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Sertschawan 2

Sertschawan

Wir kennen sie, die Fernsehbilder aus Kriegsgebieten. Wir kennen sie, und manchmal merken wir, dass sie uns kaum berühren. Gewohnheit stumpft ab.

Text: Walter Ruggle / 01. Aug. 1992

Wir kennen sie, die Fernsehbilder aus Kriegsgebieten. Wir kennen sie, und manchmal merken wir, dass sie uns kaum berühren. Gewohnheit stumpft ab. Dabei bleibt die Frage, ob man sich an solche Bilder überhaupt gewöhnen kann. «Vor Halabja sah ich Bilder vom Krieg», sagt der Filmemacher Hans Stürm in Sertschawan gleich am Anfang. «Bilder vom Krieg in Afghanistan, aus Eritrea, Palästina, Libanon, danach wieder Bilder vom Krieg Saddams gegen den Iran – was soll ich mit diesen Bildern anfangen?» Und: «Ich muss nicht wirklich hinsehen; was da geschieht, bleibt ausserhalb meiner Realität.»

Anfang von Sertschawan. Mit Zyanidgas wurde in dieser kurdischen Stadt im März 1989 das Leben von schätzungsweise 7 000 Menschen auf einen Schlag vernichtet. Ein Beispiel von vielen.

Akram, der Sohn des Hamo Ali Abdullah aus Halabja, erzählt: «Diese meine liebe Stadt liegt in den Bergen. Im Süden glitzert ein kleiner See. Vor der Stadt weitet sich eine grosse Ebene, der Fluss wandert hin und her zwischen fruchtbaren Feldern. Meine Stadt hat berühmte Männer hervorgebracht: die Dichter Ahmad Muhtar Djaf und Nali und Goran. Sie besass eine öffentliche Bibliothek, fünf Oberschulen für Knaben und zwei für Mädchen, ein islamisches Institut und viele Moscheen. In und um Halabja war kein Mangel. Wir hatten einen Bazar und vier offene Märkte, ein Kino, zwei Fabriken und am Stadtrand Hühnerfarmen. Diese meine Stadt war berühmt für ihren Widerstand. Wir wollten nie Krieg, aber auch nicht einen Frieden ohne Selbstbestimmung. Die Menschen von Halabja haben viele ihrer Kinder geopfert für Demokratie und Freiheit. Halabja wurde schon 197 4 bombardiert, dann 79 und 82, auf herkömmliche Weise. Nach dem Aufstand von 1987 wurde es mit schwerer Artillerie beschossen, und sechzig Menschen wurden zur Strafe lebendig begraben. Das Gas ist nur das Ende einer langen Geschichte».

Was ist unsere Realität?

Ich muss nicht wirklich hinsehen; was da geschieht, bleibt ausserhalb meiner Realität. Hans Stürm und Beatrice Michel stellen mit ihrem Film auch die Frage nach den Grenzen der eigenen Realität in einer Welt und Zeit, in der es kaum noch etwas gibt, was als «ausserhalb der eigenen Realität» bezeichnet werden kann. Die Realität ist immer mehr zu einer Realität der Bilder geworden. Alles wird ins Haus geliefert, als Bild der Wirklichkeit verkauft. Und weil sich die Bilder so jagen, die Aktualität eine immer kürzere Halbwertszeit erreicht, bleibt kaum noch Zeit für Fragen: Was steckt zwischen den Bildern, die wir tagtäglich in Sekundenhäppchen aus aller Welt geliefert bekommen? Was steckt dahinter? Wer sind die Menschen, die diese Bilder aufnehmen (schiessen sagt man auch)? Wer sind die Menschen, die wir da sehen? Warum sind sie immer tot oder auf der Flucht? Sie existieren fast ausschliesslich in ihrem jeweiligen Elend, denn das ist es, was zählt, nur das. Zählt es womöglich, weil es uns in unserer Zufriedenheit bestätigt? Ich muss nicht wirklich hinsehen; was da geschieht, bleibt ausserhalb meiner Realität.

Akram erzählt: «Ich stand auf einem Hügel und zählte fünfundzwanzig Flugzeuge. In der Nacht darauf stiegen wir in die tote Stadt hinunter. Alle lagen sie da, hielten sich umklammert, Blut und Schaum klebte auf ihren Gesichtern. Wir durften sie drei Tage lang nicht begraben, bis alle Reporter genügend fotografiert hatten. Dann kippten Bulldozerschaufeln sie in die Massengräber. Es gibt nicht einmal Namenslisten.»

