Bild: © Gabriel Hill für ZFF
Filmbulletin: Herr Haupt, Zürcher Tagebuch ist eine mäandernde Darstellung von Persönlichem und Öffentlichem. Was gab Ihnen den Anstoss für den Film?
Stefan Haupt: Die Finanzkrise 2008, auch wenn man das im Film selbst nicht mehr bemerkt. Plötzlich konnte man 60 Mia. Franken aufwerfen, um die UBS zu retten, während man vorher nicht eine Million für Soziales übrighatte. Da merkte ich, dass vieles in grossen Dimensionen geschieht, die ich nicht verstehe. Ich fing an, Leute zu interviewen, aber merkte schnell, dass ich es nicht schaffe, mich als Investigativjournalist in das Thema hineinzuknien.
Also entschieden Sie sich für die persönliche Ebene.
Die politischen Vorstösse der Jahre, zum Beispiel die Masseneinwanderungsinitiative der SVP, verursachten in meinem Umfeld und auch bei mir selber ein Ohnmachtsgefühl, eine Lethargie und einen Rückzug auf das Eigene, das Kleine. Ich fragte mich: Was läuft da wirklich? Bilde ich mir das ein oder leben wir wirklich in einer besonderen Zeit? Wie gehen wir mit Fukushima, Klimawandel, Flüchtlingsdramen um? Wo stehen wir in dem Ganzen? Gleichzeitig hatte ich Lust, etwas zu versuchen, das ja fast unmöglich ist, nämlich ganz persönliche Gefühle zu verweben mit den grossen politischen, gesellschaftlichen Fragen.

Der Film schlägt auf der persönlichen Ebene einen Bogen, der mit dem Tod Ihres Vaters endet. Das war, nehme ich an, eine intensive Zeit?
Das war selbstredend nicht so geplant. Irgendwann war es zwar denkbar, dass einer meiner Elternteile in dieser Zeit stirbt, aber ich habe natürlich den Film nicht darauf angelegt. Als Kontrast wollte ich auch von meinen Kindern wissen, wie sie diese Zeit wahrnehmen. Meine Kinder beschäftigten sich vor allem mit dem Älterwerden. Von meinen Eltern wollte ich wissen, wie sie die heutige Zeit empfinden im Vergleich zum noch erlebten Weltkrieg und dem folgenden Wirtschaftswunder.
Hat der Film für Sie eine Botschaft?
Nein. Diese Antwort ist aber auch ein Reflex. In gewissen Medien kommt als erstes immer die Frage: Was willst du mit diesem Film erzählen? Ich wollte in diesem Film viel mehr suchen, und von dieser Suche erzählen, als eine Botschaft zu vermitteln. Im besten Fall verstecken sich auch gewisse Antworten darin. Wenn schon, dann ist es die offene Frage: Wie können wir mit Empathie durch unser Leben gehen, ohne an all dem kaputt zu gehen, was auf uns zukommt – ohne Grenzen und Haustüren zu verschliessen?
Ihr Film stellt Bilder in eine assoziative Reihe. Hatten Sie vorab ein Konzept, was gefilmt wird?
Ich habe selten so intuitiv gearbeitet wie hier – der Film ist ein Kaleidoskop verschiedenster ästhetischer Empfindungen: Zunächst habe ich einfach einmal selbst angefangen, Bilder zu sammeln. Lutz Konermann hat dann den grösseren Teil gefilmt, alle Interviews zum Beispiel. Aufgefallen ist mir da beispielsweise, dass er immer stark auf Details fokussiert. Ich selber liebe Ansichten von oben herunter: Ich gehe gerne auf Kirchtürme oder zur Waid und schaue auf die Stadt. Das ergibt eine interessante Mischung. Eine Bekannte aus Italien kam in der Zeit hierher und suchte Arbeit. Also habe ich ihr meine Kamera gegeben und sie gebeten zu filmen, was ihr auffällt. Damit entstand mit Absicht nochmals ein anderer Blick auf die Stadt. Natürlich gab es auch Zeiten, wo ich mich gefragt habe, was ich eigentlich mache. Aber ich hatte eine innere Dringlichkeit, etwas zu vertiefen.
