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Lou na pas dit non 2

Schein-Schwangerschaften

Grossesse nerveuse, Lou n’a pas dit non, Tschäss und Wachtmeister Zumbühl – Die Filme von Denis Rabaglia, Anne-Marie Miéville, Daniel Helfer und Urs Odermatt veranschaulichen zusammenzenommen ganz handlich, wie’s um unser Kino heute bestellt ist, nämlich weder zum Besten noch zum Schlechtesten. Gesamthaft wenig anders als sonst.

Text: Pierre Lachat / 01. Sep. 1994

So geht das schon eine geraume Weile. Zwischenhinein kommt einem die Entwicklung so verdächtig plausibel und übersichtlich vor und von lauter innerer Logik bestimmt. (Alles wird gut.) Harmonische Generationenfolge, konsequente Förderung des Nachwuchses, stete Ausweitung des Horizonts, auch der Gattungen und Arten und Weisen des Filmemachens, zielbewusste Entwicklung der technischen Fähigkeiten, Angleichung ans internationale Niveau, und was der optimistischen Hypothesen mehr sind. Über dem Ganzen muss unerkannt ein veritabler mastermind schweben oder ein gnädiges Geschick, das wacht und waltet. Seit über sechzig Jahren werden in der Schweiz Filme (freilich von sehr unterschiedlicher Qualität) gedreht. Etwas machen wir richtig.

Und dann gilt übers Jahr plötzlich von alledem scheinbar wieder nichts mehr. Chaos und Regression greifen um sich, es wird blindlings drauflos gekurbelt, eine Enttäuschung folgt der andern; und wieder frotzeln die Miesmacher und Besserwisser: Gibt's ihn noch, oder übersehen wir ihn nur? Die notorischen Propheten des unausweichlichen Zusammenbruchs, die uns durch die Jahrzehnte treu geblieben sind, weissagen das Düsterste. (Alles wird schlecht.)

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(Bild: Tschäss)

Zu Kassenrennern werden Grossesse nerveuse, Lou n'a pas dit non, Tschäss und Wachtmeister Zumbühl kaum gedeihen. Bis in die achtziger Jahre hinein schaffte das einheimische Schaffen wenigstens vereinzelt den Durchmarsch. Das ist jetzt wohl unwiederbringlich vorbei. Doch veranschaulichen die Filme von Denis Rabaglia, Anne-Marie Miéville, Daniel Helfer und Urs Odermatt zusammenzenommen ganz handlich, wie's um unser Kino heute bestellt ist, nämlich weder zum Besten noch zum Schlechtesten. Gesamthaft wenig anders als sonst.

Jene guten alten Sitten

Die dreiste Sex-Groteske tritt bei den romands unerwartet und ganz unbefangen neben das anspruchsvolle Kunststück. Immer häufiger hat die frankophone Produktion bloss noch intermittierenden Charakter. Historisch gesehen war das schon einmal der Fall, und zwar (vielsagenderweise) vor dem Genfer Aufschwung der frühen sechziger Jahre. Doch lässt anscheinend gerade der Mangel an Kontinuität Raum für eine gewisse Breite, die aber vielleicht nur eine blinde Beliebigkeit ist. Den unverdrossen gleichmässig voranschreitenden Deutschschweizern scheint etwas Ähnliches mindestens bei den Kinofilmen verwehrt.

Diesseits der Sprachgrenze mundartelt es munter weiter, als hätte sich in der demographischen Verbreitung der Idiome nichts geändert seit den ersten Tagen des Tons. Doch sticht ins Auge, wie nachdrücklich die beiden fraglichen Titel kostümiert sind. Bewusst oder unbewusst bringen Tschäss und Wachtmeister Zumbühl die Mundart mit der Vergangenheit zusammen. Odermatt dreht mit deutschen Schauspielern, um dann (technisch ganz annehmbar) nachzusynchronisieren. Und zwar tut er es auf waschecht nidwaldnerisch und auch noch präzis dem Sprachgebrauch von 1966 entsprechend, sprich möglichst gestrig. Dabei spricht er gelegentlich die Grenze zum Unverständlichen an, selbst für den hellhörigen Sprachkenner.

