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Kriminalfilm comic

Fahnder

Die Romandie hat so gut wie keine, höchstens vereinzelte Kriminalromane und ‑filme hervorgebracht, die deutsche Schweiz nicht besonders viele. Dennoch hat sich in der grösseren von den beiden Sprachregionen des Landes eine eigene Tradition herausgebildet, die über ein gutes halbes Jahrhundert hinweg reicht.

Text: Pierre Lachat / 01. Dez. 1988

Die Romandie hat so gut wie keine, höchstens vereinzelte Kriminalromane und -filme hervorgebracht, die deutsche Schweiz nicht besonders viele. Dennoch hat sich in der grösseren von den beiden Sprachregionen des Landes eine eigene Tradition herausgebildet, die über ein gutes halbes Jahrhundert hinweg reicht. Anlass zur Rückschau bietet gerade das laufende Jahr, in dem mehr Kriminalfilme als je in einem andern Jahr der Schweizer Filmgeschichte entstanden sind, während sich auch in der Literatur anhaltend manches bewegt. Autoren wie Claude Cueni und Peter Zeindler sind aktiv, von Fritz Hirzel habe ich kürzlich den bemerkenswerten Erstling «Schindelieqi» gelesen. In die Kinos kam jetzt Zimmer 36 von Markus Fischer, der im vorigen Jahr den glänzenden Der Nachbar herausgebracht hat. Im Fernsehen DRS lief vor kurzem Die Dollarfalle von Thomas Koerfer, Kinopremiere sollen in der laufenden Saison Schneller als das Auge von Niklaus Gessner mit Ben Gazzara als Star und D'Klassezämekunft von Walo Deuber und Peter Stierlin haben. Im Tessin beendet Beat Kuert Lucas mit Margaret Mazzantini und Gabriele Gori in den Hauptrollen, ein Thriller, der auf italienisch gedreht worden ist.

Die Dollarfalle vermag sich schlecht zwischen Parodie und Imitation zu entscheiden, die penetrante Musik vergegenwärtigt es laufend. Wird hier nun eigentlich Hitchcocks Leibkomponist Bernard Herrmann persifliert, oder wird er schamlos ausgebeutet? Eine Antwort müsste, wenn es schon die Tonspur selber nicht tut, wenigstens alles übrige geben können, das dieser FinanzThriller auch noch einschliesst. Doch ist dann eben auch das andere durchweg auf Messers Schneide zwischen Kritik und Humor gehalten, allerdings mit mehr verwirrender als erleuchtender Wirkung. Wie also versteht sich nun der Film, worauf will das viele Zitieren am Ende hinaus – doch sicher nicht auf sich selbst, oder? Auf die Filme von Kuert und Deuber&Stierlin warten wir noch, auf den von Gessner schon verdächtig lange, so dass vorerst Der Nachbar und Zimmer 36 als die beiden Filme übrig bleiben, die am besten für den Neuen Schweizer Kriminalfilm stehen, sofern es überhaupt dergleichen gibt. Urs Eggers Motten im Licht, der 1986 als erster in die fragliche Richtung ging, litt beträchtlich unter der gleichen Schwäche wie die Die Dollarfalle: Wie wollen's nun die Autoren mit der Überlieferung halten; liegt ihnen wirklich etwas an ihr, oder lassen sie sich, wenn überhaupt, nur parodierend, aus zitierender Distanz auf sie ein, um ein bisschen gefälliges und vor allem garantiert fernsehgängiges Kino zu machen, ohne sich gleich dem Verdacht auszusetzen, die letztliche Trivialität der Gattung sei ihnen nicht genügend bewusst? Will ja sicher keiner von sich sagen lassen, er sei darauf hereingefallen.

Fischer zieht mit Zimmer 36 die gleiche Frage auf sich, nachdem er mit dem Nachbarn den Leitfilm der gegenwärtigen Welle gedreht hat. Es musste diesmal, beim zweiten Anlauf, ein ausgewachsener, runder PsychoThriller in Schwarzweiss mit voyeuristischen Effekten und psychoanalytischen Motiven ganz nach der Art Hitchcocks sein. Wobei sich Fischer von allen noch am ehesten der prägenden und leitenden Kraft der Tradition überantwortet und fast auf «echt» macht. Trotzdem fällt Zimmer 36 wieder hinter den Nachbarn zurück, der noch etliches mehr an naiver Direktheit an sich hatte – das heisst, genauer: der das überhaupt erst haben konnte, und zwar deshalb, weil er, im Unterschied zu den andern erwähnten Filmen, auf die schmale Tradition der Deutschschweiz statt auf die breite des westlichen Krimi-Kinos überhaupt zurückgreift.

