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«Weg von diesen sympathischen Filmfiguren!»

«Vom herrschenden Zwang zu sympathischen Figuren, der dem deutschen und dem Schweizer Film zu achtzig Prozent eingebrannt ist, wollen wir konsequent weg. Das kann nicht funktionieren, so sympathische Figuren will doch niemand wirklich sehen! Unsere Filme müssen sich mehr mit dem Bösen auseinandersetzen.»

Text: Martin Walder / 01. Juni 2012

FILMBULLETIN Mary & Johnny beginnt als Theatermonolog im Dunkeln, aus dem sich dann der Film gewissermassen belichtet: Die Standards des Erzählkinos so zu brechen hat ja wohl Methode?

SAMUEL SCHWARZ Ja, aber nicht intellektuell im Sinne eines Konzeptfilms. Es ist ein volkstümlicher Film! Wir leben in einer Zeit der Weltwirtschaftskrise, und das war ja auch der Stoff von Horváths Stück «Kasimir und Karoline». Die Figur des Erzählers, des Ganoven Mischa in seiner dunklen Gefängniszelle, ist quasi die Seele des Films. Der verkörpert den voyeuristisch zwiespältigen, erlebnissüchtigen Blick des Zuschauers, der nicht liebend ist, sondern eben auch den Ludern und Zuhältern zugetan – als ganz heilige und zugleich ganz böse Instanz.

FILMBULLETIN Unser Auge soll sich also keinen Illusionen hingeben?

SAMUEL SCHWARZ Dieses Auge ist ja eigentlich bei jedem Film gegeben, wir haben es halt benannt. Darin sind wir nicht die einzigen: Mary & Johnny hat eine spezifische Referenz zu den schmutzigen Filmen aus England wie Trainspotting mit seinen zwiespältigen Helden. Denn vom herrschenden Zwang zu sympathischen Figuren, der dem deutschen und dem Schweizer Film zu achtzig Prozent eingebrannt ist, wollen wir konsequent weg. Das kann nicht funktionieren, so sympathische Figuren will doch niemand wirklich sehen! Unsere Filme müssen sich mehr mit dem Bösen auseinandersetzen. Sympathisch! Dieses Adjektiv wäre im Gebrauch der Beurteilungsgremien zu streichen, und unser Filmschaffen würde gewinnen.

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FILMBULLETIN Mischa in seinem Zellenmonolog stellt sich als billigen, dreckigen Film vor, wie die Geschichte von Mary und Johnny auf dem Rummelplatz zu erzählen wäre. Ist dies Ihr Programm?

SAMUEL SCHWARZ Ja, aber auch wenn man mit Millionenbudgets arbeitet, muss man sich dieser Ambivalenz zwischen dem Bösen und dem Mitleid stellen. Selbst US-Blockbuster, die als Romantic Comedy enden, arbeiten unterwegs mit den dunkelsten Wendungen, um dann den Kontrast überhaupt herstellen zu können. Da wollen wir hin und eine eigene Sprache finden – was übrigens nicht ohne genaues Studium von «Oedipus», «Der zerbrochene Krug» oder «Hamlet» geht…

FILMBULLETIN Ihre Produktionsfirma kamm(m)acher GmbH hat sich auf neue Ansätze, auf mediale Grenzüberschreitungen spezialisiert.

SAMUEL SCHWARZ Ich glaube schon, dass wir mit unseren Erfahrungen prädestiniert sind für den transmedialen Ansatz, der jetzt in aller Leute Mund ist. Schliesslich haben wir schon in unserer bisherigen Arbeit versucht, Debatten ausserhalb des Theaterraums zu etablieren. Und nun merken wir, dass wir mit den in den letzten zehn Jahren entwickelten Techniken gerade richtig liegen – mit Manifestationen in der Realität, im Internet, auf Bühne und Leinwand. Da haben wir nun einen Vorsprung, und die Branche merkt’s langsam.

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FILMBULLETIN Was hat Mary & Johnny dabei für einen Stellenwert?

SAMUEL SCHWARZ Als Visitenkarte, als Eintrittsticket sozusagen: dass wir es schaffen, einen Film ins Kino zu bringen – bei nur neun Drehtagen und ohne Geld. Und wir starten jetzt zur Fussball-EM eine Internetkampagne zu Themen wie Genderverhalten bei Fussball, Ausbrechen aus langweiligen Beziehungen, Eskapismus. Wir wollen unsere Filmfiguren in EM-Blogs einschmuggeln und sie so die Themen im Netz verbreiten lassen, bis sie sich dann kurz vor dem Filmstart outen.

FILMBULLETIN Ein spielerischer Anfang also?

SAMUEL SCHWARZ Ja, und bald wird es um grössere Budgets gehen, und da gilt es, einen guten Mix zwischen öffentlicher und privater Förderung zu finden. Wir sind nicht einfach marktgläubig, müssen aber den Markt verstehen und mit ihm zu spielen lernen, um uns von diesen Fördergremien zu emanzipieren, die leider immer noch auf Misserfolg programmiert sind. Unser Behördenwesen mit seinen Kommissionen geht nicht von einer Übernahme von Verantwortung, sondern mit seinen stets wechselnden Zuständigen einer Verschleierung von Verantwortung aus. Ich bin ein grosser Anhänger staatlicher Filmförderung, aber so, wie sie jetzt funktioniert, betreibt sie Branchenförderung statt Filmförderung.