Es gibt nicht einmal Namenslisten. Würden wir die Menschen kennen! So liesse sich der Ansatz zu Sertschawan am einfachsten beschreiben. Beatrice Michel und Hans Stürm haben etlichen Aufwand betrieben und ein grosses Mass an Geduld benötigt, um durch die herrschenden Verhältnisse hindurchzukommen, zu den Menschen vorzudringen, zum Leben in der verdrängten Realität. Halabja und die Fernseh-Bilder der Todesstadt nach dem Giftgasangriff sind ein Einstieg, der grundsätzliche Fragen nach unserer Wahrnehmung von Realitäten anregt. Halabja wird aber auch zum Ausgangspunkt der Annäherung ans Leben vor dem Tod. Noch einmal die Frage: «Was sagen mir diese Bilder von ihrem Sterben, wenn ich von ihrem Leben nichts weiss?» Wer waren sie, diese Menschen, die da in den Strassen liegen, wie die verkohlten Leichen von Pompei, mitten aus dem Leben gerissen, plötzlich, unerwartet, grauenvoll. Sie überleben in den Fotos, die die Fotografen geschossen haben, von denen Akram spricht. Der Film kommt auf ein Bild immer wieder zurück, auf das Bild des toten Bäckers Omar Chawar.

Sertschawan 1

Den Bäcker, den kennen wir

Akram erzählt: «Ornar Chawar kennt jeder. Unser Bäcker. Ich holte als Kind jeden Tag Brot um die Ecke. Er hatte sechs Töchter und diesen einen Sohn, der kam viel später, wie ein Wunder. Shivan – den liebte er närrisch und trug ihn immerzu herum, wie er ihn hier im Tod noch zu urnarmen versucht. Wer hätte gedacht, dass sein Foto in der ganzen Welt gezeigt würde?»

Das Bild des Schreckens, alltäglich und deshalb und der Einfachheit halber schnell vergessen, erhält ein Gesicht, einen Namen, eine Geschichte. Unter dem Bäcker Omar Chawar kann ich mir etwas vorstellen, und sei es über die Verbindung zum Bäcker Moor im Dorf, in dem ich lebe. Hans Stürm und Beatrice Michel erzählen nicht die Geschichte des Toten, der da mit seinem geliebten Sohn auf dem Arm am Boden liegt.

Beatrice Michel sagt: «Siehst du, er trägt das Kind im linken Arm, das erinnert mich: so trug ich meine Kinder. Der rechte Arm bleibt frei. Und das Käppchen und das Umschlagtuch, so kleidete ich sie, und das Kind hat warm und liegt geschützt an der Brust. Und so trug er sein Kind.»

Die Beziehung ist geschaffen zwischen dem, was wir sehen, und denen, die es uns zeigen, zwischen dem Unbekannten und dem Nahen. Hans Stürm hat einmal dafür plädiert, dass Filme nicht politisch und sinnlich sein müssten, sondern politisch sinnlich. Voila. Diesen Anspruch erfüllten er und Beatrice Michel schon in ihrem letzten gemeinsamen Film Gossliwil. Die Sinnlichkeit stammt aus der persönlichen Beziehung zum jeweiligen Stoff: es ist aber eine Beziehung, die auch das Politische ausmacht. Als es um die Förderung von Sertschawan gegangen war, wurde vom Bundesgremium gegen das Projekt argumentiert, den Filmschaffenden fehle die Distanz.

Über die Bilder des Schreckens, die in einem Fotoband festgehalten sind, legt eine Hand Bilder des Lebens, das sonst ausgeklammert bleibt. Rushdi Xurshid Shengeli, ein schweigsamer Mann, wird eingeführt, einer, der mit seiner Familie permanent auf der Flucht ist. «Rushdi», sagt Beatrice Michel im Off, «brich dein Schweigen und erzähl, wie es war,» Sertschawan lässt Menschen aus Kurdistan erzählen und sucht auf Grund ihrer Erzählungen die Dörfer, die Städte, die Landschaft – das Leben. Das Dorf Ame, das am Schnittpunkt der Grenzen von Iran, Irak und der Türkei im iranischen Kurdistan gelegen ist, dient als Beispiel fürs Leben in den zahllosen Dörfern, die in den letzten Jahren ausradiert wurden. Es sei ein Ort, wo die Menschen zum Fremden sagen: «Mein Haus ist Dein Haus – Bacherati Sertschawan! Willkommen bei meinen Augen.»