Matto regiert

(Bild: Matto regiert)

Denn ein Held wie Walz, mag er sich auch in der Hochsprache statt auf Schweizerdeutsch ausdrücken, schliesst den Bogen über die ganze Zeitspanne eines halben Jahrhunderts hinweg. Auf Anhieb ist der ehemalige Fahnder der Stadtpolizei Zürich, von Rolf Hoppe in passender Panik dargestellt, als ein verkommener und gefallener, angsterfüllter Nachfahre jenes archetypischen Wachtmeisters namens Studer zu erkennen, von dem Friedrich Glauser um 1934 zu schreiben begann.

Der Leitroman Glausers, «Wachtmeister Studer», erscheint 1936, unter dem Originaltitel wird er 1939 von Leopold Lindtberg verfilmt. Auch wenn Glauser schon vorher einen ersten Kriminalroman, den exzentrischen «Der Tee der drei alten Damen» geschrieben hatte, so ist es doch Übung, den sogenannten literarischen Kriminalroman der deutschen Schweiz mit dem «Studer anfangen zu lassen, der schon bald Spezialisten wie einem breiteren Publikum gleichermassen zusagte.

Glauser wird heute mehr denn je gelesen und übersetzt. Der schreibende kleinkriminelle Morphinist und vielleicht einzige Kriminalautor der Welt, der aus eigener Erfahrung wusste, was es bedeutet, auch nur mit einem Fuss ausserhalb des Gesetzes zu stehen, hat nicht aufgehört, die Gemüter zu beschäftigen. Er ist heute als der modernste deutschschreibende Autor seiner Generation erkannt, jener Altersgruppe, heisst das, die ihre beste Zeit zwischen den Kriegen hatte, anders also als die ganze grosse Gruppe um Dürrenmatt und Frisch, die dann erst im zweiten Nachkrieg zum Zug kam.

Zusammen mit dem welschen Erzähler Ramuz, dessen vielgerühmter Stil in seiner bewegten Bildha igkeit einen frühen Filmverständigen verriet, war Glauser bezeichnenderweise einer der ersten namhaften Autoren des Landes, die verfilmt wurden. Sozusagen rechtzeitig auf den Beginn der Tonfilmzeit hin begann er sogenannt trivial zu schreiben, Kriminalromane eben, die sich als Stoffe für ein Drehbuch, später auch als solche für Radio und Fernsehen eigneten. Die prominen e Rolle zum Beispiel, die dem Radio – jenen Literaturgeschichte gewordenen «Lautsprechern von Gerzenstein im «Wachtmeister Studer» zukommt, verrät etliches Gespür für das, was die Medien zur anhebenden Eroberung der Landschaft durch die Stadt beitragen werden.

Doch erlebt Glauser die ganze kommende Rückwirkung des Tonfilms auf die Literatur nicht mehr. Schon lange krank, stirbt er 1938 in Nervi bei Genua mit nur 42 Jahren, möglicherweise an einer Überdosis Morphium. Sein Lebenslauf zwischen Dadaismus und sogenanntem Schundroman, zwischen Entziehungskuren und Rückfällen, Einweisungen und einer Zeit bei der Fremdenlegion hat ihn zu einem Rätselfall der Literatur, gleichsam zu einer Detektivaufgabe aus dem wirklichen Leben gemacht. Er wäre zweifellos selber ein denkbarer Held von Roman oder Film. Mir kommt er, der in Wien geborene Bilingue aus schweizerisch-österreichischem Elternhaus, wie ein archetypischer «Fremdschweizer» oder «Schweizer Fremder» vor, der allenthalben vergeblich Verwurzelung und Zugehörigkeit sucht, bald inner-, bald ausserhalb der Landesgrenzen wie der Mauern einer psychiatrischen Anstalt.

Matto regiert 2

(Bild: Matto regiert)

Bezeichnenderweise heisst es sowohl von Glauser wie nachmals von Dürrenmatt, beide neigten dazu, die Welt als Irrenhaus zu zeigen. Bloss würde sich Dürrenmatt natürlich niemals selbst als einen möglichen Insassen betrachten und wäre demnach als Protagonist einer geschriebenen oder gefilmten Erzählung weit weniger geeignet als Glauser. «Matto regiert» heisst jedenfalls, eher überdeutlich, der dritte der insgesamt fünf Studer-Romane, und er spielt im Irrenhaus. Glauser beginnt ihn 1936 zu schreiben, da die Weltpolitik in der Tat von krasser Verrücktheit bestimmt scheint.

