Filmbulletin: Alice Schmid, mit Burning Memories legen Sie ein sehr persönliches Werk vor. Weshalb?
Alice Schmid: Das war eigentlich gar nicht anders möglich. Ich habe 30 Jahre lang Filme gemacht, ohne mir klar zu sein, wieso ich mich immer an ähnlichen Themen abarbeite. Es kam einfach zu mir: Ganz intuitiv bin ich jeweils zum Inhalt meines nächsten Projektes gekommen, habe Filme zum Thema «Kindheit» gemacht. Es war ein kreativer Fluss – von einem zum nächsten – ein Dauerzustand des Arbeitens.
Dann, vor einiger Zeit, habe ich in einem Museum ein Gemälde mit einem nackten Mädchen als Motiv gesehen. Das Mädchen hatte einen riesigen, dunklen Schatten. Und ich konnte kaum mehr atmen: Ich hatte das Gefühl, mich selbst darauf zu sehen. Mir sind in dem Moment viele Sachen wieder in den Sinn gekommen. Auf einmal konnte ich mich an den Übergriff von vor 50 Jahren erinnern. Ich wollte das zunächst niemandem sagen, doch es liess mir keine Ruhe. Meine Freundin Anja Bombelli, die das Editing von Das Mädchen vom Änziloch gemacht hatte, erzählte mir dann von einem ihrer letzten Projekte, einen Dokfilm fürs ZDF, in dem vier Frauen, die auch einen Übergriff erlebt haben, ihre Geschichte erzählen. Mich hat beeindruckt, wie die Frauen erzählen und weinen. Und dennoch habe ich gedacht, dass ich nie einen Film über meine eigene Geschichte machen könnte, nur schon, weil ich immer eine andere Art von Filmen gedreht habe: Stets aus Kinderperspektive zum Beispiel, nicht aus meiner eigenen. Es liess mich aber nicht los, und ich dachte: Falls ich je einen Film über mich drehen, meine eigene Geschichte aufarbeiten werde, dann reise ich dafür in die Wüste Afrikas.
Und wie ist das Projekt dann zustande gekommen?
Ich habe Anja Bombelli angerufen und ihr von meiner Idee erzählt. Sie hat mir Karin Slater empfohlen, eine Kamerafrau. Karin hat mich nach Kapstadt eingeladen, um mit ihr vor Ort über das Thema zu reden. Ich war im Fieber: Beinah mathematisch zeichnete ich auf, wie die Geschichte beginnen soll, wie die Figuren verkoppelt und die ganze Geschichte vernetzt und verbandelt werden soll. Die Idee war damals, einen Film übers Schweigen zu drehen. Denn auch bei mir war es so: Wir alle schweigen stets, anstatt zu reden. Ich wollte Kinder casten, um erneut aus Kinderperspektive erzählen – mit meinen Protagonist*innen ihre Grosseltern besuchen, um rauszufinden, was passiert, wenn ihre Enkel*innen sie auf das Thema «Schweigen» ansprechen.
Ich war noch nie in der Wüste, und ich war fasziniert wie sich, als wir aus Kapstadt rausfuhren, plötzlich der Horizont auftat. Die hellen Farben – alles war wunderschön. Dann fing es an zu regnen, das wollte ich filmen. Wir packten die Kamera aus, Karin drehte. Als wir uns das Material am Abend angesehen haben, merkte ich erst, dass Karin nicht das Gewitter, sondern mich gefilmt hatte, wie ich in der Regenjacke einem heranfahrenden Auto winkte. Und Karin meinte: «It is your story, you have to tell us the truth» – du musst sie erzählen. Und so kam es, dass wir zwei, drei Wochen in der Wüste zusammen unterwegs waren, und auf Karins Wunsch hin habe ich einfach gemacht, was immer ich machen wollte: Ich habe Handorgel gespielt, geschrieben, gemalt. Alle meine Ideen waren über Bord geworfen, aber genau das lernt man als Regisseurin schnell: Man nimmt sich etwas vor und dann kommt es anders.

