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Teorema

Spurenlese

In der italienischen Schweiz, also im Tessin, war die Filmkritik, verstanden als wissenschaftlich fundierte Interpretation von Filmen, in den Massenmedien immer schwach repräsentiert. Ausserdem war die Filmkritik durch einen Geist der Improvisation gekennzeichnet, der sich bestenfalls durch seine Beobachtungsgabe auszeichnete: Kritik, die dilettantisch Fragen der Methode ignorierte.

Text: Guglielmo Volonterio / 01. Okt. 1995

In der italienischen Schweiz, also im Tessin, war die Filmkritik, verstanden als wissenschaftlich fundierte Interpretation von Filmen, in den Massenmedien immer schwach repräsentiert. Ausserdem war die Filmkritik durch einen Geist der Improvisation gekennzeichnet, der sich bestenfalls durch seine Beobachtungsgabe auszeichnete: Kritik, die dilettantisch Fragen der Methode ignorierte.

Diese Neigung zum Dilettantismus wurde beiläufig noch durch eine geeinte Politik im Kanton verstärkt, welche seit den zwanziger Jahren vorherrschte und die politische Leidenschaft des neunzehnten Jahrhunderts völlig verdrängte.

Doch schon vorher zeigte sich im Tessin die kulturelle und politische Isolation, weil, wie wir meinen, eine Oppositionspartei fehlte, die im Rahmen eines dialektischen Systems so gehandelt hätte, wie es zum grossen Teil in der übrigen Schweiz geschehen ist. Wenn man bedenkt, dass der Generalstreik von 1918 nur im Tessin kaum befolgt wurde (die Tessiner Arbeitskammer hatte sich dem Beschluss der Zentrale nicht angeschlossen, und die christlichsozialen Gewerkschaften waren in vollkommener Desorganisation), so wird man einerseits das Ausmass der Isolation des Kantons verstehen und anderseits die Gründe des allgemeinen Desinteresses für die grosse Kolonie von Intellektuellen auf dem Monte Verita erahnen. Der Monte Verità oberhalb von Ascona war vom Ende des letzten Jahrhunderts bis in die dreissiger Jahre und darüberhinaus Ziel eines aussergewöhnlichen Zuzugs von vor allem deutschen Künstlern und Intellektuellen (Schriftsteller, Maler, Philosophen, Theosophen, Choreographen), die auf der Flucht vor der Industrialisierung nach einer idyllischen Landschaft, im Grunde nach dem verlorenen Paradies, suchten. Obwohl sie sich auf viele Uferregionen des Kantons verteilten, kam keine wesentliche Begegnung mit der einheimischen Kultur, die für diese höchst heilsam gewesen wäre, zustande. Man bemerkte weder einen Paul Klee, der 1942 in Muralto starb, noch einen Erich Heckel, der die Hügel um den Luganersee malte, nahm aber auch in neuerer Zeit eine Meret Oppenheim, die oft in Carona arbeitete, kaum wahr. Ebensowenig gab es substantielle Annäherungen an so herausragende Persönlichkeiten wie Jung, Hesse oder Marino Marini, der während des letzten Krieges in Locarno im Exil lebte. Im Gegenteil, gegen Ende der zwanziger Jahre wurden laute Vorwürfe gegen die funktionelle Architektur erhoben und eine Gruppe deutscher Architekten, die sich auf dem Monte Veritä und in seiner Umgebung niedergelassen hatte, wie der vom Bauhaus herkommende Weydemeyer, wurde für die Einführung der modernen Architektur im Tessin verantwortlich gemacht!

Gewiss gab es auch in der übrigen Schweiz die Opposition des Heimatstils, der man vor allem jenseits des Gotthards immerhin die Erhaltung der historischen Stadtkerne verdankt (was hingegen in den Tessiner Städten, vor allem in Lugano, wiederum nicht geschehen ist).

Es heisst, das Tessin sei durch seine Gebietsgrenzen, die geographisch-linguistische im Norden und die südliche gegen Italien, die mit dem Anbruch des Faschismus auf der Halbinsel – glücklicherweise – noch verfestigt wurde, immer beengt worden.