Als Lindtberg den «Matte» 1947, acht bewegte Jahre nach dem «Studer», ebenfalls verfilmt, amtet in der Rolle des Fahnders von der Berner Kantonspolizei wieder der wuchtige, bärbeissige Heinrich Gretler. Spätestens diese zweite Verkörperung durch den populären Darsteller verleiht Glausers Helden seinen bleibenden Leinwand-Habitus, nämlich den eines breiten und korpulenten, bedächtigen Mannes in späteren mittleren Jahren mit schwerem Regenmantel und Schlapphut und einer Brissago zwischen den Lippen. Der Blick ist unverwandt und skeptisch, die Rede verknappt, die Diktion brummelig und abrupt, das Schweizerdeutsch derb rumpelnd. Allenfalls duldet das Gehabe eine gewisse Widerrede, doch keinesfalls «Chabis», wie er es mit dem abschliessenden Dialektwort für «Unfug, Blödsinn» gern nennt. Anmassend wirkt er nie, aber oft autoritätsvoll, gelegentlich autoritär.

Glauser liess den Wachtmeister seine liebe Mühe mit Behörde und staatlicher Ordnung haben; der Schöpfer, heisst das, übertrug auf seine Figur einiges von den Erfahrungen, die er mit dem Prinzip der Legitimität gemacht hatte, und seine kritische Sicht sozialer Realitäten obendrein. Auf derlei Gesichtspunkte mögen Lindtbergs Filme kaum Wert legen; sie sind angesichts der Zeitläufte, wie sie Matto lenkt, zu sehr darauf bedacht, den nationalen Zusammenhalt unter Eidgenossen zu unterstreichen. Ihr Studer kann nur ein einfach menschlicher Polizist sein, der individuelle Fälle löst, ohne sich mit weitergehenden Rücksichten aufzuhalten. Davon, dass Glauser ein neurotisch gestörter Aussenseiter war, schlägt recht wenig auf die Filme durch. Dennoch, mit dem grossen Ganzen ihrer jeweiligen Vorlagen verfahren die Filme recht und schlecht originalgetreu.

Mehr schnüffelndes lnstinktwesen als kombinierender lntellektualakrobat, mehr Maigret als Poirot: So spielt Gretler den Fahnder, und seinem Nachfahren, der die Figur dreissig Jahre später noch einmal verkörpern wird, lässt er kaum eine Wahl, als auf mehr oder weniger offensichtliche Weise das Vorbild zu imitieren. Die GlauserVerfilmungen der neueren Zeit setzen 1976 ein und bekunden das ungebrochene, mit den Jahren sogar zunehmende Interesse für den Schriftsteller. Als durchaus ehrenvoll abschneidender Studer tut sich in ihnen, mit Bürstenhaarschnitt, Hans Heinz Moser hervor. Gewollt gibt er den Wachtmeister etwas diskreter, weniger kraftvoll. Helmut Pigge dreht mit ihm zunächst Krock & Co, Kurt Gloor dann, zwei Jahre später, den höchst beachtlichen Der Chinese; ebensolange danach zieht Wolfgang Panzer mit einem unauffälligen zweiten Matto regiert nach, was den in der Schweizer Filmgeschichte raren Fall eines Remakes darstellt. Alle drei Filme orientieren sich im grossen und ganzen an den Lindtbergschen Vorbildern. Als Literaturverfilmungen der gängigen Art versuchen sie das kaum zu tun, was zu tun geraten wäre, nämlich Glauser von Grund auf anders zu lesen, als es die Szenaristen der Dreissiger und Vierziger taten. Einzig Alexander J. Seiler wendet sich dem Schriftsteller in mehr zeitgenössischem Geist zu; unter dem Titel Der Handkuss verfilmt er 1979 die Novelle «Der Schlossherr aus England», die allerdings nicht zu den Kriminalerzählungen Glausers gehört.