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FILMBULLETIN Spricht hier die Frustration, keine öffentlichen Mittel von Bund oder Zürcher Filmstiftung zugesprochen erhalten zu haben?

SAMUEL SCHWARZ Nein, wir wollten das von Anfang an so machen. Und wenn ich in Opposition zur herrschenden Filmförderung gehe, tue ich das nicht mit dem Zorn des Wutbürgers. Startpunkt war die Euro 08, und es ging um die quasi militärische Vereinnahmung des öffentlichen Raums durch private Firmen am Beispiel auch der Fifa – da spielt das Thema von Horváths «Kasimir und Karoline» mit seiner Liebesgeschichte hinein. Durch die einbrechende Finanzkrise hat sich das Thema verschärft. Diese Verbindung zwischen Kommerz, Liebesgeschichte und Fussball zu zeigen, wollten wir nicht zuwarten.

FILMBULLETIN … was Sie dann doch bis zur WM 2010 in Südafrika getan haben.

SAMUEL SCHWARZ Ja, im Zusammenhang mit dieser spannenden Afrika-Kolonialisierung, der Vereinnahmung von Körpern durch die Fifa, und angesiedelt hier in dieser Festzone des gleichzeitigen Zürifäschts mit ihren Prekariatsfiguren, kleinen Angestellten. Doch spürten wir, dass diese Art von Symbolen und spielerischer, nicht explizit zeitkritischer Thematisierung, dass dieser Mix von Glamour und sublimierter Zeitkritik zwischen den Zeilen von den Kommissionen nicht im Ansatz verstanden wurde. Stellt man dort einen zeitkritischen Film in Aussicht, so sind Figuren erwünscht, die sagen: «Wir machen einen zeitkritischen Film!» So beschlossen wir, uns auf dem Markt, mit privaten Geldern – Teleclub, Jelmoli, Crowdfunding und mein Kulturpreis des Kantons Zürich – zu finanzieren und den latenten Widerspruch im Film bestehen zu lassen.

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FILMBULLETIN Aber bei der Filmförderung eingegeben haben Sie?

SAMUEL SCHWARZ Natürlich, wenn auch ohne grosse Hoffnung. So blieb eben als einzige Chance der Tatbeweis! Nimmt man zum Beispiel für die Hauptrolle eine Ex-Miss Schweiz, die noch nie gespielt hat, und bringt sie mit Leuten aus der freien Szene zusammen, die dann mit dieser Ikone zu spielen anfangen, resultiert daraus eine Mischung, die eben nicht in Dossiers, sondern allein durch das Wagnis kommunizierbar ist.

FILMBULLETIN Wobei die Ex-Miss nicht als solche, sondern als Schauspielerin auftritt …

SAMUEL SCHWARZ … aber jeder Schweizer Mann in ihr doch erst mal die Ex-Miss sieht! Das kriegt man nicht weg. Nichts ist so übersexualisiert wie dieser Blick auf die Miss Schweiz, und da entsteht Auseinandersetzung mit einem Fetisch. Mischas Perspektive als Erzähler ist dabei jene des hämischen Zuschauers, der mit der von ihr verkörperten Figur auch die Miss scheitern sehen will. Und da Nadine Vinzenz sehr gut spielt, strauchelt ihre Figur Mary auf hohem Niveau, was einen kathartischen Effekt erzeugt.

FILMBULLETIN Dies klingt sehr sophisticated.

SAMUEL SCHWARZ Und das ist genau der Punkt: Wir müssen unglaublich sophisticated und unglaublich volkstümlich zugleich sein…

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FILMBULLETIN … was mir Ihre Faszination für den Dramatiker Horváth zu erklären scheint. Sie hatten ja bereits «Italienische Nacht» halbszenisch auf die Bühne gebracht.

SAMUEL SCHWARZ Absolut. Jenes Stück ist auch Grundlage unseres nächsten Filmprojekts, das durch die Neue Rechte wieder an Aktualität gewinnt. Mit ihr und der antifaschistischen Bewegung des einundzwanzigsten Jahrhunderts im Osten haben wir uns im Dokumentarfilm aufstand der unanständigen, einer Arbeit für 3sat, auseinandergesetzt – just zur Zeit, als die Zwickauer Zelle unterwegs war. Jetzt aber wird es um einen Spielfilm gehen.

FILMBULLETIN Mary & Johnny spielt inmitten grölender Fans und rasender Achterbahnen auf dem realen Rummelplatz des Zürifäschts, und zwar am 12. Juli 2010, als Holland und Spanien sich im WM-Final gegenüberstanden. Wie authentisch ist der Film?