Aber diese Grenzen wurden, gestern wie heute, durch eine Mentalität verstärkt, die jede Annäherung von sich wies, auf sich selbst zurückgeworfen jede Subkultur schon im Ansatz verdrängte und sich in die Verteidigung der traditionellen Werte flüchtete. Und diese Ablehnung bezog sich, wie wir schon gesehen haben, nicht nur auf dynamische Entwicklungen im Ausland, sondern, sobald die inneren Gleichgewichte in Frage gestellt schienen, auch auf die Schweiz jenseits des Gotthards.

Weder führte das Aufkommen des Radios zu einer echten, dynamischen und wirksamen Konfrontation mit den «andern», noch löste das Fernsehen – halbprofessionell aufgezogen und sofort Opfer des Parteienproporzes – die kulturelle Frage, aber wenigstens wurde durch sie der Zugang zu einem Mehr an Information erschlossen.

Die vermehrte Kenntnis von Ereignissen ausserhalb des Tessins führte aber – wie es vielleicht auch in anderen randständigen Bereichen der Schweiz geschieht – paradoxerweise zu einer noch hartnäckigeren geistigen Isolation zum Schutze einer Geisteshaltung, die sich mit der «ticinesita» identifizierte. Diese Ideologie der Isolation wurde aber auch – ganz schweizerisch – von der Furcht geschürt, von unkontrollierbaren Situationen, deren Konsequenzen unbekannt bleiben, überrollt zu werden. Das «Andere» ist, wie Blackout (1970) von Jean-Louis Roy sehr schön zeigt, auf einer schizophrenen Ebene, auch die Bedrohung durch den personifizierten Zweifel.

Nebenbei, sogar Hermann Hesse, der sich in Montagnola niedergelassen hatte, beschrieb das Tessin als das «Honolulu Europas»: es solle nicht verfälscht und deshalb in einem Museum mumifiziert werden!

Natürlich fehlt es dem hier unvermeidbar lückenhaft und keineswegs erschöpfend skizzierten politisch-kulturellen Panorama auch an «Geschichtlichkeit». Und die für die Isolation angeführten Gründe erklären weder die Hypochondrie des Tessiners noch veranschaulichen sie diese.

Deshalb greifen wir in diesem Zusammenhang noch einige Überlegungen auf, die wir einem in Italien arbeitenden Tessiner Schriftsteller verdanken. Enrico Filippini, 1932 in Cevio geboren, «flüchtete» wenig älter als zwanzig aus der Schweiz, um in Mailand sein Philosophiestudium abzuschliessen und sich dort nach Aufenthalten in Berlin, Paris und London niederzulassen, bevor er sein Leben in Rom (1988) beschloss. Er war ein herausragender Exponent der avantgardistischen Bewegung «Cruppo 63» in Italien, Schriftsteller, Übersetzer (Husserl, Heidegger, Johnson, Grass, Dürrenmatt, Frisch und andere), Drehbuchautor bei der RAI («Lord Byron»), Korrespondent von «La Repubblica» in Rom. 1979 schreibt Enrico Filippini in einer seiner seltenen Veröffentlichungen in der Tessiner Presse: «Ich habe den Eindruck, dass es, selbst wenn man die Qualität der Autoren ausser acht lässt, eine Grundschwierigkeit gibt, und wenn es sie gibt, so ist sie eine jener Schwierigkeiten, die die Literatur stark behindern. Und diese Schwierigkeit könnte gut folgende sein: Ein Tessiner erlebt sich und seine Welt wie eine «Ausnahmesituation», ein von Anomalie gezeichnetes Umfeld. Der Literatur aber dient die Normalität, oder besser: nur in einem Regime der Normalität ist die Anomalie angebracht.(. .. ) Wenn man die Dinge etwas zuspitzt, so könnte man vielleicht sagen, dass in letzter Analyse diese Anomalie in einem Geist von Ungeschichtlichkeit oder Entgeschichtlichung besteht. Nicht, dass das Tessin und die Schweiz nicht in der Geschichte sind, aber es wird so gelebt, als ob sie es nicht wären; zwischen die gelebte Erfahrung und deren mögliche Formulierung legt sich ein eingebildeter Schleier, und gerade weil er imaginär ist, ist er unverrückbar.» Er schliesst: «Literatur macht man für oder wider die Geschichte, aber wie kann man für oder wider eine Geschichte schreiben, die es nicht gibt – oder die sich nicht manifestiert? In dieser Situation ist nicht einmal die Lösung von Max Frisch möglich: «essere ticinesi come ironia ... »

