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Wir und die Anderen

Zwei so unterschiedliche Filme wie Yomeddine von A. B. Shawky und Border von Ali Abassi stellen überraschend ähnliche Fragen: nach Identitäten und den Umgang mit Minderheiten. Folge 2 unseres Blogs aus Cannes 2018

Text: Tereza Fischer / 11. Mai 2018

Einiges ist dieses Jahr anders in Cannes: Positiv zu vermerken sind zum Beispiel die kürzeren Warteschlangen vor den Kinosälen, weil zusätzliche Vorführungen stattfinden. Auch die Kontrollen vor den Kinos sind heuer nicht mehr ganz so streng, sodass ich dieses Jahr meine Sonnencrème mit in den Saal nehmen darf. Was allerdings viele Tagespressejournalist_innen ärgert und ihnen das Leben schwer macht, ist die Tatsache, dass Premieren neu vor den Pressevorführungen oder gleichzeitig stattfinden. Das ist in Zeiten, in denen die Twitter-Guillotine bereits während des Abspanns fallen kann, einigermassen verständlich. In einer Erklärungsemail an die Presse nannten es die Festivalverantwortlichen «confetti-like strips of rumors», die sich jeweils nach der Pressevorführung eines Films ausbreiten und vor denen sie die Filmschaffenden auf dem roten Teppich schützen wollen; jedenfalls wenn es sich um negative "rumors" handelt. Die Premieren sollen jungfräulich sein.

Auch bei der Auswahl der Wettbewerbsfilme hat sich etwas bewegt: Zwar haben es auch dieses Jahr nur drei Filme von Frauen in den Wettbewerb geschafft, gleichzeitig sind erfreulich viele eher unbekannte Filmemacher_innen vertreten, sodass es spannend zu werden verspricht.

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Der einzige Erstlingsfilm im Wettbewerb lief schon früh. Yomeddine stammt vom jungen ägyptischen Regisseur A. B. Shawky und ist ein tragikomisches Roadmovie. Es handelt von Menschen am Rande der ägyptischen Gesellschaft. Beshay ist zwar von Lepra geheilt, durch die Krankheit aber stark entstellt. Schon als kleiner Junge ist er von seinem Vater in der Leprakolonie im Norden Ägyptens abgegeben und ist nie mehr abgeholt worden. So lebt Beshay ein mehr oder weniger normales, aber auch ärmliches Leben unter seinesgleichen. Trotz seiner vierzig Jahre hat er immer noch die Grösse eines kleinen Jungen und ist damit beinahe gleich gross wie sein zehnjähriger Freund Obama. Dieser lebt in einem nahen Waisenhaus und hilft Beshay gerne, auf der Müllhalde nach Verwert- und Verkaufbarem zu suchen. Als aber Beshays Frau stirbt, wird ihm bewusst, dass er eigentlich gar nicht alleine auf der Welt ist, sondern im Süden des Landes eine Familie hat. Und so beschliesst er, seinen Vater im fernen Qena zu suchen. Den langen Weg nimmt er mit seinem gesamten bescheidenen Hab und Gut, einem Esel und einem Karren in Angriff. Obama, der im Waisenhaus unglücklich ist, will ihn nicht verlieren und schliesst sich ihm an.

Dieser schönen Freundschaft zwischen zwei einsamen Menschen steht das Unglück entgegen, das die beiden auf der Reise verfolgt. Erst als Beshay wirklich alles verloren hat, erlebt er Solidarität und findet schliesslich seine Familie. Am Ende können Obama und Beshay wählen, ob sie in der neu gefundenen Familie oder in der Kolonie leben wollen …

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Die Hauptfigur zeichnet A. B. Shawky durchwegs als gut und liebenswert, sodass man ihn sofort ins Herz schliessen muss. So hat das Unrecht, dass ihm widerfährt, leider auch eine etwas platte emotionalisierende Wirkung, die der Filmemacher manchmal noch allzu aufdringlich mit Musik forciert. Was dieses einfach konstruierte Roadmovie dennoch sehenswert macht, ist in erster Linie die Schauspielleistung der beiden Laiendarsteller Rady Gamal und Ahmed Abdelhafiz. Beide sind im Leben das, was sie hier spielen: ein Bewohner einer grossen Leprakolonie und ein Waisenkind. Zum anderen schafft es der Filmemacher, dem Thema mittels Humor und witzigen Seitenhieben auf die ägyptische Bürokratie die Schwere zu nehmen.

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Die Suche nach den eigenen Wurzeln, nach Zugehörigkeit und damit nach Identität steht also genauso im Zentrum von Yomeddine wie die Ausgrenzung durch die Gesellschaft, die das Fremde verdrängt. Um ähnliche Themen geht es auch in einem ganz anders gearteten Film: Gräns (Border) von Ali Abassi läuft in der Sektion «Un certain regard». Die «Freaks» hier sehen mit ihren Neanderthaler-Gesichtszügen unheimlich aus, leben jedoch mitten in der schwedischen Gesellschaft. Tina führt ein fast normales Leben mit einem Freund im Häuschen im Wald, einem Vater im Altersheim und einem soliden Job am Zoll. Die Arbeit ist dabei befriedigender als die private Beziehung. Sie sieht aber nicht nur ungewöhnlich aus, sie besitzt auch die besondere Gabe, Gefühle wie Schuld, Scham und Wut an den Menschen riechen zu können. So überführt sie Schmuggler und wird auch von der Polizei um Hilfe bei den Ermittlungen gegen einen Pädophilenring gebeten. Erst als der ihr ähnlich aussehende Vore durch den Zoll geht, verliert sie ihre Sicherheit. Sie kann etwas an ihm riechen, weiss aber nicht was. Gleichzeitig ist sie von ihm fasziniert und fühlt sich zu ihm hingezogen. Und Vore hat eine Überraschung bereit, was die Identität der beiden angeht.

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Was das gemeinsame Geheimnis ist, soll hier nicht verraten werden, denn die Auflösung dieses Mystery-Elements bereitet viel Vergnügen. Die Journalist_innen in Cannes nennen Border seit gestern allerdings nicht mehr bei seinem Namen, sondern sprechen vom «XY-Film», wobei XY hier für eben die geheimnisvolle Wesensart steht, der die beiden Hauptfiguren angehören. Ob das bereits ein Spoiler ist?

Ali Abassi, der als Iraner in Schweden lebt, hält mit Gräns der schwedischen Gesellschaft einen Spiegel vor. Die Fragen nach dem Umgang mit Minderheiten, nach menschlichen Abgründen und der Suche nach der eigenen Identität verpackt Abassi in einen spannenden und überraschenden Film. Die Elemente des magischen Realismus teilt dieser mit Tomas Alfredsons [art:let-right-one:Let the Right One In] (Låt den rätte komma in), jene fantastische Liebes- und Coming-of-Age-Geschichte von einem Jungen und seiner Vampir-Nachbarin. Die Vorlage für Gräns stammt von John Ajvide Lindqvist, der auch das Drehbuch des Films geschrieben hat.

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