Filmbulletin Print Logo
04984f07

Eine Vorhut am Lago Maggiore

Könnte ein anderes Verfahren etwas verbessern, und wäre es nur: mehr richtige Beschlüsse zeitigen und weniger falsche? Es müsste imstand sein, für die vielbelächelten und geschmähten, unüberprüfbaren und einspracheresistenten Festivalpreise einen Ersatz zu schaffen, mittels eines transparenten Systems der Auswahl, der Förderung, der Publizität, des Sponsoren- und Mäzenatentums diesseits von Markt-Kalkül, Insider-Trading und vulgärer Rangelei. Der Wunsch ist fromm, also schwer zu erfüllen.

Text: Pierre Lachat / 01. Aug. 2007

Könnte ein anderes Verfahren etwas verbessern, und wäre es nur: mehr richtige Beschlüsse zeitigen und weniger falsche? Es müsste imstand sein, für die vielbelächelten und geschmähten, unüberprüfbaren und einspracheresistenten Festivalpreise einen Ersatz zu schaffen, mittels eines transparenten Systems der Auswahl, der Förderung, der Publizität, des Sponsoren- und Mäzenatentums diesseits von Markt-Kalkül, Insider-Trading und vulgärer Rangelei. Der Wunsch ist fromm, also schwer zu erfüllen.

Doch wer je persönlich mitjuriert hat, und wär’s nur unter nominellen Preissummen, und wer dann am eigenen Leib die Wirkung von Pressionen und Reglementen aller Art erfuhr, mit Hierarchen, die im entscheidenden Moment in die Hinterköpfe atmen kommen, der wird zwei drei Dinge vollauf begreifen, zum Beispiel: wie es 1946 gekommen sein muss, dass der allererste Hauptpreis von Locarno And Then There Were None zufiel. Die Agatha-Christie-Verfilmung war eine ziemlich beiläufige Arbeit des sonst geachteten René Clair.

Celine et julie vont en bateau 05

(Bild: Céline et Julie vont en bateau)

Denn da war auch Double Indemnity, obendrein Roma, città aperta, Iwan der Schreckliche, Unter den Brücken und The Ox-bow Incident. Zusammen ergaben sie einen trefflichen Querschnitt durch das Filmschaffen jener diffusen Jahre zwischen dem Ende des Welt- und dem Beginn des Kalten Krieges. Bloss konnten Billy Wilder, Roberto Rossellini, Sergej M. Eisenstein, Helmut Käutner und William Wellman keinesfalls gewinnen. Dafür sorgten die schon reichlich rigiden Satzungen, die hinterher noch viel sperriger werden sollten, oder spätestens die überforderte Jury. Deren wechselnde Zusammensetzung bot auch nachmals wenig Gewähr für eine ausreichende Qualifikation. Vielleicht aber war ganz einfach die kurzsichtige Willkür der unerfahrenen Veranstalter am Werk, die allerdings auch Wegbereiter waren, von der historischen Stunde begünstigt. Und sowieso, Preisgerichte umgehen die Schwierigkeiten lieber als sie zu bewältigen.

Auf den Zehen der andern

Ähnlich erging es übers Jahr The Lady in the Lake, My Darling Clementine, Paisà und Sciuscià von Montgomery, Ford, Rossellini und De Sica. Und ein Blick auf 1948 zeigt: der unbestrittene Meister jener Periode wurde zweimal übergangen, doch im dritten Anlauf, mit Germania anno zero, kam Roberto Rossellini zum Zug. So summieren sich, nach dem Prinzip der doppelten Negation, zwei falsche Entscheidungen zu einer richtigen. Der Verdacht liegt nahe, dieses Verhältnis entspreche ungefähr dem statistischen Durchschnitt sämtlicher Befunde sämtlicher Preisgerichte aller Orte und Zeiten.

Konflikte meiden statt sie auszutragen heisst auch nachholen, was verpasst wurde, und die eigenen Fehlurteile künftigen Experten zur Korrektur überweisen. Der zu langem Warten verknurrte Bittsteller erdauert sich einen höheren Anspruch. Irgendwann spielt der Endlich!-Effekt. Fredi M. Murer ist 45, da er mit Höhenfeuer gewinnt. Chicorée hiess sein erster Beitrag im Programm von Locarno. Er datiert 1985 um achtzehn Jahre zurück, auf 1967. Daniel Schmid erfährt seine endgültige Anerkennung 1992 mit Hors saison, zwanzig Jahre nach Thut alles im Finstern, eurem Herrn das Licht zu ersparen. Wie in einem schwarzen Loch lassen sich halbe Lebensspannen in den Schaukämpfen versenken.