Miracolo a milano

(Bild: Miracolo a Milano)

Man wird nach dieser langen, aber notwendigen Einleitung verstehen, unter welchen Bedingungen Filmkritik im Tessin im Laufe der dreissiger Jahre entstanden ist, eingeengt zwischen kommerziellen Interessen und einer, mit Heidegger gesprochen, wenig geschulten Denkweise für das «Ins Sein Treten des Neuen», von Dilettantismus mit einigen geradezu karikaturistischen Aspekten gezeichnet, in einer durch die «einfältige Verklärung der «ticinesitä» unterdrückten Sprachregion (E. Filippini, «La Repubblica», 1987), die darüberhinaus auch keine akademischen Institute hatte, die zu einer wirksamen Annäherung an die Realität im Tessin und in der Schweiz hätten führen können.

Es ist nicht ohne Grund und Bedeutung, dass der erste «Filmkritiker» im Tessin, Luigi Caglio, der im «Corriere de/ Ticino» zu schreiben beginnt, ein aus Varese stammender, mehr oder weniger antifaschistischer Journalist war.

Unter dem Einfluss des hegelianisehen Philosophen Benedetto Croce wurde damals in Italien über die «Identität» des Films debattiert. Man fragte sich, ist der Film in Anbetracht seines achahmungscharakters überhaupt eine Kunstform oder nur Reproduktion der «objektiven» Realität? Wo kann die Präsenz des Autors wahrgenommen werden?

Das sind Fragen, die dann auch das Denken von Andre Bazin beschäftigt haben, aber mit gegenteiligen Folgerungen, weil Bazin im «ontologischen Realismus» des Films die Chance zu einer grossen Entfaltung der Wirklichkeit sah.

Caglio, der bis in die siebziger Jahre hinein – immer mit professioneller Würde – Filmkritiken schrieb, schaltete sich in die Debatte über das Wesen des Films zu einer Zeit ein, in der man sich noch bemühte, den Film vom Theater zu unterscheiden und ihn enthusiastisch als eine Form des Antitheaters zelebrierte. Offensichtlich kannte man «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit » (1936) von Walter Benjamin noch nicht. Übrigens kam Caglio, begeistert vom Stummfilm, als überzeugter Filmliebhaber nach Lugano. Aber auf einmal begann der Film zu sprechen, und die Ästhetik des Stummfilms, dessen spezifische Eigenschaft im Bild lag, fand in den neuen Techniken keine Bestätigung mehr. Die Frage, die sich nun stellte, war: Steht nicht die Identität des Films, als visuelle Ausdrucksform definiert, auf dem Spiel, wenn man das sichtbare Bild mit dem Gesprochenen, mit dem Ton, verbindet? Besteht nicht die Gefahr seiner Integration in den Bereich des Theaters? Man löste die quälende Frage jener Zeit in dem Sinne, dass man das Bild als vorherrschend und den Ton als seine «Magd» (sie!) verstand, wie Caglio geschrieben hat. Was dazu führte, dass allzu dialoglastige Filme nicht mehr als Film betrachtet, sondern zum Schauspiel degradiert wurden. Obwohl damals noch kaum eine kritische Terminologie entwickelt war.

Diese absurde Position hatte eine paradoxe Kehrseite. Wenn man Film als «Spiegel der Wirklichkeit» begreift, und darüber hinaus auch nicht weiss, oder wenigstens nicht zur Kenntnis nimmt, dass das filmische Bild metonymisch ist, so ist es in der Tat schwierig, die Metapher an sich zuzulassen. Nur so konnte es geschehen, dass ein Film wie Teorema von Pier Paolo Pasolini, in dem sich der Protagonist im Hauptbahnhof von Mailand auszieht und in den Vorstädten der lombardischen Metropole spaziert, nicht in seiner metaphorischen Dimension erkannt, sondern in realistischem Sinne interpretiert wurde, so dass die Person als Exhibitionist dastand. «Schmutzfink! » – wurde geschrieben– «schamlos schweift er nackt durch die Stadt!»

Die letzte Bemerkung zeugt aber auch vom moralistischen Massstab, der in die kritische Beurteilung eingeflossen ist: einer Ethik des «guten Geschmacks», der Wohlanständigkeit, die vom Film in seiner Eigenschaft als «Spiegel der Wirklichkeit» und als «Fenster zur Welt» die Bestätigung der eigenen ideologischen Gewissheit fordert.