Geführt über die Offstimmen der Filmenden nähern wir uns dem Dorf, nähern wir uns dem Leben in Kurdistan, nähern wir uns dem, was sonst ausgespart bleibt. Dreimal wird es dabei Abend, dreimal verbringen wir einen Tag. Wir lauschen den Schilderungen iranisch-kurdischer Flüchtlinge, wir vernehmen die Legende von Mam und Zin. Michel und Stürm dokumentieren die verschiedenen Äusserungen, sie zeigen uns Landschaften Kurdistans, sie inszenieren Figuren wie jene der spinnenden Geschichten-Erzählerin, des wissbegierigen Mädchens, des Jungen, der sich auf dem Markt einen Schimmel kauft und über die Ebenen reitet. Legende und Realität begegnen sich, werden eins.

Im Beobachten beschreiben

Das Dokument (das erfahrungsgemäss immer auch einen Aspekt des Inszenierten in sich birgt) und die sehr zurückhaltende Inszenierung gehen nahtlos ineinander über, weil die verschiedenen Ebenen des ganzen Films über die persönliche Linie der Begegnung zusammengehalten werden. Da backen die Frauen im Erdofen ihre Fladenbrote, und man erinnert sich, wenn man ihr Verhalten gegenüber der anwesenden Kamera mit den beiden Filmschaffenden sieht, an die Buechberger Bäuerin: «Hoffentlich vergrated mer s'Brot nid, wänn do so mänge zuelueqed» (Gossliwil). Hier bleibt das Gefilmtwerden erst recht etwas Ungewohntes, etwas Unfassbares. Beatrice Michels Stimme erklärt im Off, weshalb die Männer die Frauen zunächst nicht mitgebracht hätten. Sie sagen:

«Die Frauen weinen zwischen den Worten, immer weinen sie, verstehst du, über die vielen getöteten Kinder, die sie geboren haben, und über die zukünftigen, ungeborenen, die sterben werden.»

In der Verbindung liegt die Stärke, im Übergang von der Beobachtung zur Beschreibung, in der persönlichen Nähe bei aller Distanz. Das Gefüge erst macht ihr Anliegen als Ganzes erkennbar. Der «existentielle Wunsch» nach Verständnis ist für die beiden Filmschaffenden alles andere als neu. Das Pferd aus der Legende und das Pferd des Jungen im Film werden eins. Vom Friedhof bricht er auf, reitet begleitet von der mitschwenkenden Kamera durch die Weite des Tals in die Stadt, während im Off die Erzählung von Mam berichtet, der in Djesire Botan einreitet. Der Junge mit dem Schimmel geleitet uns auch zu den Kurden in den Bergen. Beatrice Michel und Hans Stürm führen uns unmerklich auf den Ausgangspunkt all der Linien: Bei der Rückkehr ins Dorf Ame finden wir eine inzwischen vertraut gewordene Umgebung wieder. Jetzt ist das Dorf menschenleer, wie ausgelöscht nach einem Giftgasangriff.

Nedjemeddin erzählt: «Ich sah die Blätter an den Bäumen sterben, kein Vogel, keine Grille sang mehr, es wurde totenstill.»

Schmied, Schneider, Gemüse- und Tuchhändler, schliesslich der Bäcker. Die Fladenbrote werden am Schluss in der grossen Bäckerei hergestellt, der Kreis schliesst sich. «Omar Chawar kennt jeder. Unser Bäcker.» Sertschawan lässt ihn ein wenig zu unserem Nachbarn werden. Nun müssen wir wirklich hinsehen; was da geschieht, gehört zu unserer Realität.

Sertschawan 3

Mam u Zin

Die im Film stark verkürzte Wiedergabe des Epos «Mam u Zin » basiert auf der mündlichen Erzählung von Berivan Issamadari, der Wolle spinnenden Bäuerin im Film, und auf der Fassung von Roger Lescot und L. Ch. Wentzel: «Mam und Zin », Arche, Zürich 1980. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass jeder Kurde «Mam u Zin» kennt. Über Jahrhunderte wurde die traurige Liebesgeschichte von den dengbeg, den Volkssängern, mündlich überliefert. Es gibt vorislamische, islamisierte, romantisch-märchenhafte, politisierte, regional gefärbte gesungene Versionen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts verfasste der Epiker Ahmade Chane eine Version in 3675 Versen in der kurdischen Hochsprache Kurmandschi. Kurmandschi gehört übrigens zur indoeuropäischen Sprachfamilie. Ahmade Chane lebte als Gelehrter in Hakkari, sein Grab liegt in Bayazid am Fuss des Ararat und ist heute noch ein Wallfahrtsort. Originaltext und Übersetzungen von «Mam u Zin» erschienen unter anderem in St. Petersburg, Paris, Berlin, Beirut, Damaskus, Zürich, was Bände spricht über die kulturelle Unterdrückung der Kurden in ihrem eigenen Land. Autoren und Verlage, die «Mam u Zin » dort publizieren wollten, bezahlten ihren Mut mit Haftstrafen. «Marn u Zin » ist ein eigenständiger Beitrag der Kurden zur Weltliteratur. Das Epos hat bis heute seine symbolische und politische Bedeutung nicht verloren. Der misshandelte Mam bleibt Sinnbild für das Volk, das unter Normen und Bruderzwisten leidet und Opfer erobernder Nachbarn wird.

