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The Wild Pear Tree

Sinan möchte Dichter werden. Doch die Welt hat nicht auf ihn gewartet. Gekonnt verschränkt Nuri Bilge Ceylan den Bildungsroman des 19. mit der Ästhetik des 21. Jahrhunderts.

Text: Patrick Straumann / 18. Feb. 2019

Darf, kann der zeitgenössische Film auf das 19. Jahrhundert zurückgreifen? [art:winter-wleep-kis-uykusu:Winter Sleep], die letzte Produktion von Nuri Bilge Ceylan, baute auf drei Novellen von Tschechow und machte Anleihen bei Dostojewski, um seinem von Nostalgie und Fernweh geprägten Stoff seine soziale Schärfe zu verleihen. The Wild Pear Tree scheint der türkische Regisseur zwischen Balzacs «Verlorene Illusionen» und «Die Schule der Empfindsamkeit» von Flaubert anzusiedeln: Sinan, ein angehender Lehrer, der nach dem absolvierten Studium in seine Geburtsstadt in den Dardanellen zurückkehrt, hat künstlerische Ambitionen und versucht, sein Manuskript (eine «Träumerei über den lokalen Lebensstil», wie er sein Prosaprojekt definiert) im Selbstverlag herauszugeben. Ceylan inszeniert in über drei Stunden Sinans artistisches Scheitern und seine langsame Heimkehr. Das Drehbuch überrascht kaum mit Wendungen und ist in erster Linie von ausufernden Dialogen getragen, und doch erweist sich jede Szene als unabdinglich in der Skizzierung der inneren Dramen, die der Protagonist und seine Familie durchlaufen.

Da sind zunächst Sinans missglückte Versuche, sein Buch vom Bürgermeister und später von einem lokalen Industriebaron finanzieren zu lassen, gefolgt von jenen Momenten, in denen seine emotionalen Wunden wieder aufbrechen werden: So etwa seine Begegnung mit Hatice, einer einstigen Schulhofliebe, die nun das Kopftuch trägt und sich anschickt, den Sohn eines reichen Schmuckhändlers zu heiraten. Das zufällige Treffen mit ihr am Rand einer Nussbaumplantage weckt alsbald eine leise erotische Spannung, die allerdings ein brüskes Ende findet, als sich Hatices Kuss in einen Biss verwandelt. Später, als Sinan zusammen mit einem anderen sitzengelassenen Verehrer der jungen Frau einen Ausflug ans Flussufer unternimmt, mündet die Konkurrenz in einen Faustkampf – die Stigmata seiner ehemaligen Leidenschaft wird Sinan in der Folge noch wochenlang im Gesicht tragen.

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Halt beziehungsweise Unterstützung findet der junge Mann auch nicht im Familienleben. Sein Vater Idris hat eine Stelle als Lehrer, verliert jedoch stets sein gesamtes Gehalt beim Glücksspiel und zieht sich vermehrt aufs Land zurück, wo er auf einem trockenen, der Familie gehörenden Landstrich einen Brunnenschacht ausheben will. Bald muss Sinans Mutter die Wohnung trotz ihres Nebenauskommens als Babysitterin mit Kerzen erhellen und die Esswaren im Kühlschrank der Nachbarin unterbringen. Dass die Zukunft verbaut ist, zeigt sich auch in Sinans Telefongespräch mit einem ehemaligen Kommilitonen, der sich mangels Alternativen als Polizist verdingt hat und nun im Osten des Landes «Linksradikale verprügelt». Je länger Sinan seinen Vater beobachtet, desto unüberbrückbarer erscheint ihm die Distanz zwischen ihrer jeweiligen Lebenshaltung: Während der Sohn seine Individualität notfalls mit seinem provokanten Auftreten behaupten will, verteidigt Idris den «inneren Rückzug» als Lebensperspektive und setzt auf die Akzeptanz der «schlechten Erinnerungen», um sich mit seiner gescheiterten Existenz zu versöhnen.