Der ethische Anspruch dringt mit dem Aufkommen des italienischen Neorealismus unmittelbar nach dem Krieg auch aus jener soziologisch geprägten Kritik herüber, die uns übertrieben grosszügig mit der endgültigen und unumstösslichen Wahrheit überschwemmte, der genauen Wahrnehmung des Guten und des Schlechten, wobei das Gute die progressive Idee war und das Schlechte der «Konservatismus», die «bürgerliche Reaktion».

Filmische Emotionen gingen aus diesem Hauptgegensatz von Gut und Böse hervor, den Cesare Zaoatiini in seiner Theorie des «pedinamento della realtä» neu bearbeitet hat, indem er sie aus der grossen Epik des sowjetischen Realismus herauslöste, verallgemeinerte, dem elegischen Ton der italienischen achkriegszeit anpasste und die Übergänge fliessender, weicher machte.

Zum Glück wurde die «Theorie der Beschattung» als «spezifische Eigenschaft» der Filmkunst bald von den Regisseuren des Neorealismus selber angefochten, von de Sica etwa, der in Miracolo a Milano die theoretische Philosophie zum Neorealismus in Schwierigkeiten brachte, indem er das «Wirkliche» auf das Unsichtbare, das Irreale, wie man damals sagte, ausdehnte. Indem man den Film in ästhetisch weniger drastische Positionen zurückführte, zwang man die Kritik, das neue Ausdruckspotential des Films zu berücksichtigen. Oft gewann angesichts offensichtlicher Emotionen bei der empfindsamen Kritik aber dennoch die emotionale Kraft die Oberhand über die intellektuelle Wahrnehmung.

Der Beitrag der Psychoanalyse war zu meinen Anfangszeiten als Kritiker hilfreich, um mit dem Grundsatz zu brechen, dass Film nur als Reproduktion des Gesehenen, als Quelle von Emotionen und Reflexionen, zu verstehen sei, indem sie die Analyse des soziologischen Zusammenhangs auf eine individuellere Ebene ausweitete, die im Inneren des Films und des Zuschauers, wo die menschlichen Widersprüchlichkeiten aufs Spiel gesetzt werden, verwirrt.

Im Hinterkopf lauerte übrigens immer der alte Croce, um uns an die theoretische Tatsache zu ermahnen, dass die Kunst, also auch der Film, aus einem «Akt der Sublimation» entstehe, also von der Subjektivität und nicht von der «Objektivität» ausgehe.

Die Schwierigkeiten und Grenzen jeder Geschmackskritik zeigen sich unvermeidbar in der Lektüre des «Textes», im Definieren und Präzisieren dessen, was man gewohnt ist, den «Inhalt der Form» zu bezeichnen: eine «Kritik» die meist keine Ahnung hat von den komplexen Fragen des Autorenfilms – auch wenn die «Cahiers du cinema» überall ein wenig herumgeistern–, von den strukturellen Relationen im Inneren des Textes, der Konsequenzen einer Absenz der «zweiten Artikulierung» in der Filmsprache, der ganz besonderen Opposition zwischen Paradigma und Syntagma in den Filmen, in denen das «Genre» einseitig ausgelegt wird, schliesslich vom Film als «Traum mit offenen Augen» (Cesare Muratti) oder vom Film als «Dabeisein» (Jean Mitry). Und so weiter und so fort.

Man muss der RTSI (Radio Televisione della Svizzera Italiana) in den letzten Jahrzehnten eine grössere Anstrengung bei der Verbreitung von Filmen attestieren, auch wenn diese Arbeit sporadisch und keineswegs systematisch war, und inzwischen immer stärker unter den negativen Einfluss des italienischen Fernsehens gerät. Aber manchmal wird auch über die Produktion und die Problematik des Schweizer Films informiert, der seinerseits im Tessin noch immer unbekannt ist.

Die theoretischen Grundlagen zieht diese Information aber nie in Betracht, geschweige denn die Versuche, um Beispiele zu nennen, wie die Annahmen von Jean-Luc Godard oder die Theorien von Gerard Lenne, die grundlegend die Entwicklung der filmischen «Erzählung» beeinflussen, indem sie «ihre» Wahrheit beeinträchtigen.

