Filmbulletin Print Logo
Carolerinnerung01

Schlichte Vertonung intimer Gefühle (Carol)

Trotz der melodramatischen Ausgangslage einer gesellschaftlich unmöglichen Liebe trumpft Carer Burwell, der seine Partituren nach wie vor selbst orchestriert, in Carol von Todd Haynes nie mit schwelgerischer Symphonik auf. Er reiht sich mit den harmonisch schlichten Stücken in eine kammermusikalische Filmmusiktradition ein, die Elmer Bernstein, der für Haynes’ Far from Heaven seinen letzten Score geschrieben hat, 1962 mit To Kill a Mockingbird zur Blüte brachte.

Text: Oswald Iten / 14. Dez. 2015

Noch vor der ersten Aufblende evozieren Geräusche eine Bahnhofsszene. Zu sehen bekommen wir jedoch vorerst nur ein beinahe grafisch flaches Gitter, vor dem in langsam wechselnden Pastellfarben die Credits erscheinen. Dazu entfaltet sich melancholische Musik, über deren trügerisch einfacher Akkordfolge eine Klarinette mit samtenem Ton zu einer schlichten Sehnsuchtsmelodie ansetzt. Im Verlauf einer langsamen Rückwärtsbewegung der Kamera entpuppt sich der ornamentale Gitterrost tatsächlich als Lüftungsschacht am Ausgang eines Bahnhofs. In derselben Kranfahrt folgt die Kamera nun einem Mann, der sich eine Zeitung kauft und das gegenüberliegende Restaurant betritt. Die von einer wehmütigen Oboe übernommene Melodie endet schliesslich ohne harmonische Auflösung, nachdem der Mann während eines kurzen Wortwechsels mit dem Barkeeper zufällig die junge Therese entdeckt hat, von deren Beziehung zur verführerischen Carol die eigentliche Geschichte handeln wird.

 

Mit den Eisenbahngeräuschen als Motiv für unterdrücktes Begehren stellt Carol über die Tonspur einen Bezug zur Eröffnungsszene von David Leans Brief Encounter her, die Regisseur Todd Haynes hier offen zitiert. Ebenso bekommen wir, analog zum Rachmaninoff-Stück bei Lean, schon einen musikalischen Einblick in die Gefühle der Liebenden, bevor wir sie zum ersten Mal sehen. Da Carol im Gegensatz zu Brief Encounter aber auf innere Monologe der Protagonistin verzichtet, erhalten nonverbale Informationen wie Blicke, Gesten oder Farben viel mehr Gewicht. Mit der zwischen Zweier- und Dreierbetonung schwankenden Klavierbegleitung des musikalischen Liebesthemas gelingt es dem Komponisten Carter Burwell, jenes Taumeln zwischen Hochgefühl und quälender Unsicherheit zu vermitteln, für das die Frauen in ihrer Konversation keine Worte finden.

Harmonische Schlichtheit

Trotz der melodramatischen Ausgangslage einer gesellschaftlich unmöglichen Liebe trumpft Burwell, der seine Partituren nach wie vor selbst orchestriert, nie mit schwelgerischer Symphonik auf. Stattdessen instrumentiert er die Stücke, deren harmonische Schlichtheit an seine Bearbeitung protestantischer Kirchenlieder für True Grit (2010) erinnert, kammermusikalisch mit Streichquartett, Kontrabass, Klavier, Klarinette und einer gitarrenartig eingesetzten Harfe. Selbst wenn er die Streicherbesetzung bisweilen verdoppelt und um zusätzliche Holzbläserklangfarben ergänzt, wirken die Aufnahmen stets intim. Burwell reiht sich damit in eine kammermusikalische Filmmusiktradition ein, die Elmer Bernstein, der für Haynes’ Far from Heaven (2002) seinen letzten Score geschrieben hat, 1962 mit To Kill a Mockingbird zur Blüte brachte.

Carolyoubelongtome

Das Abdriften in die innere Welt kommt auch anhand von akustischen Ereignissen zum Ausdruck. Mehrmals sind Geräusche einer folgenden Szene schon vor dem visuellen Schnitt zu hören, was dem Zuschauer das Gefühl vermittelt, aus einem Tagtraum gerissen zu werden. Das Umgekehrte geschieht, als sich die geistesabwesende Therese während einer Taxifahrt anhand von Eisenbahngeräuschen aus dem Off an ihre erste Begegnung mit Carol erinnert. Wie sich herausstellt, stammt das szenenüberlappende Geräusch nämlich von einer Modelleisenbahn, die Carol in jener Spielwarenabteilung kauft, wo Therese zu permanenter Orgelfahrstuhlmusik als Weihnachtsaushilfe arbeitet.

Kommentierende Liedtexte

Wie schon bei Velvet Goldmine (1998) und Mildred Pierce (2011) arbeiteten Haynes und Burwell wiederum mit dem Music Supervisor Randall Poster zusammen. Die ausschliesslich innerhalb der Diegese erklingenden Jazz- und Popsongs stammen grösstenteils von kleinen Formationen und lassen den Zeitgeist der frühen Fünfzigerjahre aufleben. Gleichzeitig kommentieren die Texte Thereses Befindlichkeit. Wie so manche Protagonistin des amerikanischen Melodrams lässt auch Therese ihren Gefühlen am Klavier freien Lauf. Ihre zaghafte Darbietung von «Easy Living» gerät jedoch ins Stocken, als ihr Carol in einer ersten zärtlichen Berührung die Hände auf die Schultern legt. In der Folge wird dieser Song zum Liebesmotiv. Während Therese in Patricia Highsmiths Romanvorlage «Easy Living» bei Carol entdeckt, ist sie es hier selbst, die Carol jene Aufnahme von Billie Holiday schenkt, die ihre glücklichen Momente begleitet.