(Beatrice Michel)

Hört Ihr Alle, hört mich an: Ich will erzählen von Mam und Zin. Seit dreitausend Jahren singen die Mamusta ihre Geschichte und unser Epiker Ahmade Chane hat sie vor dreihundert Jahren aufgeschrieben –

Damit die Menschen nicht sagen Dass wir Kurden Ohne Wissen und Herkunft und Erde sind Viele Völker sind im Besitz von Büchern Die Kurden nur sind ihres Erbes beraubt.

Hört Ihr Alle: An den Ufern des westlichen Meeres lag eine prachtvolle Stadt. Allen Reichtum der Welt besass ihr Beg, nur den Sohn, den Erben nicht. Er weinte in seinen grauen Bart, allein unter den Sternen, und bat Gott um einen Sohn. Ein Greis erschien ihm und weissagte: Ein Sohn wird Euch geschenkt werden, oh Beg des Westens, wenn Ihr Euren Besitz gerecht unter das Volk verteilt und auf Vorrecht und Macht verzichtet. Jedoch hütet Euch: Verleiht dem Kind weder Namen noch Titel. Es sei: Sohn aller Kurden. Der Beg tat wie geheissen. Nach neun Monden und neun Tagen gebar die Chane des Beg einen Sohn. An Weisheit und Schönheit übertraf er alle, in allen Künsten wurde er unterrichtet. Das Volk aber nannte ihn: Marne Alan, König der Kurden.

Eines Nachts zwischen Traum und Morgen stieg ein riesiger Apfelschimmel aus den Meereswogen. Mam ergriff seine Mähne und nannte das Pferd «Boze Rawan». Das Pferd konnte Mams Gedanken lesen und schnell wie der Wind trug es ihn, wohin ihm zumute war.

Hört nun, was mit Mam und Zin geschah. Drei Peri vergnügten sich mit Wettspiel. Die eine sagte: Das schönste Menschenwesen ist Marne Alan. Die andern riefen: Weit gefehlt, das schönste Wesen ist Zin, die Tochter des Emirs von Djesire Botan.

Des Nachts tragen die drei Peri die schöne Zin in das Gemach von Mam. Mam erwacht und sieht neben sich das schönste Wesen der Welt liegen. Ich bin erst dreizehn, bald vierzehn, spricht Mam: Ach du Liebliche, hebe dich fort woher du gekommen. Zin weint und spricht: Ich bin erst dreizehn, bald vierzehn, nie habe ich einen Mann gesehen, geh weg, Fremdling, ehe Dir ein Unglück zustösst.

Zin ruft ihre Dienerinnen, Mam seine Wachen. Nichts geschieht, nur drei Tauben gurren auf dem Fensterbretl. Da reden Mam und Zin vertraulich. Mam legt sein Schwert zwischen sich und die Liebste. Sie tauschen ihre Ringe und im Morgengrauen schlafen sie ein.

Die Peri tragen Zin schnell in ihren Palast nach Botan zurück. Als Zin allein erwacht, ruft sie nach Mam und hört nicht auf zu klagen. Kein Arzt, kein Heiliger kann ihre Krankheit heilen.

Auch Mam erwacht verwirrt, sieht den Ring und liest in seinem Innern: Zina Zedan, Tochter des Emirs von Boran. Er ruft: Sattelt mir Boze Rawan, wenn ich Zin nicht sehe, muss ich sterben.

Hört Ihr Alle: Mam reitet in Djesire Botan ein. Die Menschen steigen auf die Dächer, um seine Schönheit und die Grösse von Boze Rawan zu bewundern. Drei edle Prinzen aus dem Stamm der Djalali laden Mam zu Gast: Bachcrbi Sertschawan, Willkomm bei unsern Augen, unser Haus ist dein Haus. Mam aber isst nichts und trinkt nichts und verbirgt seine Tränen. Die Prinzen flüstern unter sich: Sicher bedrückt Liebe das Herz unseres Gastes. Und sie schwören alle drei auf ihre Schwerter, Mam von seinem Schmerz zu befreien.

Hört Ihr Alle, was mit Mam und Zin in Djesire Boran geschah.