Einen ganz eigenen Weg hat Dalmazio Ambrosioni beschritten, der im Laufe der siebziger Jahre bei der Zeitung der Kurie tätig wurde. Zwar immer gefährdet durch eine innerkirchlich gewichtige, moralistische und darüberhinaus intolerante Kritik (eine banale Form des «katholischen Integralismus»), verstand er es dennoch, den gesellschaftlichen Wandel zu nutzen und die kirchliche Filmkritik im Tessin in ein für die «Modernität» offenes Klima zurückführen.

All die Polemiken, die zum Teil heftig, aber auch verworren geführt wurden und oft neben den Widersprüchen der Epoche von plumpen Missverständnissen geprägt waren, zogen sich bis in die siebziger Jahre hinein. Zwischenzeitlich sah das Tessin mit der Demission von Freddy Buache als Direktor des Filmfestivals von Locarno abermals die Chance einer gewinnbringenden Begegnung mit fortschrittlicheren Exponenten der schweizerischen Filmkultur entschwinden. Man hatte, anders gesagt, die Notwendigkeit nicht begriffen, die Kultur im Tessin aufzuwerten, indem man sie mit der französischen verband, die in Wahrheit, vor allem vor Anfang der siebziger Jahre, viel dynamischer war als die italienische.

Was die Beziehungen des Tessins zur italienischen Kultur betrifft, soll das kürzlich von Giooanni Pozzi, dem Dozenten für italienische Literatur an der Universität Freiburg formulierte Urteil gelten: «Die Verteidigung unserer «italianitä» im Kanton ist politisch gescheitert», auch wenn in neuster Zeit bei der italienischen Literatur im Gymnasialunterricht ein qualitativer Sprung nach vorn zu erkennen ist.

Irgendwie ist die Geschichte der zeitgenössischen Kultur im Tessin eine Geschichte der verpassten Gelegenheiten, des Schweigens, das die Perspektiven verengte, der chronischen Verspätung, der «Abwanderungen» als Verdrängung, wie dies bei Filippini, oder als Absonderung, wie dies beim katholischen Philosophen Romano Amerio und dem erwähnten Giovanni Pozzi – zwei grossen Gelehrten – der Fall ist.

Eine Belebung und wesentliche Verbesserung der Filmkritik im Tessin ergab sich mit der «Nouvelle vague» – mit Godard im Zentrum –, eine Belebung, die noch akzentuiert wurde durch die Entwicklungen beim «Neuen» Schweizer Film, die in den sechziger Jahren zuerst im dokumentarischen Bereich, dann auch beim Spielfilm eintraten und geprägt wurden durch Namen wie Tanner, Soutier, Goretta, dann Schmid, Koerfer, ohne die talentierten Dokumentarfilmer, wie Richard Dindo, zu vergessen, geschweige denn das grosse Feld der Animationsfilmemacher.

Der Schweizer Film, dem sich aus dem Tessin einige Filme wie die Werke von Villi Hermann beigefügt haben, hat uns in die Auseinandersetzung mit der nationalen Wirklichkeit geführt, filtriert durch die Welt der Kreativität, als Überbringer von Problemen und Lösungen in der Ausdrucksweise, im besonderen der Bedarf des Neuen begriffen als Entmystifizierung der fetischistischen Ideologie. Als auf der einen Seite Godard das Konzept des «Spezifischen» des Films bereits abgeschafft hatte, machte auf der anderen Seite die nationale Produktion in jenem magischen Moment die Frage des subjektiven Ausdrucks zu ihrem Gegenstand. Und vor allem nahm sie mit der berühmten Frage von Tanner, «Wie kann man die Schweiz beschreiben? Zu viele Vorhänge, zu viele Vorhänge ... !» das von Enrico Filippini formulierte Problem über die Schwierigkeit, ausserhalb jeder Geschichtlichkeit lebend Literatur zu schaffen, vorweg.

Gewiss, nicht die gesamte Tessiner Kritik konnte die Entwicklung im Bereich der Filmtheorie mitvollziehen, denn sie verfügte nicht über die kulturellen Mittel dazu. Trotzdem kann man einen qualitativen Sprung nach vorn feststellen im Vergleich zur Situation der vierziger und fünfziger Jahre, in denen man sich manchmal buchstäblich darauf beschränken musste, von italienischen Tageszeitungen abzukupfern, zum Beispiel die Kritiken von Gromo von der «La Stampa» in Turin, von Lanocita vom «Corriere della Sera», von Pietro Bianchi vom «Ciorno», Aber immerhin war man sich damals der eigenen Grenzen bewusst, was in der Folge nicht immer der Fall war.