 

Ein grosser Teil der gemeinsamen Szenen spielen sich im Auto ab, weshalb dem Autoradio eine wichtige Rolle zukommt. Als sie auf dem Weg zu Carols Anwesen durch einen Tunnel fahren, gibt sich Therese ihrer Verliebtheit erstmals voll hin. Was Highsmith im Buch mit einprägsamen Sätzen vermittelt, gelingt im Film mit einer traumartigen Vermischung von fragmentierten Nahaufnahmen und Überblendungen zum unverwüstlichen Standard «You Belong to Me». Poster hat dafür anstelle der bekannten Interpretation von Jo Stafford eine ebenfalls 1952 enstandene Version von Helen Foster ausgegraben. Burwell hüllt Fosters Stimme allerdings in surreal verfremdete Klavierklänge, die die eigenwillige Doo-Wop-Begleitung fast vollständig verdecken. Solch sphärische Klänge bilden die Grundlage von Burwells zweitem musikalischem Thema, mit dem er Thereses Faszination für Carol und schliesslich ihre Entwicklung zur selbstbestimmten Frau vertont. Der entrückende Effekt des Klavierspiels rührt daher, dass Burwell die an Beethovens «Mondscheinsonate» erinnernden Arpeggios mit sehr viel Hall und liegenden Streicherklängen verschmilzt, während er die hell perlenden Einzeltöne der rechten Hand mit mehrfachem Echoeffekt versetzt.

Lähmende Leere

Viel durchsichtiger klingt Burwells dritter musikalischer Gedanke, der für den Trennungsschmerz steht. Damit hat der Komponist nach eigenen Angaben versucht, anstatt der emotionalen Aufgewühltheit die lähmende Leere zu vertonen. Mit statisch wirkenden Quarten und Quinten gelingt ihm tatsächlich eine Grundstimmung, die den Zuschauer anregt, die Bilder mit eigenen Gefühlen aufzuladen. Am deutlichsten erklingt dieses Leerethema, nachdem Carol die Beziehung aus der Ferne beendet hat. Zuerst nur vom Klavier mit stark verzögertem Echo gespielt, strukturieren die nacheinander von verschiedenen Registern aufgegriffenen Intervallfolgen eine Montagesequenz von Thereses Leidenszeit. Aus dem Off hören wir dazu Ausschnitte aus Carols Abschiedsbrief. Hier zeigt sich einmal mehr, wie sehr Cate Blanchetts Ausstrahlung immer auch vom nuancierten Einsatz ihrer elegant gebieterischen Stimme lebt.

 

Doch wie sich nach Thereses von Jo Staffords «No Other Love» ausgelösten Bewusstwerdung zeigen wird, ist es musikalisch nur ein kleiner Schritt von den offenen Intervallen des Leeregefühls zurück zur Akkordfolge des Liebesthemas.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Soundtrack

02. Nov. 2015

Klassische ­Filmmusik im Zeitalter des ­Sounddesigns

Während die eingängigen Themen und Motive von Raiders of the Lost Ark wohl den meisten Zuschauern im Ohr bleiben, zeigt sich eigentliche Meisterschaft des Komponisten John Williams in seiner Fähigkeit, bildgenau auf visuelle und emotionale Bewegungen zu reagieren, ohne den musikalischen Formwillen dem Effekt zu opfern. Gerade wegen dieser Nähe zur scheinbar redundanten Kompositionspraxis von Max Steiner und Erich Wolfgang Korngold wird John Williams von der seriösen Filmkritik oft vorschnell als reaktionär ignoriert. Ein genaues Hinhören lohnt sich: Soundtrack-Analyse mit Beispielen.

Soundtrack

07. Juni 2016

Satie im Kino des 21. Jahrhunderts

Zum 150. Geburtstag Erik Saties am 17. Mai 2016 beleuchtet Oswald Iten, wie Saties «Gymnopédies» und «Gnossiennes» als Filmmusik eingesetzt werden. Warum eignen sich Saties Stücke über hundert Jahre nach ihrer Entstehung offenbar so gut als Filmmusik? Ein Streifzug durch das Autorenkino des 21. Jahrhunderts …

Soundtrack

05. Mär. 2016

Erschaffung einer Klangwelt (Mad Max: Fury Road)

Die illusionistische Wirkung moderner Blockbuster basiert oft eher auf der engen Bild-Ton-Beziehung als auf inhaltlicher Realitätsnähe. So scheinen in George Millers Mad Max: Fury Road Geräusche, Stimmen, ja sogar die Musik organisch in der gezeigten Welt verankert, obwohl ihr Ursprung von dem der Bilder bisweilen so weit entfernt ist wie der Automotor vom damit unterlegten Warner Bros Logo. Ist die Synchronität jedoch gewahrt, akzeptieren wir als Zuschauer auch absurde Kombinationen als reale Vertonung der fiktiven Welt.