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Der Schweizer Film kann gar nicht besser sein

Ich habe das Gefühl, dass das, was ich hier sagen will, von Kritikern aus der Schweiz eher selten geschrieben wird. Man kann es in einem Satz zusammenfassen: Der Schweizer Film ist besser als sein Ruf.

Text: Andreas Kilb / 01. Juli 2012

Seit 2009 fahre ich jedes Jahr im Januar nach Solothurn, um Schweizer Filme zu sehen und mit Kollegen über das Kino in der Schweiz zu reden. Und bis vor ein paar Jahren gehörte ich zu den regelmässigen Gästen des Filmfestivals von Locarno, wo ich freilich vor allem den Wettbewerb und das Piazza-Programm verfolgt habe. Ansonsten bin ich, was Filme aus der Schweiz angeht, auf das Angebot der deutschen Verleiher angewiesen, die selten mehr als drei oder vier eidgenössische Produktionen pro Jahr ins Kino bringen. Meine Qualifikation als Kolumnist zur Lage der Filmkultur in der Schweiz ist also, gelinde gesagt, zweifelhaft, meine Expertise bewegt sich auf dünnem Eis. Dennoch traue ich mich, in der Sache das Wort zu ergreifen, denn ich habe das Gefühl, dass das, was ich hier sagen will, von Kritikern aus der Schweiz eher selten geschrieben wird. Man kann es in einem Satz zusammenfassen: Der Schweizer Film ist besser als sein Ruf.

Mein Eindruck aus vier Jahren Solothurn und etlichen Jahren Locarno ist, dass die Schweizer nie so richtig zufrieden mit ihrem Filmschaffen sind. Sie hätten es gern weltläufiger, internationaler, intellektueller, genrehafter, marktbewusster, avantgardistischer, autorenmässiger und so fort. Es ist natürlich klar, dass sich einige dieser Kategorien gegenseitig ausschliessen. Und es ist ebenso klar, dass in vielen kleineren Filmnationen Europas – in Dänemark, Schweden, Österreich, Italien, aber auch in Deutschland – genau so über das einheimische Kino geredet wird. Aber in der Schweiz kommt noch etwas Besonderes hinzu. Denn die Schweizer sehnen sich nach Zusammenhalt, nach kultureller Einheit. Sie wollen, dass mehr französisch- und italienischsprachige Schweizer die Filme der Deutschschweiz sehen und mehr Deutschschweizer die Filme aus der italienischen und französischen Schweiz. Sie wollen Christoph Schaub nach Genf bringen und Ursula Meier nach Zürich. Für ein Land, das vier offizielle Amtssprachen und fast ein Viertel ausländische Einwohner hat und sich sein Selbstbestimmungsrecht in Jahrhunderten gegen die grossen europäischen Mächte ertrotzen musste, ist das verständlich. Denn hinter den kulturellen Unterschieden droht immer das Gespenst der politischen Spaltung. Die Referenden gegen Moscheebau und Ausländerwahlrecht könnten sich auch einmal gegen die staatliche Einheit der Schweiz richten. Und gehört nicht ein Film wie Sophie Heldmans Satte Farben vor Schwarz schon aufgrund seiner Schauspieler und seiner Finanzierung eigentlich mehr zum deutschen und Jean-Luc Godards Gesamtwerk aus alter Gewohnheit zum französischen Kino?

Auf solche unausgesprochenen oder auch offen gestellte Fragen trifft man immer wieder, wenn man mit Schweizer Filmleuten redet. Und natürlich ist «der Schweizer Film» als Ganzes – als Projektionsfläche von gemeinsamen kulturellen, filmgeschichtlichen und lebensweltlichen Traditionen – eher eine Wunschvorstellung als eine Realität. Trotzdem sollte man es mit der Einswerdung und inneren Verschmelzung des helvetischen Filmschaffens nicht übertreiben. Denn eigentlich ist es doch ganz gut, dass es zwei Schweizer Filmkulturen gibt. Dass sich neben dem krachledernen Alpengrusel von Michael Steiners Sennentuntschi die leiseren, aber ebenso dramatischen Töne von Séverine Cornamusaz’ Cœur animal behaupten. Dass Lionel Baier ebenso seinen Platz findet wie Peter Liechti. Dass Christoph Schertenleib und Ursula Meier zwei völlig verschiedene Blicke auf die Wirklichkeit ihres Heimatlandes werfen. Und dass Schweizer Regisseure Filme mit einem Mehrheitsanteil von deutschen, französischen oder italienischen Produktionsmitteln drehen. Die Mehrsprachigkeit verbindet die Schweizer viel stärker mit der Welt, als sie die einzelnen Sprachgruppen voneinander trennt. Sie ist das Fenster, durch das immer wieder frische Luft ins abgeschottete Schweizer Bewusstsein dringt. Ohne sie wäre die Schweiz nur ein grösseres Liechtenstein, ein reicherer Zwilling von Österreich.

Und vielleicht ist selbst das oft beklagte bescheidene Budget, mit dem Schweizer Produktionen in aller Regel zurechtkommen müssen, nicht nur ein Nachteil, sei es im künstlerischen oder im kommerziellen Sinn. Im April war ich in Berlin bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises, der mit insgesamt drei Millionen Euro höchstdotierten Kino-Trophäe der Welt. Seit sieben Jahren werden die Auszeichnungen in freier und geheimer Wahl von der 2003 gegründeten Deutschen Filmakademie vergeben. In diesem Jahr gewann Roland Emmerichs Kostümspektakel Anonymous, das im Herbst 2009 mit gewaltigem Aufwand in den Babelsberger Filmstudios gedreht worden war, die Auszeichnungen in sämtlichen technischen Kategorien: Kamera, Ton, Schnitt, Kostüme, Masken- und Szenenbild. Erst nach der Verleihung erfuhr ich, dass beinahe ein Sechstel der gut tausend Akademiemitglieder in irgendeiner Form bei Emmerichs Film mitgewirkt hat. Grosse Produktionen in mittelgrossen Filmländern sind also nicht immer von Vorteil. Sie ziehen Fördergelder von anderen Projekten ab, und sie spiegeln ein falsches Bild von der wirklichen Lage in der Kinobranche. Dass Roland Emmerich ein deutscher Regisseur ist, steht ausser Frage. Dass seine Filme keine deutschen Filme sind, ebenso.

Die Schweizer haben vorerst keinen Grund, sich um die finanzielle Situation und die künstlerische Bedeutung ihres Kinoschaffens zu sorgen. Gerade im Vergleich mit der scheinbar so mächtigen Filmnation Deutschland stehen sie ziemlich glänzend da. Auf der Berlinale lief in diesem Jahr zwar nur ein Schweizer Film neben drei deutschen Produktionen im Wettbewerb. Aber dieser eine, Ursula Meiers L’enfant d’en haut, war der Favorit der internationalen Filmkritik und gewann verdientermassen einen Silbernen Bären, während von den drei deutschen Beiträgen nur Christian Petzolds Barbara (mit dem Regiepreis) ausgezeichnet wurde. Im Ländervergleich steht es also Eins zu Eins. Für die Schweiz ist das ein schönes Ergebnis.

Andreas Kilb

Filmkritiker bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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