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Es ist der Stillstand, in dem die Provinz verharrt, der der künstlerischen Ambition des Protagonisten eine narzisstische Färbung verleiht. Sprechend ist in dieser Hinsicht der Streit, den Sinan in einer Buchhandlung mit einem lokal etablierten Schriftsteller vom Zaun bricht. Die Konfrontation der beiden Männer, die in offener Feindseligkeit endet, wird zur Schlüsselszene, da sie nicht nur Sinans Psychologie freilegt, sondern auch die Fallhöhe vorgibt, die vom Script in der Folge durchmessen wird: Nachdem sich sein Prosawerk als Ladenhüter erwiesen hat und der Rausch des artistischen Traums verflogen ist, wird er sich nach und nach den Realitäten beugen und mit seiner Annäherung an Gesellschaft, Familie und Religion den Weg zu jenen Institutionen suchen, denen er von jeher entfliehen wollte.

Entscheidende Impulse in dieser Evolution kommen den ausschweifenden Gesprächen zu, die den Zeitfluss aufzuhalten und sich – Sinans lange Minuten dauernder Rundgang mit zwei Imamen illustriert dies – in der Landschaft nachgerade sedimentieren. Wobei das Feintuning in dieser Chronik hier der Kamera zukommt: Die phänomenale Tiefenschärfe (Ceylan, ein gelernter Fotograf, dreht seit Climates mit digitaler Kamera) gepaart mit einem einzigartigen Sinn für die Kadrage ermöglicht es der Inszenierung, die Psychologie stets in eine Relation zum (gesellschafts)politischen Befund zu setzen. Bei Sinans Bittgang zum Besitzer einer Sandfabrik zeichnet sich etwa hinter seinem Rücken ein monumentaler Steinbruch ab, und das Fenster seines Zimmers lenkt den Blick aus der elterlichen Wohnung auf die Aussenquartiere seiner Geburtsstadt.

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Eine markante Beschleunigung erfährt die Erzählung durch die surrealen, traumartigen Szenen, die den Film aus seinem naturalistischen Fundament herauslösen und den Fokus vermehrt auf die Vater-Sohn-Beziehung richten. Zwei Einstellungen, die auf einen möglichen väterlichen Suizid beziehungsweise Tod anspielen, genügen, um zu verdeutlichen, dass der Sohn die Flüchtigkeit des Lebens begreift. Es ist vermutlich diese Erfahrung, die seine Einsicht forciert: In kurzen, prägnanten Bildern, die der kontemplative Rhythmus der vorangehenden Handlung umso effektvoller erscheinen lässt, resümiert Ceylan in der Folge Sinans monatelangen Militärdienst in Anatolien, um ihn nach seiner Rückkehr gewissermassen geläutert zu zeigen. Den federleichten Optimismus des Vaters wird er nun nicht mehr als Mangel an Verantwortung interpretieren, sondern vielmehr als eine grundsätzliche, die Widrigkeiten des Daseins abfedernde Haltung wertschätzen lernen.

Eine klassische Illustration des Bildungs­romans also? Drohnenaufnahmen, die Sinans Busreise in den Heimatort von oben zeigen, und stets wieder­kehrende erste Takte von Bachs «Passaca­glia» als einziges musikalisches Motiv: In ihrem so spärlichen wie reflexiven Einsatz der Gestaltungsmittel verweist Ceylan auch auf den profunden Bruch zwischen Figur und Umwelt, wie er vor allem seit der Moderne zum thematischen Topos geworden ist. «Das Denken steht keiner erfassbaren Aussenwelt mehr gegenüber», schrieb der Philosoph Emmanuel Lévinas bereits 1947, «das Äussere – falls man bei diesem Begriff bleibt – ist ohne Korrelation mit dem Inneren.» Die Arabesken, die Sinan mit seinen Gängen durch die Landschaft beschreibt, lassen sich unter diesem Blickwinkel unschwer auch als Versuch lesen, einen Platz in der Welt zu finden. Dass er diesen schliesslich in unmittelbarer Nähe seines Vaters findet, ist nicht nur auf die patriarchalische Tradition seiner Heimat zurückzuführen, das Schlussbild zeugt auch (und vielleicht vor allem) von Bilge Ceylans genuinem Gefühl für die Gegenwart, der die Dardanellen hier eine ideale Bühne bieten.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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