Mam ist Gast der drei Prinzen und sehnt sich nach Zin. Zin weint in ihrem Palast und weiss nichts von Mams Nähe, ihr Herz aber sagt: Geh hinaus zur Quelle von Ouastal und stille dein Leid mit dem Wasser der Rosen. Zin lädt alle Jungfrauen der Stadt nach Quastal ein. Die drei Prinzen sagen unter sich: Lasst uns mit Mam den feierlichen Zug der Schönsten betrachten, ihr Anblick wird ihn heilen.

Auf dem Weg durch die Gassen geht Zin als letzte im Zug. Mam erkennt sie und will sich aus dem Fenster stürzen. Zin bleibt angewurzelt stehen und zittert so sehr, dass ihr Schleier niederfällt. Die edlen Prinzen sehen alles und sagen unter sich: Mam ist unser Gast, sein Glück ist unsere Ehre. Wir sind Kurden aus Botan und nicht Wilde aus der Wüste. Er soll zur Quelle von Quastal reiten und die Blume pflücken, die sein Herz heilt.

Auf den Rat der Prinzen reitet Mam hinaus zur Quelle und findet dort seine Zin. Sie liegt in seinen Armen und beide vergessen den Weg der Sonne und halten sich Wange an Wange den Tag umschlungen.

Ach, hätte Mam seine Zin sogleich auf den Rücken von Boze Rawan gehoben. Ach Mam, Sohn der Kurden, wie konntest du zögern ...

Ach Kurden, sagt der Dichter Ahmade Chane, Wenn wir Marne Alan hätten Wenn Gott ihm Erfüllung gegeben ...

In Djesire Botan bricht Aufruhr aus. Die einen sagen: Mam und Zin tun Böses bei Quastal. Die andern sagen: Lasst Mam und Zin in Ruhe. Wer Liebenden schadet, dessen Hände verdorren. Da nützt Bako der Teufel die Stunde. Er verrät die Liebenden an den mächtigen Emir. Dieser Mam ist nur ein Gewürzh.ndler, sagt Bako zum Emir, das Volk aber nennt ihn Marne Alan. König der Kurden. Er wird Euch, oh Emir, Eure Tochter Zin und das Emirat entreissen. Hört Ihr Alle: Wutentbrannt lässt der Emir die arme Zin suchen. Sie versteckt sich unter Mams Mantel wie ein flüchtendes Rebhuhn. Mam denkt: Erhebe ich mich, so entdeckt der Emir meine Zin, bleibe ich sitzen, so steigert sich sein Zorn. Mam kniet hin und bittet um Frieden. Fast hätte er den Emir besänftigt, aber Bako zischelt: Die Ehre Eures Hauses ist geschändet, oh Emir, das Volk wird sich erheben. Und der Teufel zeigt auf die langen schwarzen Zöpfe von Zin unter Mams Mantelsaum.

Der Emir lässt Mam in ein tiefes Verliess werfen, Zin weiss nicht wo, blind wird sie vor Tränen. Bako weist ihr heimlich den Ort und schenkt ihr einen Granatapfel, die Frucht des Lebens. Zin eilt zum finstern Turm, mit zärtlichen Worten wirft sie dem Liebsten den Apfel zu. Bako der Teufel hat ihn vergiftet mit dem Gift der Schlangen von Kachan. Marne Alan, Sohn aller Kurden, wird eine Beute des Todes. Sterbend spricht er: Die Welt ist ein Traum, süsse Zin. überlassen wir sie den Verrätern. Und das Herz von Zin zerspringt in tausend Stücke. Die drei edlen Prinzen streuen Asche auf ihr Haupt und legen die Liebenden in die kalte Erde. Auf das Grab pflanzen sie Rose und Basilikum so nahe, dass die Wurzeln sich umschlingen.

Boze Rawan ritt mit leerem Sattel in die Stadt des Westens zurück. Alle Freunde von Mam brachen sogleich auf und ritten in den Osten, nahmen Rache und zerstörten den Palast des Emirs von Djesire Botan. Die Feinde aber der Kurden, die Türken und Tadschiken, die Perser und Araber, brachen mit ihren Heeren über die Grenzen und verwüsteten das ganze Land.

Kurden, sagt der Dichter Ahmade Chane, Wenn wir Marne Alan hätten Wenn Gott ihm Erfüllung gegeben Würde für uns auch das Glück erstrahlen Hätte die Welt auch Achtung vor uns ohne Zweifel Wir wären nicht Ruinen, wo Eulen nisten Untertanen und Habenichtse Ach Kurden ...

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/1992 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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