Burning Memories – Regie: Alice Schmid
Ihre Filme zeichnen sich besonders auch durch ein hohes Mass an Respekt und Mitgefühl für die jungen Protagonist*innen aus. Wie war es, selbst vor der Kamera zu stehen?
Ich glaube, das war dank meiner Kamerafrau sehr gut. Wenn ich in den Sand gesessen bin, ist Karin mit mir in den Sand gesessen. Sie hat gedreht, und einfach abgewartet, sie hat ein Gespür für Schmerz. In Die Kinder vom Napf habe ich ebenfalls versucht, den Kindern viel Raum zu geben. Als diese anschliessend den Film gesehen haben, waren viele von ihnen überrascht, was ich alles gedreht hatte – wir hatten eine Vertrauensbasis, und agiert, als wäre keine Kamera im Raum. So erging es mir auch in der Wüste. Obwohl es für mich das schwierigste überhaupt war, aus meiner Kindheit und von diesem Ereignis zu erzählen.
Wie ist der Erzählbogen im Film zusammengekommen? Anschliessend im Schnitt?
Genau, wiederum mit Anja Bombelli. Sie hat mir jeweils Mut gemacht, auch als ich zweimal kurz davor gewesen bin, das Projekt abzubrechen. Viel Motivisches setzte sich erst auch im Schnitt erst zusammen: Meine Abneigung gegenüber Blutwürsten, die Erinnerung daran, wie mein Vater zu Weihnachten ein Schwein schlachtete, die visuelle Überschneidung mit dem bedrohlichen Phallus.
Ich wollte einen literarischen Text als Untermalung schreiben. Wir haben da alles ausprobiert: Ich habe den Text im Editing immer wieder selbst eingesprochen, aber das kam nie richtig gut. Mein Hochdeutsch gefiel mir nicht, zu viel Dialekt, dann habe ich es auf Schweizerdeutsch versucht, aber auch das funktionierte nicht richtig. Dann haben wir Aufnahmen mit einer Schauspielerin gemacht.
Ich hatte auch noch die Unterstützung eines Dramaturgen, Claude Muret, ein Mann mit viel Erfahrung, der mir immer wieder kritische Fragen zum Inhalt, zu meinem Text stellte – immer wieder, «À qui tu racontes?» Irgendwann merkte ich in diesem Prozess: Eigentlich erzähle ich die Geschichte meiner Mutter, auch wenn ich ihr meine Filme bis jetzt nicht gezeigt habe. Im Film schreibe ich irgendwann einen Brief an sie. Auch das ist erst während dem Editing passiert, der wäre mir vorher, während den Dreharbeiten, nicht gelungen. Aber so kam ich in einen Schreibfluss hinein, und der Film ist im Schnittraum zusammengekommen.
Wie fühlen Sie sich nun, nachdem Sie die Geschichte erzählt haben?
Heute kann ich vorwärtsschauen, dank dem, dass ich zurückgeschaut habe. Der ganze Schaffensprozess war streng, aber auch sehr befreiend, etwa auch das Lied, das ich zum Film und auf Anregen meines Verleihers aufgenommen habe, in dem ich auf der Handorgel spiele und mir einiges nochmals von der Seele spreche. Es gibt so viele Möglichkeiten, etwas zu verarbeiten. Ich bin froh, habe ich den Film gemacht, was auch immer jetzt passiert.

Burning Memories – Regie: Alice Schmid
In Burning Memories sehen Sie auch auf Ihr eigenes Schaffen zurück. Wie sind Sie damals zum Film gekommen?
Ich war an der Kunstgewerbeschule in Luzern, denn habe ich schon immer gerne gemalt. Ein Lehrer erzählte von Storyboards, die er für Werbefilme malt, das fand ich so toll, dass ich selbst bei diesem Werbefilmer angerufen habe. Von ihm wurde ich nach Mailand eingeladen, ich durfte da als «Mädchen für alles» arbeiten, und so konnte ich sehen, wie es funktioniert. Mein erster Auftrag war, eine Aprikosenblüte im Februar zu organisieren.
