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Kino raetia 01

Lust und Frust im offenen Tal

Ein engagiertes Programmkino in einer Gemeinde, die ungefähr 2500 Einwohner zählt? Deren Kreis überhaupt nur auf etwa 5500 Seelen kommt? Das ist auf jeden Fall ein mutiges Unterfangen und eines, das, wenn es funktioniert, zurecht als kleines Wunder beschrieben werden kann.

Text: Veronika Rall / 01. Apr. 2010

Ein engagiertes Programmkino in einer Gemeinde, die ungefähr 2500 Einwohner zählt? Deren Kreis überhaupt nur auf etwa 5500 Seelen kommt? Das ist auf jeden Fall ein mutiges Unterfangen und eines, das, wenn es funktioniert, zurecht als kleines Wunder beschrieben werden kann.

In Thusis findet es noch immer statt und es hat bereits eine über fünfzigjährige Geschichte: Ende der fünfziger Jahre wird auf der Oberen Stallstrasse eben ein Stall (in dem einst vielleicht Pferde vor dem Übergang zur Via Mala gepflegt wurden) zu einen Kino ausgebaut; 1957 eröffnet funktioniert es bis 1987 als kommerzielles Kino mit einem Erstaufführungsprogramm. Als das nicht mehr rentiert, steht die Spielstätte vor dem Ende, aber eine Handvoll Kinobegeisterter sieht das als Chance: ein anderes Kino in die Provinz zu bringen, eines, das sich «deutlich vom üblichen Mainstream unterscheidet», einen Saal zudem, der sich vielfältigen kulturellen Veranstaltungen öffnet – literarischen Lesungen, Theateraufführungen und Diskussionsveranstaltungen.

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Seit 1991 finden hier die Weltfilmtage Thusis statt, seit 1993 die Alpinen Kulturtage. Das Kino, in dessen Eingangsbereich eine einladende Bar installiert ist, mausert sich zum Kulturtreff in Graubünden. Man öffnet den Einheimischen den Blick für die Welt; dem Flachländer umgekehrt den für die Belange des Alpenraums.

Das Wunder ruht auf zwei Säulen: Einerseits dem persönlichen und finanziellen Engagement der Mitglieder des «Vereins Kino Theater Rätia», die nicht nur jedes Jahr eine stattliche Summe in Beiträgen zusammenbringen, sondern auch eine unbezahlte Freiwilligenarbeit leisten – Programmation, Geschäftsführung, Bar- und Kassadienst, Gestaltung der Drucksachen und die Pressearbeit werden finanziell nicht abgegolten. Das sind jährlich etwa 1200 Stunden Gratisarbeit. Andererseits gibt es direkte Subventionen (so etwa von der Gemeinde Thusis) und indirekte Quersubventionen: Für die Weltfilmtage etwa wird das Kino (das die Betreiber selbst mieten) an deren Trägerschaft weitervermietet, die selbst zum grossen Teil von der DEZA, der Kulturförderung des Kantons Graubünden und weiteren Sponsoren getragen wird. Das sind sichere Einnahmen, die der Verein braucht.

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An Engagement fehlt es bis heute nicht: Jeweils von Donnerstag bis Sonntag öffnet das Kino für zwei Filme in sechs Vorstellungen die Türe, mit Riesenerfolg läuft beispielsweise im Januar 2010 Die Päpstin, aber auch Die Frau mit den 5 Elefanten bringt es in zwei Vorstellungen immerhin noch auf über vierzig Besucher. Die Kindervorstellungen der «Zauberlaterne» sind gut besucht, und auch das Programm fürs ältere Publikum findet Anklang. Aber in Zeiten der schmalen Kassen bricht die Quersubventionierung weg: Die Alpinen Kulturtage gibt es nicht mehr; das Budget für die Weltfilmtage wird immer knapper und soll gar ganz gestrichen werden. Er sei es langsam müde, sagt Ueli Soom – ein Vereinsmitglied der wenn nicht ersten, so mindestens der zweiten Stunde –, fürs Geld «z’umeseckle». Nur widerwillig wird der Cinephile zum Buchhalter, lieber würde er sich über spannende Kinoprogramme beugen.

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Neue finanzielle Konzepte für das Kino zu entwerfen, scheint dabei so schwierig wie für die Gemeinde Thusis, eine neue Identität zu finden: Einst ein blühender Übergangsort zwischen Tal und Berg, an dem sich Touristen akklimatisierten und Gewerbetreibende samt dem Vieh eine Pause einlegten, rauscht der Verkehr heute an Thusis vorbei und verursacht eher Dreck und Gestank statt Umsatz. Gleichzeitig beschreibt Soom die Gegend als «offenes Tal»; die vielen Übergänge haben sich auch ins Bewusstsein der Menschen, die hier leben, und der Menschen, die hier immer wieder neu ankommen und bleiben (man zählt einen Ausländeranteil von circa 25 Prozent, das ist mehr als in manchen Schweizer Grossstädten), eingeschrieben. Diese Offenheit kann das Kino Rätia zwar aufnehmen und widerspiegeln, allein finanziell tragen kann es dieses Engagement nicht. Es wäre ein kulturpolitisches Gebot der Stunde, dass die öffentliche Hand die vorhandenen Kräfte nutzt und weiter subventioniert.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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