02778g

(Bild: Ladri di biciclete)

Aber heisst das nun, Roberto Rossellini sei in Locarno entdeckt worden, was immer das Patentwort bedeutet, während etwa sein wichtigster Landsmann und Mitstreiter verschmäht abreiste? Denn immerhin wurde Vittorio De Sica, nach Sciuscià, auch 1949 bei Ladri di biciclette ausser Acht gelassen, womit er in die erwählte Gesellschaft von Il mulino del Po von Lattuada, Hamnstad von Bergman, Jour de fête von Tati und Fort Apache von Ford geriet. Ein obskur gebliebener Devaivre schob sich vor, mit La ferme des sept péchés.

Einigermassen sicher lässt sich bloss folgern, Rossellini sei es über drei Durchgänge hin glänzend ergangen, wogegen De Sica unvergönnt blieb, gleich viel verdientes Glück zu haben. Offensichtlich standen die Zwei einander auf den Zehen herum im Park des Grand Hotel von Locarno. Immerhin nahm das noch tastende Festival die Bedeutung der wichtigsten neuen Schule der ersten Nachkriegszeit, des italienischen Neorealismus, einigermassen prompt wahr.

Unfaire Vergleiche

Das internationale bürokratische System beginnt ab sofort zu greifen. Künftig kann ein verpasster Anmeldeschluss, die arbiträre Trennung von Spiel- und Dokumentarfilmen und von Beiträgen in concorso und fuori concorso, eine zufällig herbeigespülte Schmutzkonkurrenz, eine diplomatische Unpässlichkeit oder eine Überdosis Aufputschmittel den aussichtsreichsten Aspiranten ins Hintertreffen befördern. Nach zweimaliger Rückstellung gewinnt John Ford 1950 spät mit When Willie Comes Marching Home, deutlich die bescheidenere Arbeit als My Darling Clementine und Fort Apache. Und doch werden dann, von 1952 bis 1969, während der ersten recht und schlecht stabilen Periode des Festivals, immerhin Michelangelo Antonioni, Stanley Kubrick, Milos Forman, Glauber Rocha und Alain Tanner frühvermeldet.Il grido, Killer’s Kiss, Cerny Petr, Terra em transe und Charles mort ou vif erlangen alle den Hauptpreis.

Es gibt also Umstände, die einen Treffer schon fast automatisch auslösen können. Dabei halten sich fünf Richtige in siebzehn Jahren haarscharf unterm Mittel von 33 Prozent. Vorzügliche Anwärter wären auch, von Les maîtres fous über Moi, un noir bis La pyramide humaine, die frühen Filme von Jean Rouch gewesen, dem Chabrol, Rivette, Godard, Pasolini, Bertolucci, Bellocchio und Straub folgten. Le beau Serge, Paris nous appartient, Bande à part, Comii d’amore, Prima della rivoluzione, I pugni in tasca und Nicht versöhnt wecken Aufmerksamkeit, doch ohne rechte Gnade zu empfangen. Rivette kann immerhin ein paar Jahre später nachziehen, wiewohl nur mit dem ersten Nebenpreis. céline et julie vont en bateau zählt zum Schönsten, was ihm gelungen ist. Und wenn dergleichen sinnvoll ist, könnte es noch einmal als der Locarno-Film überhaupt gelten, aus allen sechs Jahrzehnten: frohmütig, clownesk, so innig wie naiv den Frauen zugetan.

04927f07

(Bild: When Willie Comes Marching in)

Was für unfaire Vergleiche den Nachwachsenden inzwischen zugemutet werden, offenbart das Programm des Jahres 1962. Gleich fünf Meisterwerke der Moderne drängen, wie in einer Wiederholung der Zustände von 1946, ins Programm: Divorzio all’italiana von Pietro Germi, Salvatore Giuliano von Francesco Rosi, Sanjuro von Akira Kurosawa, El angel exterminador von Luis Buñuel und Wie in einem Spiegel von Ingmar Bergman – eine Wucht, so dick kommt’s nie wieder! Kann sein, dass jener eine halt ganz allgemein der edelste einzelne Jahrgang der gesamten Filmgeschichte war.

Woody Allen, na und?

Werden demnach Rouch, Chabrol oder Straub in Locarno entdeckt, während etwa Godard auf andere Rennstrecken umsatteln muss? Eindeutig lässt sich die Frage wohl nur immer dann beantworten, wenn auch tatsächlich der Hauptpreis an den jeweiligen Autor geht. Fürderhin ist das Zusprechen eines Pardo nur noch bedingt mit der Bestätigung eines Talents gleichzusetzen und umgekehrt. Und wäre es nur, weil immer öfter unklar ist, was höher zu werten sei: der Eintrag in den Wettbewerb oder eher eine Auswahl fürs Beiprogramm, die es von 1971 an gern mit sich bringt, dass der Titel auf der renommierten und strapazierten Piazza Grande laufen darf.

