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Day is done 01

Wo die Kamera war, soll Ich werden (Day Is Done)

In Thomas Imbachs Day Is Done (2012) ist die Kamera subjektiv, ohne die Wahrnehmung einer Figur zu imitieren. Sie ist ein neuartiges
Kamerasubjekt.

Text: Johannes Binotto / 01. Nov. 2016

Apparate ermöglichen Wahrnehmungen, die man gar nicht haben kann. Darin besteht ihr Vorteil. Das macht sie uns aber auch unheimlich. Wir kommen uns selbst abhanden, wenn wir durch die Vorrichtungen an den Geräten schauen und hören. Wenn Freud in «Das Unbehagen in der Kultur» die Maschine als Verlängerung unserer Muskeln, die Brille als Korrektur des Auges und das Telefon als Ausweitung des Ohrs beschreibt, macht er offensichtlich den Fehler, Technologie auf den Massstab des Menschen zurückzuführen. Was ist aber, wenn die eigentliche Leistung der Apparate gar nie darin bestanden hat, unsere bereits vorhandenen Fähigkeiten zu perfektionieren, sondern vielmehr darin, uns durch Technik zu ergänzen, und das hiesse auch: zu überschreiten? «Die Technik ist das Ungedachte», heisst es bei Bernard Stiegler. Wir haben noch immer nicht begriffen, was sie mit uns tut. Die technischen Prothesen «machen dem Menschen gelegentlich noch viel zu schaffen», schreibt denn auch Freud ahnungsvoll. Die Apparate in ihrem Eigensinn fügen sich nicht einfach nahtlos in unsere Existenz, sondern bringen diese laufend aus dem Tritt. Genau dasselbe sagt die Psychoanalyse bekanntlich auch vom Unbewussten, in dem wir ebenfalls nie Herr im Haus sind, das vielmehr die Vorgänge unseres Bewusstseins unentwegt durchkreuzt, sie zum Stottern und Stocken bringt.

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In Thomas Imbachs Day Is Done kommt den technischen Geräten jene Funktion zu, die Freud auch dem Wunderblock des Unbewussten zuerkennt, nämlich all das dauerhaft zu speichern, wovon das Subjekt gar nichts wissen will. Als Zuschauer hören wir dank der Mitteilungen auf dem Telefonbeantworter, wie das Privatleben von T., jenem bis zum Schluss gesichtslos bleibenden Protagonisten des Films, aus den Fugen gerät. Die Nachrichten erweisen sich als traumatische Durcharbeitung.

William S. Burroughs hat in «The Ticket that Exploded» beschrieben, wie sich im Hantieren mit Tonbandgeräten das Unbewusste externalisieren lässt – «Spielen Sie einen Satz rückwärts ab und lernen Sie das, was Sie eben gesagt haben, ungesagt zu machen … Übungen dieser Art befreien Sie von alten Assoziationssperren.» Etwas Ähnliches scheint der Telefonbeantworter mit T. zu machen, nämlich das, wozu man sonst einen Psychoanalytiker braucht: einem zurückspielen, wer man eigentlich ist.

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Das Filmbild zeigt uns derweil die Aussicht auf den Zürcher Güterbahnhof im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten und der Wetterlagen. Manipulationen der Optik vermitteln den Eindruck, es stehe jener T., an den sich all die Nachrichten auf dem Band vergeblich richten, als Operateur hinter der Kamera. Schwenks und Zooms lassen spüren, dass da tatsächlich einer ist, der am Objektiv dreht und offenbar nicht gewillt ist, den Hörer abzunehmen. Das macht die Situation, wie sie der Film inszeniert, so paradox: Es scheint, als sei T. nur deshalb zu Hause, um sicherzugehen, dass auf dem Anrufbeantworter Nachrichten eintrudeln. Denn etwas zu hören gibt es nur dann, wenn der, an den die Mitteilungen gerichtet sind, nicht direkt antwortet, sondern die Nachrichten vom Gerät speichern lässt. Normalerweise interpretieren wir das Aufnahmegerät als Stellvertreter des menschlichen Ohrs, hier scheint es gerade umgekehrt: Der Mensch ist dazu da, damit das Tonband etwas aufnehmen kann. Nicht die Maschine ist seine Prothese, sondern der Mensch die Prothese der Maschine.