Nicht zuletzt dank neuer Kräfte, Filmliebhabern, aber auch allgemeine Journalisten, die sich spezialisierten, konnte die Filmkritik an Profil gewinnen, sich durch mehr Sensibilität (Fabio Pumagalli), aber auch durch aktuellere Berichterstattung (Dalmazio Ambrosioni) auszeichnen, oder bei der TVSI (Televisione della Svizzera Italiana) auf kulturell, gesellschaftliche Interviews spezialisieren (Federico Jolli).

Eine solche Kritik mit Stil und Sensibilität wird aber heute immer stärker durch eine Publizistik bedrängt, die auf dem mutlosen, entwürdigenden Modell beruht, wie es in den grösseren italienischen Tageszeitungen und Illustrierten praktiziert wird. Da überwiegen neben ausgesprochenen Werbetexten Gesellschaftschroniken und schwärmerische Berichte, während die Kritiken auf vorschnelle, oft unbegründete Urteile reduziert, auf die kommerziell erfolgreichsten Filme beschränkt bleiben, wie dies neuerdings auch beim «Corriere del Ticino» geschieht. Die Tendenz geht dahin, Rezensionen durch Interviews zu ersetzen, die oft von Mitarbeitern von touristisch-mondänen italienischen Zeitschriften ausgeführt oder aus den von den Produktionsfirmen herausgegebenen Pressedokumentationen übernommen werden. Es versteht sich von selbst, dass die Interviews häufig dem Star gewidmet sind, dem Top-Model, das ins Filmbusiness einsteigt, der «umstrittenen» Person, und so weiter, mit der irrigen Vorstellung – und darin liegt das Gravierende dieser Entwicklung – damit die Diskussion über den «Text», die Interpretation bereits erschöpfend behandelt zu haben.

Im allgemeinen vergisst man oder ist sich dessen vielleicht einfach nicht bewusst, dass es eine der Funktionen der Kritik ist, jenem «expressiven Zweifel» Raum zu schaffen, von dem Heidegger bezüglich der Kunst, im besonderen der «Dichtung», zurückgreifend auf die Hermeneutik, spricht.

Folgen solcher Mängel sind besserwisserische Behauptungen, wie es – um ein Beispiel zu nennen – in der grössten Tessiner Tageszeitung geschehen ist, wo man in der Kritik vorbehaltlos die «Ideologie» von D'Artagnan als «vernachlässigbar» beurteilte und die von der modernen Literatur mitgebrachte Betrachtung von Benjamin bis Croce, bis Gramsci, nicht zu vergessen die berühmte von Alexandre Dumasfils geschriebene Einführung und die Theateradaption von «Kean» durch Sartre einfach ignorierte. An diesem Punkt wird die «Information» zur «Desinformation».

Im übrigen haben die im letzten Jahrzehnt aus den Akademien hervorgegangenen jungen Filmstudenten kaum die Fähigkeiten sich auszudrücken, obwohl es welche gibt, die gezeigt haben, dass sie die nötige Ausbildung dazu hätten. Mit Ausnahme des «Corriere del Ticino» ist die Tessiner Presse auch nicht in der Lage, einen vollamtlichen Kritiker anzustellen. Aber auch dort, wo es möglich ist, hemmen Parteizugehörigkeiten und Vetternwirtschaft die Entwicklung der Filmkritik. Ohne auch noch zu berücksichtigen, dass opportunistische Gefügigkeit, die primär mangelhafte Ausbildung mehr oder weniger geschickt zu tarnen weiss, schliesslich alle ein wenig versöhnen kann.

Die Lage der Filmkritik im Tessin ist noch immer besorgniserregend, weil keine Lösungen in Sicht sind. Vor allem aber nimmt man auf Seiten der Verantwortlichen in den Massenmedien – wenn auch mit einigen lobenswerten Ausnahmen – die otwendigkeit einer Kritik auf allen operativen Ebenen, der es gelingt, auf der Basis einer dringend notwendigen, theoretischen Ausbildung, den Dingen auf den Grund zu gehen, nicht zur Kenntnis.

(Titelbild: Teorema)

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/1995 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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