Trotz allem geht, von den Sechzigern an, den Veranstaltern und Juroren schleichend auf, was für ein Gewicht die nouvelle vague, die tschechoslowakische Autorengruppe um Forman, die Brasilianer, dann auch die Schweizer und etwas später die Engländer annehmen werden. Ähnlich wie seinerzeit Rossellini und De Sica geraten 1972 Ken Loach und sein Jünger Mike Leigh, die lebenslang konkurrierenden Sportskameraden, mit Family Life und Bleak Moments einander in die Quere. Der noch etwas weniger Bekannte von den beiden schwingt obenauf, und Leigh ist entdeckt, auf einen Schlag. Stephen Frears wird 1985 mit My Beautiful Laundrette folgen.

04219g05

(Bild: Stranger than Paradise)

Von Kubrick abgesehen haben es Amerikaner und Deutsche zunächst schwerer. Im Rahmen einer allerdings sehr belasteten Ausgabe erlebe ich 1971 mit, auf wie viel Achselzucken Woody Allen mit seinem frühen Take the Money and Run stösst, und zwar auch bei mir selbst. Der Komiker wird Locarno noch eine einzige Möglichkeit zugestehen, Abbitte zu leisten. Sie bleibt ungenutzt, 1984 mit Broadway Danny Rose. Hingegen setzen Spike Lee und Jim Jarmusch von 1983 an einer langen Geringschätzung ihrer Landsleute ein Ende, mit Joe’s Bed-Stuy Barbershop: We Cut Heads, der dann zu She’s Gotta Have it führt, und mit Stranger than Paradise, der Down by Law nach sich zieht. So lässt sich auch vom Off-Hollywood-Kino der USA sagen, Locarno habe es gerade noch erwischt. Die Deutschen müssen länger warten, eher schon bis über die letzten Ausläufer des Neuen Deutschen Films der sechziger und siebziger Jahre hinaus, um nicht zu sagen bis 1998 und etwa Kurz und schmerzlos von Fatih Akin.

Aller Herren Länder

Mit den siebziger Jahren beginnt eine immer weiter ausgreifende und bis heute andauernde Erschliessung neuer Provenienzen, bei Polen angefangen. Das Schlüsselland des nichtrussischen Osteuropa delegiert illumination von Krzysztof Zanussi, gefolgt von den frühen Werken Krzysztof Kieslowskis, Amator und Der Zufall. Mehr aber noch sind es dann die Beispiele aus Afrika, China und dem Iran, die nach 1980 mehr und mehr die Entwicklung mitlenken, nebst andern Baara und Yeelen von Souleymane Cissé, Gelbe Erde von Chen Kaige oder Wo ist das Haus meines Freundes? von Abbas Kiarostami.

Mit seinen Programmen aus aller Herren Ländern scheint Locarno immer etwa wieder begierig, fähig und drauf und dran, mindestens vorübergehend etwas von der Vorreiter-Rolle zurückzugewinnen, die ihm während der späten vierziger Jahre zugefallen war. Dabei ist es unterdessen fraglich, ob der Anspruch, das unüberblickbar gewordene weltweite Filmschaffen spiegeln zu können, noch von einer einzelnen Veranstaltung erhoben werden kann. Bloss, jene waren andere, ausserordentliche Tage: solche, die überhaupt erst geeignet waren, die Geburt des Festivals zu ermöglichen. Schon fünf oder sechs Jahre nach 1946 wäre, mit der ersten Erholung vom Krieg, jeder Anfang am Lago Maggiore zu spät gekommen.

Locarno stuehle

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2007 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Essay

25. Apr. 2016

Sans auteurs

In Les sauteurs filmt ein Migrant die Situation vor der spanischen Enklave Melilla und macht damit vor allem klar, dass ein abgeschottetes Europa ein Europa ohne Lust auf Bilder, auf Kino ist. Das Kino von morgen ist damit nicht mehr eines der europäischen ­«auteurs», sondern der «sauteurs» – der Springenden, der Migranten.

Essay

23. Apr. 2019

Zustände der Liebe

Der Kommissar Hanns von Meuffels ermittelt schon seit 2011 im ARD-SonntagabendKrimi Polizeiruf 110. Christian Petzold hat sich ab 2015 dieser Figur angenommen und sie in eine Liebesgeschichte verwickelt. Entstanden sind drei der aussergewöhnlichsten Fernsehfilme der letzten Jahre.