SAMUEL SCHWARZ Wir hatten nur drei Tage mit dieser Gleichzeitigkeit von Fussball, Rave und Chilbi und drehten dann alles, was in der Festzone spielt. Parallel dazu war ein Film-Set in der Binz aufgebaut, und es galt, am Ende beides organisch zusammenzubringen. Das wird in der Kinofassung gegenüber der bereits gezeigten Festivalfassung noch geschliffen und da und dort neu montiert.

FILMBULLETIN Man muss genau hinschauen, um zu merken, dass beim Public Viewing etwa Dialog-Reaktionen auf ein Tor in Schnitt und Gegenschnitt montiert sind, also inszeniert sein müssen.

SAMUEL SCHWARZ Wir hatten einen Pulk von Statisten, die mal Raver, mal Spanier, mal Holländer spielen … Andere wieder wirken wie Statisten, sind aber keine, und wir haben Gesichter gepixelt. Allerdings auch von unseren Leuten – mit dem durchgehenden Effekt von etwas Unheimlichem.

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FILMBULLETIN Haben Sie auf dem Festgelände selber Takes wiederholt?

SAMUEL SCHWARZ Eben nicht. Die Schauspieler waren instruiert, dass sie nur mentale Abläufe würden spielen können, je nach dem, was passiert. Das wurde geprobt: Wie reagieren, wenn dir einer beim Vorbeigehen auf den Kopf haut? Cool bleiben, drinbleiben! Wir haben dann ja sowieso achtzig bis neunzig Prozent der ganzen Chilbi-Klangwelt nachsynchronisiert.

FILMBULLETIN Die Tonspur ist äusserst raffiniert: Die Fans skandieren plötzlich nicht mehr auf den Match, sondern auf die Story bezogen «aar-bets-loos», oder der TV-Speaker im Hintergrund wendet sich direkt an den armen Johnny …

SAMUEL SCHWARZ … das bin ich selber (lacht) … Die Tonebene ist die halbe Miete, und Michael Sauter ist ein hervorragender Sound Designer und auch Komponist. Aber nicht mal für die Postproduktion haben wir vom Bund im Nachhinein Geld bekommen …

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FILMBULLETIN Wie geht es weiter?

SAMUEL SCHWARZ Mit einem Spielfilm namens Der Polder, bei dem der transmediale Ansatz schon von Anfang an ins Projekt eingebunden ist: mit Alternate Reality Game (ARG), also Spiel mit wechselnden Realitäten, im Stadtraum, Rätselkampagne im Netz, mit Blogs. Der Kinofilm ist dabei nur eine Plattform unter anderen. Es wird ein Science Fiction-Film, eingepackt als Thriller, zum Thema Simulationsgesellschaft im Sinne von Baudrillard, wonach alternative, computierbare Gegenwelten die Realität zu ersetzen beginnen. Ein tiefgründiges Thema bei einem Millionenbudget, realisiert in Koproduktion mit dem SWR.

Wir wollen weg von der Vorstellung, Blockbuster seien blöd konzipiert. Filme wie The Silence of the Lambs oder Inception arbeiten genau mit solchen Ansätzen, fangen mit dem Höhlengleichnis an und enden im Actionfilm. Das versuchen wir jetzt auch.

Das Gespräch mit Samuel Schwarz führte Martin Walder

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(Bild: Samuel Schwarz)

400asa / Kamm(m)acher GmbH

1998 gründeten Samuel Schwarz, Lukas Bärfuss und Udo Israel die Gruppe 400asa. Auf erste Hörspielproduktionen mit minimalstem Budget (etwa Reihe «Röstiblitz») folgt die Low-Budget-Theaterproduktion «Italienische Nacht» nach Ödön von Horváth und das Manifest «Bekenntnis99», ein Regelwerk für einfaches und billiges Theatermachen. Mit ihrer zweiten Theaterproduktion «Medeää» (nach Lars von Trier) gewann 400asa 2000 den ZKB-Preis am Zürcher Theaterspektakel. An der Expo.02 beteiligten sie sich mit «Affentheater». Es folgten Stücke wie «Meienbergs Tod», «B. – ein Stück über Sport und Behinderung» und «La cérémonie» (inspiriert von Claude Chabrols gleichnamigem Film). Die Truppe will ihr Theater «immer politisch, komisch und rhythmisch». Im Rahmen des Laborprojekts «Die letzte Chance» beschäftigte sich 400asa mit dem Schweizer Film und entwickelte Filmstoffe, um das Schweizer Filmschaffen «von seiner für moderne Menschen schwer erträglichen Provinzialität zu befreien». 2005 wurde von Meret Hottinger und Samuel Schwarz die Kamm(m)acher GmbH als 400asa nahe, aber unabhängige Filmproduktion gegründet. Mary & Johnny ist erster Teil einer dreiteiligen Reihe von Filmen, die ihre Inspiration von Theaterstücken beziehen. Im Zentrum von Teil zwei «Sepp» soll – frei nach «Richard III.» von William Shakespeare – die Figur eines zwielichtigen Fussballmanagers stehen; Teil 3 «Mischas Rückkehr» wird – inspiriert von «Hamlet» von Shakespeare – die Figur Mischa aus Mary & Johnny weiterentwickeln. Aktuell ist das Science-Fiction-Projekt Der Polder in der Schlussphase.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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