Mehr und mehr hat das Schweizerdeutsche nur noch nostalgischen Wert. Darum bleibt der Dialektfilm (am Bildschirm) so entsetzlich beliebt: weil der Mundart (in der Realität) die Luft allmählich ausgeht. (Alle wissen's, keiner sagt's.) Mit ihrer künstlichen Beatmung einher geht eine Bewahrung der guten alten Sitten der Kinoerzählung, die einen immer wieder auf die fünfziger bis achtziger Jahre zurückwirft, und zwar gilt das ganz besonders auch für die Stoffe.

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(Bild: Wachtmeister Zumbühl)

Hält sich Wachtmeister Zumbühl an die Sechziger, so führt Tschäss ins Jahr 1957. Eine Jungschar aus dem Zürcher Arbeiterquartier schwankt zwischen anpasserischer Lehrlingsbravheit und einem romantischen Auf- und Ausbruch, der je nachdem von künstlerischer oder kleinkrimineller Art sein kann. Der Jazz als neues Idiom evoziert, um entscheidende Jahre früher als der noch kaum herübergelangte Rock, eine aufregende, eine weitere, bessere Welt, und das eben keineswegs nur im musikalischen Sinn.

Paris steht kurz für Paradies. Mit seinen Kellern und Killern bildet es das geographisch-mythische Ziel aller Sehnsüchte. Mündet der Wechsel, den die Jungen erwarten, nicht in eine Auswanderung, dann müsste er mindestens die ganze Lebensart erfassen. Doch übersteigt gerade eine solche Erneuerung damals wie heute die Kräfte der Deutschschweiz. Wenn sich etwas tut (und unbemerkt ist das immer der Fall), dann ergibt sich die Veränderung aus dem, was über die Grenzen von Land, Sprache und Ethnie hereinkommt. Sei es die Einwanderung, der Jazz, der Rock, das Kino, die Droge, die Hochsprache, AFN, ARD und ZDF, das Französische oder Englische; ob Existenzialismus, Marxismus oder andere Seligkeiten, immer erscheint es als das Fremde, Bedrohliche, Ruhe- und Friedlose: Und aus eigenem will es sich ja auch kaum wir ich ander darstellen als eben so.

Autobiographisches in offenen Schlaufen

Wachtmeister Zumbühl versetzt ein grimmiges familiäres Sexdrama nach der ländlichen Innerschweiz von vormals, Der Vater wird wegen amtlicher Überkorrektheit bei der Polizei geschasst, der stotternde Sohn hat einen (sprechenden) Sprachfehler und schändet ein Mädchen mit Gewalt. Der Alte muss zum Rechten schauen, dabei kommt er selber kaum zurecht. Die Atemnot und die Anwandlungen von Sprachlosigkeit sind im ruralen Milieu auffällig gleich wie im urbanen. Provinzler wie Städter erscheinen als gerade so unbeholfen, wie sies bis heute geblieben sind. Wichtiger als alles andere ist es zu lernen, wie man Trompete bläst und mit Mädchen umgeht. Nur diffus schwant den Helden, worum es wirklich ginge. Sie hätten sich eine Lebensart, statt sie sich auferlegen zu lassen, selbst zuzulegen.

Doch wenn der Finger auf diesen Punkt deutet, heisst das noch lange nicht, dass die Autoren selber Rat wüssten. Sie hätten ja eine Alternative zu skizzieren, nicht für damals, sondern für heute (und morgen). Davon freilich sind sie weiter entfernt denn je. Offenbar berührt sie schon der Gedanke an die Gegenwart peinlich. Autobiographisches liegt beiden Filmen zugrunde. Dass es in die Vergangenheit zurückführt, ist unvermeidlich. Aber von dort aus müsste uns dann die Schlaufe wieder aufs Heute bringen. Bloss schliesst sich der Kreis nicht.