Bestand zwar ein Interesse Glausers am Film, so hat er nie für das Kino gearbeitet. Ganz anders Dürrenmatt, der zuvorderst Dramatiker ist und eine eher mässige Lust am Kino mitbringt. «Der Richter und sein Henker» entsteht 1950, «Der Verdacht» gleich im folgenden Jahr, als reine Brotarbeiten, wie der Verfasser immer wieder entschuldigend versichern wird. Doch sind es sicher diese beiden klassischen Kriminalromane – und nicht etwa seine bis dahin entstandenen Bühnenstücke –, die dazu führen, dass er sein erstes Drehbuch schreibt, das natürlich wieder eine Kriminalgeschichte erzählt.

Der handkuss

(Bild: Der Handkuss)

Dürrenmatt verfasst es 1957 für jene selbe Zürcher Praesens-Film, die schon die beiden Glauser-Verfilmungen Lindtbergs, den Studer wie den Matto, produziert hat. Es geschah am hellichten Tag wird von Ladislao Vajda mit den beiden Deutschen Heinz Rühmann und Gert Fröbe und dem Welschen Michel Simon in den Hauptrollen realisiert, denn längst ist die Praesens dazu übergegangen, sogenannte internationale Schweizer Filme herzustellen, die nun häufiger in der Hochsprache und seltener im Dialekt gedreht werden.

Das Drehbuch zu Es geschah am hellichten Tag entwickelt Dürrenmatt aus Eigenem weiter, woraus «Das Versprechen» entsteht. Dieser Roman gesellt sich 1958 als dritter Klassiker seiner Art dem «Richter» und dem «Verdacht» zu. Film und Buch gehen vielsagenderweise verschieden aus; um die Praesens und wohl auch sich selbst nicht allzu ausdrücklich zu desavouieren, erklärt der Autor das «Versprechen» zum «Gegenentwurf». Er greift die Fabel «jenseits des Pädagogischen» noch einmal auf und denkt sie weiter, womit eingestanden ist, dass der Film diesseits desselben verha . ie im lande Pestalozzis gang und gäbe. In der Ta sollte der Film – viel wird's genützt haben – vor gefährlichen Lustmördern warnen.

Stellt auf der Leinwand Rühmann als Kommissar Matthäi den Täter, kommt der Gesuchte im Roman ums Leben, ehe ihn der Fahnder zu ermitteln vermag. «Requiem auf den Kriminalroman» setzt der Verfasser un er den Titel. Mit beinahe abschliessender Deutlichkei . en schiedener als im «Richter» oder im «Verdacht» – in denen allerdings Bärlach, der Fahnder, schon auf den Tod rank war –, gibt Dürrenmatt zu verstehen, dass ihn die Gattung zukunftslos dünkt und höchstens Abgesänge auf ihre vergangene Grösse verdient. «Justiz», ein anuskript aus jenen Jahren, wird folgerichtig zur Sei e gelegt. Doch dreissig Jahre später schreibt es der Au or ertig und gibt es zur Publikation frei. Ganz hat er also doch nie von jenen Zeiten als Kriminalautor Abschied ne men können, um ein «Dichter» zu werden – oder «Düch er», wie Glauser lieber schrieb.

Glauser war darauf aus, helvetische Eigenart zu schildern – und die Studer-Filme taten es ihm nach–, so sehr auch die Figur des Wachtmeisters S uder entlehnt sein mochte. Dürrenmatt verfährt von Anfang an grundsätzlich anders, so sehr er auch bemüht ist, in seine Kriminalromane bernisches und zürcherisches o alkolorit einzumalen. Alles zielt bei ihm auf de Ausbruch aus der Enge der Schweiz, die seine Genera ion so laut beklagt, und seine Kriminalromane verkaufen sich dementsprechend selbst in den USA ausgezeichnet.

Ganz in diesem Sinn gibt sich dann 975 die einzige effektive Verfilmung eines der Kriminalromane, nämlich des «Richters», als weltmarktgängige Produktion; weit mehr noch als Es geschah am hellichten Tag das tat, dessen Absichten auf den deutschen Sprachraum beschränkt blieben. Ein grenzüberschreitender Schweizer, Maximilian Schell, besorg de Regie, die Stars heissen Jan Voight, Jacqeline Bisse und Robert Shaw, den Bärlach mimt ausgefallenerweise Martin Ritt. Dürrenmatt hat als Mitverfasser des Drehbuchs einen eigenen kurzen Auftritt in der Rolle eines Schriftstellers namens Friedrich, was den denkwürdigen Moment des Films hergibt. The Judge and his Hangman entspricht der Vorlage leidlich, das Mitmachen des Autors als er selbst will das bekräftigen. Doch leidet der Film unter Schwierigkeiten mit dem internationalen Film-Englisch und einer zimperlichen Regie.