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Dass hier tatsächlich die Apparate die Hauptrolle übernehmen, macht paradoxerweise jene Szene klar, in der die Anwesenheit des Mannes hinter der Kamera am deutlichsten signalisiert wird: Vor dem Fenster T.s ist ein Brand ausgebrochen. Während der Qualm die Sicht vernebelt, greift schemenhaft ein Arm ins Bild und schliesst das Fenster. Aus dem Hintergrund sind für einmal nicht die konservierten Stimmen der Anrufer zu hören, sondern das Husten und Keuchen desjenigen, der zu lange im erstickenden Rauch gestanden hat. Während es bis auf einige dumpfe Geräusche für einen Moment still geworden ist, sehen wir draussen die Feuerwehr vorfahren, dann hören wir sich nähernde Schritte. Und wieder greift der Arm ins Bild, um das Fenster wieder aufzustossen. Diese Aktion ist in all ihrer Einfachheit hochgradig paradox. So vehement sich hier der Mensch hinter der Kamera bemerkbar macht, so sehr wird er in eben diesem Moment negiert. Denn wer würde das Fenster aufstossen, wenn er dabei doch sogleich riskieren müsste, keine Luft zu kriegen? Der Mann hinter der Kamera greift ein, aber ausgerechnet, um eine Situation zu schaffen, die er nicht aushalten kann. Die Kamera jedoch braucht den Erstickungstod nicht zu fürchten, sie hat den Sauerstoff nicht nötig. Sie ist es denn auch, die hier schaut, und nicht der Mensch. Was wir Zuschauer sehen, ist der Blick eines Apparats, der mehr auszuhalten imstande ist als wir.

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«Bis auf den heutigen Tag haben wir die Kamera vergewaltigt und sie gezwungen, die Arbeit unseres Auges zu kopieren. […] Von heute an werden wir die Kamera befreien und werden sie in entgegen­gesetzter Richtung, weit entfernt vom Kopieren arbeiten lassen. Alle Schwächen des menschlichen Auges an den Tag bringen! Wir treten ein für Kinoglaz, das im Chaos der Bewegungen die Resultante für die eigene Bewegung aufspürt, wir treten ein für Kinoglaz mit seiner Dimension von Raum und Zeit, wachsen in seiner Kraft und in seinen Möglichkeiten bis zur Selbstbehauptung.» So schreibt Dziga Vertov in seinem Manifest «Kinoki – Umsturz» von 1923. Entgegen der immer noch zuweilen kolportierten Vorstellung, die Kamera sei eine Verlängerung des Auges, positioniert Vertov den Kamerablick gerade als im Gegensatz stehend zu unserem Blick. Die Kamera zeigt nicht, was und wie auch wir zu sehen vermögen, sondern blickt ganz und gar anders.

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Day Is Done und insbesondere diese Szene scheint sich ganz diesem Kameraauge zu verschreiben als nicht anthropomorpher, sondern buchstäblich nichtmenschlicher Wahrnehmung. So sind denn auch die Aufnahmen in Day Is Done zwar subjektiv, aber gleichwohl nicht auf die Empfindungen eines Einzelnen zu reduzieren. Vertov konnte seinen legendären Film noch Der Mann mit der Kamera nennen, in Day Is Done sind Apparat und Operateur nicht mehr zu unterscheiden. Die Bilder von Day Is Done zeigen, was T. sieht, nur insofern, als dass wir uns diesen T. nicht mehr als Menschen, sondern als neuartiges Kamerasubjekt vorstellen, als Apparatwesen, das zu schauen versteht, wie es niemand von uns kann. So wie die Zeitrafferaufnahmen in Day Is Done, die die Bewegungen der Sonne und der Wolken zeigen und ganz andere Bilder ermöglichen, als wir sie hätten, wenn wir einfach in den Himmel schauen würden. Das sich selbst behauptende Kamerawesen bewegt sich in seinen ganz eigenen Dimensionen von Raum und Zeit. Wo wir vor Feuer und Rauch zurückschrecken, weil wir sonst verbrennen und ersticken, will das Kamerasubjekt nur noch näher heran.

«Wo Es war, soll Ich werden», schreibt Freud. Er hatte damit scheinbar eine Zähmung des Unbewussten im Sinn. In Day Is Done aber bedeutet dies einzusehen, wie tief das Ich bereits in jenen Techniken verstrickt ist, deren Funktionen ihm gar nicht recht bewusst sind. Die ungedachte Technik als Unbewusstes führt vor, wie das Ich immer schon etwas anderes und woanders ist, als wir meinen. Wo die Technik war, wird Ich werden – in und zwischen menschlichen und maschinellen Akteuren, Geräten und psychischen Systemen, Mündern, Sprechapparaten, Tonbändern, Lautsprechern, Knöpfen, Tasten, Sehvorrichtungen, Kameralinsen und Kinoaugen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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