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(Bild: Tschäss)

So viel die Deutschschweiz aufnimmt, o wenig bringt sie selber noch hervor. Nicht nur im Film reproduziert sie bestenfalls das, was einmal ihre Originalität ausgemacht haben mag, zum Beispiel 1957, als Bäckerei Zürrer entstand. Die realen Vorbilder der Helden von Tschäss suchten zerade zu jener Zeit ihren Weg ins Leben. Bis mindestens 1985 wehte der kreative Geist, etwa in Höhenfeuer, weiter. (Dürrenmatt und Frisch schrieben damals noch.) Ohne jene beiden exemplarischen Filme wären weder Tschäss noch Wachtmeister Zumbühl denkbar, nicht zu reden von so vielen andern Arbeiten. Traditionsbewusstsein hat immer nur einen begrenzten Wert. Er ist vom Willen und der Fähigkeit bedingt, sich stets auch ein Stück weit von der Überlieferung zu lösen.

In andern Umständen

Da wirken, im Vergleich, Grossesse nerveuse und Lou n'a pas dit non so viel heutiger und spontaner, um etliches weniger verkorkst und betulich. Sie tun es nicht zuletzt darum, weil sie voneinander so gründlich verschieden sind, dabei handeln beide von der Beziehung zwischen den Geschlechtern. Rabaglias handfest-burleske und doch schön hintergründige Kinostory um einen aufsehenerregenden Fall von männlicher Scheinschwangerschaft führt einen gewissen Mangel an Schlankheit (und ein gerütteltes Mass an nervöser Unruhe) schon im Titel. Man wähnt sich in andern Umständen, kommt aber nicht wirklich nieder - wenn das nicht einer klassischen Autorenhysterie entspricht! Ausserdem trägt da wieder einmal einer dick auf, ohne Schaden zu nehmen, was ja zum Allerheikelsten zählt.

Miévilles feinsinniges audiovisuelles Gebilde, das sich pro forma auf Lou Andreas-Salome und Rainer Maria Rilke beruft, entschwebt in die wenig erkundeten, dünnluftigen poetischen Sphären der Filmkunst. Die Gefährtin Jean-Luc Godards streckt den Werken ihres so machtvoll männlichen Mentors so etwas wie weibliche Äquivalente entgegen. Seine feminin betonte Seite ist seit den Tagen der unvergessenen Anna Karina bekannt, wird aber von der maskulin akzentuierten Neigung meistens überlagert. Bei Miéville erlangt die fast zu schöne Marie Bunel eine urbildliche weibliche Qualität. Eine Schauspielerin ihres Typs könnte ohne weiteres auch unterm virilen Kamerablick agieren. Doch würde ihr bei Godard kaum etwas Gleichwertiges zuteil. Er versteht es zu wenig, auf die Seele einer Frau einzugehen. Was immer das andere Geschlecht angeht, mündet beim Autor von Masulin – feminin in Würdigungen von aussen.

Lou na pas dit non 1

(Bild: Lou n'a pas dit non)

Entlang einer Seitenlinie setzt sich denn, in Lou n'a pas dit non, ein Suchprozess fort, der seinen Ursprung in den Sechzigern hat, und zwar spielt sich das auf eine Weise und in einem weitern Zusammenhang ab, die durchaus helvetisch anmuten. Eine breitere Dimension scheint sich mit dem Hinzutreten Miévilles auf dem Planeten Godard aufzutun. Mit Plagiat, Epigonentum, Protektion oder frauenförderlichem Sozialkitsch hat das nichts zu schaffen. Eher wäre an Beispiele aus der Literatur zu denken, bei denen schreibende Paare (von Hellman-Hammett bis Beauvoir-Sartre) einander aufs glücklichste beeinflusst und ergänzt haben.

So bleibt auf der Suche nach dem Hier&Heute und der Freude am Dasein im Diesseits und am Filmemachen Rabaglia übrig. Der nun vielleicht wirklich permanent in andern Umständen ist und wieder etwas zur Welt bringen wird und sei's blass beliebig. Sein Ansatz ist frei von Voraussetzungen, aber auch von jedem Anspruch, das Medium neu zu erfinden. aivität und Instinkt, schieres Naturtalent und sogar ein Quentchen gewöhnlicher Schlauheit schlagen durch.

Was da war, bevor Dada da war, lässt sich später immer noch erkunden. Nutze vorerst die Zeit, solange dus ignorieren kannst. Und fang' nicht zu erziehen an, bevor du geboren hast.

Grossesse nerveuse 1

Titelbild: Lou n'a pas dit non; letztes Bild: Grossesse nerveuse)

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/1994 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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