Die spannendste Schweizer Kriminalerzählung – wie sie als Film gewirkt hätte, wenn sie mit einem wirklich bernischen Habitus ausgestattet worden wäre – das ist eine Frage, die einen schon ins Träumen bringen kann.

Es geschah am hellichten tag 2

(Bild: Es geschah am hellichten Tag)

Der sogenannte neue Schweizer Film, wie er sich in den Sechzigern herauszubilden beginnt, ist vorab sozialkritisch inspiriert, weshalb er sich verhältnismässig spät auf die Tradition der Kriminalfilme besinnt und das dann auch nicht eben nachhaltig tut. Allenfalls suchen Urs Aebersold, Giemens Klopfenstein und Philip Schaad mit Die Fabrikanten oder Peter Amman mit L'affaire suisse Anschluss beim Polit-Thriller nach italienischem oder französischem Muster, doch bleiben derlei Versuche sicher nicht zufällig ohne Folgen. Damit es überhaupt zu einer eigentlichen Rückbesinnung kommen kann, muss sich zuerst ein Überlebender aus dem sogenannten alten Schweizer Film, Kurt Früh, einmischen und mit den Jüngeren und Neuerern zusammenspannen.

Sein Film Der Fall greift die Überlieferung 1972 auf, Walo Lü.nd spielt darin Grendelmann, einen Fahnder ehemals von der Stadtpolizei Zürich, der zwar nicht todkrank ist wie Dürrenmatts Bärlach, hingegen ausgestossen, gefallen, kaputt – wie einst Glauser ein Fremder, möchte ich fast sagen. So werden bis in den Kriminalfilm hinein marginale Existenzen zu den bevorzugten Protagonisten im Schweizer Film der Zeit nach 1965, was dann auch dazu führt, dass Gloor als einer seiner Vertreter den Chinesen dreht und damit die erwähnte Reihe der neueren Glauser-Verfilmungen bereichert, um nicht zu sagen rettet.

Die Aussenseiter bleiben dann bis in die unmittelbare Gegenwart hinein die Lieblingshelden der Filmemacher. Denn der Walz aus Markus Fischers Der Nachbar – die Figur, von der wir ausgegangen sind – hat im Grendelmann aus Frühs Der Fall ein Vorbild. Auf diesem Weg – von Walz über Grendelmann und Bärlach/Matthäi zu Studer – führt die Genealogie der Wahrheitsfinder von heute aus zurück an die Ursprünge der Gattung, als Glauser so etwas wie ein schweizerischer Simenon zu werden beschloss. Und an den Figuren, man sieht es, lässt sich die Entwicklung am besten verfolgen. Gerade im Kriminalgenre erscheinen die fiktiven Helden von Sherlock Holmes bis Lew Archer gern wirklicher als ihre Erfinder.

In den Dreissigern und Vierzigern stellt sich der Fahnder noch voller Selbstvertrauen dar, kritisch-sensibel zwar, aber nahezu unerschütterlich. Von den Fünfzigern an zeigt ihn die Zeit erfolglos, randständig, geradezu moribund. Dass in einem ordnungsbesessenen Land wie der Schweiz Polizeigeschichten besonders gute Fortüne machen mussten, überrascht nicht. Und dem entspricht logischerweise, dass Thriller, die keine eigentlichen Polizeifilme sind, weit mehr Mühe bekunden – die Neuen Schweizer Kriminalfilme bezeugen das. Denn wenn zum Beispiel Fischers sehr gelungener Der Nachbar ein Polizeifilm ist, so ist es Zimmer 36 – weniger gelungen, aber vom selben Regisseur – eben gerade nicht.

Denn der Studer ist samt seinen Nachfahren einer von uns. Bärlach, Walz – wir kennen diese Typen. Die tendenziell kriminellen Neurotiker Hitchcocks oder Patricia Highsmiths hingegen werden uns zwar mit ihren sämtlichen Fortbildungen – bis in aktuelle Schweizer Filme hinein – immer beschäftigen, aber nie wirklich vertraut sein.

(Titelbild: Die Skizze von Hannes Binder wurde dem Krimi-Comic «Der Chinese» entnommen, der wie alle Kriminalromane Friedrich Glausers als preiswerter Paperback im Arche-Verlag, Zürich, erschienen ist.)

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/1988 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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