Warum die Form des Tagebuchs? Ist es ein Tagebuch der Stadt?
Je länger ich daran gearbeitet habe, desto mehr ist mir aufgefallen, was für Parallelwelten da draussen noch existieren. Ich habe mich von der Idee, ein objektives Bild zu entwickeln, verabschiedet. Erstens gibt es Objektivität nicht, zweitens hätte es den Rahmen des Projekts gesprengt, diesen Anspruch erfüllen zu wollen. Drittens habe ich gemerkt, dass ich ein Interesse habe, in die eigene Bubble hineinzuschauen. Ich habe lange nach einem anderen Wort gesucht, und dann gemerkt, dass die Form des Tagebuchs diese ganze Bandbreite – von Kindergeburtstag zu steigenden Bodenpreisen – aufnehmen kann. Ausserdem liebe ich die Tagebücher von Max Frisch, auch wenn das nicht eine direkte Inspiration war. Was ich daran mag, ist sein Drang, den eigenen Interessen zu folgen.
Sind Zürcher_innen gut im Jammern?
Wir sind sicher gut darin, auf hohem Niveau zu jammern. Gleichzeitig finde ich, diese Stadt ist ein ziemliches Phänomen, was Lebenslust und Lebenssehnsucht angeht. Ich glaube, diese Stadt hat in der Hinsicht ein unglaubliches Potential. Eines, das sie zum Teil nutzt und zum anderen Teil Opfer ihres Erfolges ist und der Mentalität, aus allem möglichst effizient Geld herauspressen zu wollen. Es ist schwierig, der Tendenz entgegenzuwirken, dass Zürich ein «Monaco am See» wird.

Ihr Sohn fragt im Film: «Wer hat das Sagen, wer bestimmt den Diskurs?» Und er gibt die Antwort gleich selber: «Weisse, heteronormative Männer über 50.» Was sagen Sie dazu?
Wohl die wenigsten Weissen Männer über 50 haben heute das Gefühl, wirklich das Sagen zu haben – etwa wenn es darum geht, nach 50 eine neue Stelle zu suchen. Ich habe jedenfalls nicht das Gefühl, an der bestimmenden Macht Anteil zu haben. Natürlich sehe ich, dass es eine Ebene von Privilegien gibt und dass ich mit bald 60 Jahren, und einem über die Jahre gewachsenen Netzwerk in einer Position bin, in der ich mehr Zugang habe, nur schon zur Öffentlichkeit. Ich habe selber nicht erwartet, dass mir das je zuteil wird. Und wenn ich an die älteren Herren wie Trump, Erdogan, Putin, Orban etc. denke, ihr Ausmass an Macht, das mich zutiefst schockiert – dann hat mein Sohn natürlich absolut recht.
Er wollte nicht selber im Film auftreten, Sie durften ihren Sohn aber zitieren.
Ich konnte das sehr gut annehmen und habe das als Zeichen seiner Selbstständigkeit gewertet. Er hat das Dossier zum Film gelesen und sein ehrliches Feedback gegeben, das dann in den Film einfloss. Mir war es wichtig, seine Meinung so stehen zu lassen, ohne mich zu verteidigen oder zu rechtfertigen.
Hätte Corona nicht den Schlusspunkt gesetzt, wäre der Film noch weitergegangen?
Im Gegenteil. Wir haben Ende 2019 den Dreh beendet und wollten im März 2020 den Film fertiggestellt haben. Da wir noch etwas Luft hatten, ist der Shutdown am Ende noch reingekommen. Die Pandemie ist eine starke Zäsur. Letztlich empfand ich es als spannend, da zu stoppen und so auf eine ganz andere Zeit zurückzuschauen.
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