Weltpremiere an der Eröffnung der 55. Solothurner Filmtage. Freilich schaute vor allem die Schweizer Kulturszene zum Feier mit Micha Lewinskys Moskau Einfach! vorbei. Schliesslich drehte sich der Abend auch um ein Stück jüngere Schweizer Geschichte. Fast zu gut aufgelegt für das etwas triste Jubiläum des Fichenskandals war am Mittwoch Bundesrat Alain Berset in seiner Rede. Er stimmte mit bekannten Anekdoten aus Fichen («Trinkt abends gerne ein Bier»), die den Skandal auf saure Weise niedlich erscheinen lassen, auf den Eröffnungsfilm ein.
Vor dreissig Jahren – am Vorabend des Mauerfalls – angesiedelt, erzählt Moskau Einfach! von einer Zeitenwende, in der auch die Schweizer_innen ihr Verhältnis zum Staat neu definierten. Zeitgleich mit den internationalen Umwälzungen schüttelte der Fichenskandal mit seinen 900’000 Akten über meist unbescholtene (und linksgerichtete) Bürger das Land durch.
Durchschüttlen will auch Lewinsky – wenn auch mehr mit Lachern als mit knallharter Historie.

Man kann Moskau Einfach! vorwerfen, dass er den Fichenskandal nicht gebührend ernst nimmt. Man kann ihm vorwerfen, dass er nicht genug in unseren Eingeweiden wühlt, um eines der brisantesten staatspolitischen Kapitel der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abzuhandeln. Die Zuschauerin tritt nach dem Film nicht nachdenklich auf die Strasse und schaut sich paranoid nach einem Schnüffler um. Vielleicht ist das eine Chance, die Micha Lewinsky vertan hat. Dann wiederum ist der Regisseur nicht bekannt für tiefschürfende Dramen – konsequenterweise kommt die Moral in Moskau Einfach! im leichten Mantel daher.
Eine konsequente Komödie
Lewinsky hat eine recht konventionelle Komödie gedreht. Der Plot birgt kaum Überraschungen. Dennoch trägt die Geschichte seine Protagonist_innen gekonnt über anderthalb Stunden und verwebt die echte, grosse Politik leichtfüssig mit fiktiven, persönlichen Schicksalen. Moskau Einfach! macht in diesen Grenzen fast alles richtig.
Im Zentrum der Erzählung steht Philippe Graber in der Rolle von Viktor Schuler, einem Spitzel der Bundespolizei, der im «subversiven» Zürcher Schauspielhaus eine Verschwörung mit Verbindungen zur am Rande ihrer Existenz stehenden Sowjetunion riecht. Verdeckt schleust sein Chef und zur Karikatur ausgestaltete Kalte Krieger (Mike Müller) seinen naiven Sprössling in die Produktion des deutschen Regisseurs Heymann (Michael Maertens) ein. Passend und auch nicht zufällig probt die Truppe ein Shakespeare-Stück über – wie könnte es anders sein – Lügen und Intrigen. Die Leichtigkeit, mit welcher der englische Meister seine gesellschaftskritischen Stücke erzählte, scheint Moskau Einfach! Pate gestanden zu haben.

Bald wird dem Maulwurf klar, dass der grosse Skandal, den er in der Theaterwelt witterte, ein vom Staatsapparat induziertes Hirngespinst war. Dafür verliebt er sich in die charmante Schauspielerin Odile Lehmann (Miriam Stein) und bringt sich damit neben seiner prekären Aufgabe natürlich erst recht in die Bredouille. Zu allem Überdruss stellt sich heraus, dass seine Angebetete die Tochter des Bundespolizeichefs Oberst Lehmann ist.
Leicht verdauliche Abgründe
Plinio Bachmanns und Barbara Sommers Drehbuch schöpft die Verstrickungen der Figuren genüsslich aus. Etwa, als der verzweifelte Portier des Theaters und arbeitslose Lehrer, gespielt von Stefan Schönholzer, den verdeckten Spitzel fragt, warum er nie einen Job bekommt. Die Antwort ist natürlich die Fiche, die ebendieser über ihn anlegte. Für einen kurzen Moment tut sich hier die drückende Realität auf, die viele Fichierte tatsächlich durchlebten. Doch nur sehr kontrolliert und über wenige, leicht verdauliche Sekunden taucht der Film in diese Abgründe. So auch im Highlight, der Rede Odiles vor der versammelten Zunftgesellschaft ihres Vaters, die von der patriotischen Preisung der Armee langsam in eine faschistische Horrorvision kippt.

Die Zeitgeschichte dreht sich mit der Fiktion mit. Während das Karteienhaus der Polizei mit der Parlamentarischen Untersuchung durch Nationalrat Moritz Leuenberger schliesslich in sich zusammenbricht, wird Spitzel Schuler geläutert und erkennt die Sinnlosigkeit seiner Aufgabe. Doch schmerzfrei kann er sich nicht aus seiner zusammengelogenen Welt herauswinden. Seine Katharsis, in Unterhosen auf der Bühne vor versammelter Gesellschaft, atmet schweren Pathos, und doch bringt er in seiner feinen Balance zwischen Gag und Gefühl die Duftnote des Films genau auf den Punkt. Oder um es mit einem wiederholt platzierten Witz aus Moskau Einfach! zu sagen: Im Leben sind wir alle Amateure.
Moskau Einfach! läuft noch einmal am Di. 28.1., 20.45 – Reithalle
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So. 26.1., 11.00 – Canva Club
Mi. 29.1., 11.30 – Canva Blue
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