Später war ich, als Teil einer Weiterbildung, einmal auf einer Besichtigung im Zürcher Filmstudio Bellerive, da habe ich mich dem Produzenten Peter-Christian Fueter vorgestellt und behauptet, ich arbeite in Mailand als Aufnahmeleiterin, obwohl das so noch nicht ganz stimmte. Wir kamen ins Gespräch, er notierte meine Mailänder Adresse und zwei Wochen später habe ich ein Telegramm erhalten, in dem stand, dass er eine Aufnahmeleiterin brauche. Für dieses Projekt habe ich in einer einzigen Nacht tausend Statist*innen in St. Moritz rekrutiert. Sowas machte mir Spass. Von mir hat man gesagt: Ich würde es schaffen, einen dreiäugigen Elefanten für einen Dreh zu organisieren. Bei der Condor assistierte ich fortan an vielen Orten und nach zehn Jahren schrieb ich schliesslich selbst einmal eine Idee für einen Film. Mit dem habe ich einen Preis für den besten Auftragsfilm erhalten.
Sie haben ihre eigene Produktionsfirma, Ciné A.S., gegründet. Was hat Sie dazu veranlasst?
Die Schweizer Regisseur*innen! Denn eigentlich war ich ganz glücklich als Aufnahmeleiterin und Regieassistentin. Für mich war es der anstrengendste Beruf am Set, oft war man schon morgens um Vier da und hat zum Beispiel mit den Schauspieler*innen, die in der Maske waren, bereits den Text eingeübt. Aber es gab ein Problem: Heute ist das bestimmt anders – aber ich habe mich damals von den Regisseuren nicht ernstgenommen gefühlt. Einmal packte mich ein Regisseur am Arm und drückte so fest zu, dass ich noch tagelang blaue Flecken hatte. Und das nur, weil es während des Drehs angefangen hatte zu regnen. Das war dann der letzte Tag, an dem ich als Regieassistentin gearbeitet habe, danach war Schluss. Ich habe mein Funkgerät abgegeben und bin vom Set gelaufen.
Als ich 1993 meinen Film Sag nein machte, habe ich Produzenten in der Schweiz angerufen, doch niemand wollte mitmachen, denn keiner sah damals das Potential in Kinderfilmen. Darum habe ich angefangen, meine Sachen selber zu produzieren. Die Idee scheint übrigens noch immer vorzuherrschen: Noch bei Die Kinder vom Napf bin ich auf ähnliche Reaktionen bei Kolleg*innen gestossen.
Der Erfolg der Filme gibt Ihnen aber recht …
Ja, aber unter Filmemacher*innen ist das ein Problem. Ich fühlte mich deshalb immer als Aussenseiterin. Gebremst hat mich das jedoch nie.
Ihr Film läuft an den 56. Solothurner Filmtagen, als Teil des Wettbewerbs Prix de Soleure via Streaming, bald kommt er hoffentlich noch ins Kino. Wie schauen Sie dem entgegen?
Momentan bin ich in Venedig, ich schreibe meinen nächsten Roman. Ich bin so sehr in einer anderen Welt hier, dass ich immer wieder vergesse, dass der Film bald gezeigt wird. Mit den Corona-Restriktionen könnte es auch sein, dass ich lange nicht aus Venedig herauskomme, was es vielleicht schwierig machen wird, meinen Film in der Schweiz vorzustellen.
Wie möchten Sie denn, dass Ihr Film gesehen wird. Auf dem kleinen Screen, in Kino?
Als ich in Zürich gewohnt habe, bin ich drei Mal pro Woche ins Kino. Ich liebe das Kino, es wird gebraucht, damit Filme richtig wirken, obwohl die heutige Technik zuhause schon auch viel kann. Als Das Mädchen vom Änziloch im Kino war, bin ich einmal inkognito ins RiffRaff, der Saal war voll, und ich habe nur die Leute beobachtet, das war das grösste für mich. Kino ist eine Welt, die man nicht ersetzen kann.
Alice Schmids Film Burning Memories läuft am Samstag, 23. Januar an den Solothurner Filmtagen im Streaming.
Portrait Alice Schmid: © Outside the Box / Fabian Hugo
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