franken. Das Geld, das wir vom Bund für die Cinémathèque bekommen, geht für die Löhne weg und die Archivierung. Und selbst da müssen wir uns zu einem Drittel selbst finanzieren, sind dann für die Sammlung der Kino-Apparate, für Informatik, für Messapparate, Labor, Verbrauchsmaterial abhängig von der Loterie romande oder anderen Stiftungen. Die Subventionen allein genügen nicht.

FILMBULLETIN Die Restaurierung wird also aus Memoriav-Geldern bestritten. Wird sie auch von Memoriav bestimmt?

HERVÉ DUMONT Wir schlagen vor. Wir kennen die Dossiers, wir kennen die Filme. Wir wissen, wann es für einen Film dringend wird. Wir können allerdings im Maximum jedes Jahr nur drei bis vier Langspielfilme umkopieren und retten – sowie zwischen zehn und zwanzig kürzere Sachen.

FILMBULLETIN Was gibt es für Gründe, dass man sich Der doppelte Matthias und seine Töchter anschauen soll und muss?

HERVÉ DUMONT Das ist eine gute Frage. Abgesehen vom Kuriosum an sich würde ich sagen: Es ist eine Schweizer Komödie, und so viele gab es damals gar nicht. Es ist eine Komödie, die sich um Männer und Frauen dreht, in der die Frauen doch ziemlich stark sind, was ja auch nicht evident ist, bei der schweizerischen Frauenfeindlichkeit von anno dazumal. Eigentlich ist es eine Variante von Seven Brides for Seven Brothers, dem Musical von Stanley Donen. Es ist ein bisschen die gleiche Geschichte, aber eben mit schweizerischem Charakter: Frauen, die einen Mann wollen. Der Film ist auch interessant, um einige Schauspieler der Zeit wiederzuentdecken. Und eben auch als historisches Objekt, als Kuriosum, als ein Konglomerat von Mitarbeitern von zum Teil sehr sehr verschiedenen Talenten – von der Produktionsseite her ist Der doppelte Matthias und seine Töchter eigentlich ein richtiges Patchwork, das sehr repräsentativ dafür ist, wie der Schweizer Film damals funktionieren musste.

Das Gespräch mit Hervé Dumont führte Walt R. Vian

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(Titelbild: Dreharbeiten zu Wilder Urlaub; Letztes Bild: Dreharbeiten zu Geld und Geist)

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2004 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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