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Vollmond

Am Ende ist das Rätsel vollkommen. Oder ist es nur Verrätselung? Nichts, so scheint es, stimmt mehr zusammen, die Eltern sind entzweiter als zuvor, die Kinder haben Briefe geschrieben, die Rückkehr angekündigt und bleiben doch verschwunden.

Text: Peter W. Jansen / 01. Apr. 1998

Am Ende ist das Rätsel vollkommen. Oder ist es nur Verrätselung? Nichts, so scheint es, stimmt mehr zusammen, die Eltern sind entzweiter als zuvor, die Kinder haben Briefe geschrieben, die Rückkehr angekündigt und bleiben doch verschwunden. Kriminalkommissar Anatol Wasser – der soll Polizist sein? – hat den Dienst quittiert und den Eltern geraten, von der Polizei nichts mehr zu erwarten. Sondern nur von sich selbst. Aber was können die und was sollen sie machen? Live TV hat die Regie der Wirklichkeit übernommen, und das ganze Land ist ein einziges Dorf. Oder eine Sudelküche.

Totale über einen See. Am Ufer entlang geht ein Mädchen. Umschnitt auf einen hölzernen Steg, der ins Wasser führt, und auf Füsse in Turn­schuhen. Die bleiben exakt am Rand des Stegs stehen. Umschnitt auf den Kopf des Kindes, das eine ­Binde über den Augen trägt und jetzt ab­­nimmt. Das Mädchen reibt die Hände gegen­einander und legt sich eine Hand quer über die Augen, während die andere, ausgestreckt, über den See, in die Ferne zeigt. Wenig später wird das Mädchen bei der Mutter sein, die inmitten von grossen Tischplatten mit Steinsammlungen am Computer sitzt und schreibt. Sie ist unwillig über die Störung. Toni, der zehnjährige Bruder Emmis, werde wohl mit dem Hund spielen, sagt sie. Dann sitzt das Mädchen am Rand des Stegs, wo seine Turnschuhe halt gemacht hatten, und wirft, Stück für Stück und Paar für Paar, die eleganten, blankgeputzten und ziemlich hochhackigen Schuhe der Mutter in den See. Der Hund apportiert.

Toni, wer kann jetzt noch daran zweifeln, ist abgängig; er war nicht in der Schule, und irgendwo im Wald steht sein Fahrrad. Anatol Wasser, er ist beim Angeln, wird alarmiert, Wasser, welch ein Name für den Kommissar, dessen einsames Hobby das Fischen ist und den es immer wieder an die Seen treibt. Eher zufällig hat er eine Spur gefunden: im landespolizeiweiten Fahndungsprogramm seines Computers. Mit Toni sind am selben Tag – oder in derselben Nacht – elf weitere zehnjährige Kinder verschwunden, zusammen sechs Jungen und sechs Mädchen. Und alle, und das ist das einzige gemeinsame Dritte, haben in unmittelbarer Nähe eines Sees gewohnt. Die besucht Wasser.

Alle bisherigen Theorien stürzen in sich zusammen: es kann sich bei der «Entführung» von Toni weder um einen Racheakt fanatischer Umweltschützer gegen dessen Vater, den leitenden Wissenschaftler eines Kernkraftwerks, handeln, noch um einen Erpressungsversuch beim Gross­vater, einem milliardenschweren Industriellen, der schon mal vorsorglich Sendezeit im Fernsehen kauft und den «Entführern» jede von ihnen gewünschte Summe anbietet. Womit er auch als erster die Nachrichtensperre durchbricht. Es wird noch schlimm kommen für diesen Grossvater. Als er anfängt, seine Besitztümer zu verschenken, plädiert seine Frau auf Alzheimer und lässt ihn entmündigen. In einer Nervenklinik wird er sich wie Möbius fühlen.

Schlimm kommt es auch für Max Escher, den Kernkraftmenschen. Zuerst verkracht er sich mit seiner neuen Freundin, weil er das Verschwinden seines Sohnes zu seiner Privatsache erklärt und die Frau meint, einen, der nur mit ihr vögeln wolle, finde sie noch allenthalben. Dann wird Max ­Escher, zunehmend verwirrt und zum Sicherheitsrisiko geworden – man stelle sich vor: ein psychisch labiler Ingenieur in einem Kernkraftwerk! wenn das nicht der leibhaftige GAU ist! –, von seinen Oberen aus dem Verkehr gezogen und in den Bergen deponiert. Dort verkriecht er sich in eine dürftige Hütte, ist allmählich ziemlich unrasiert und hat Visionen, akustische, wie nennt man die?, Auditionen? Er hört einen Kinderchor (wir hören ihn mit) und hört die Stimme seines Sohns heraus; er kriecht durchs Geröll und sieht etwas (wir sehen nicht mit).

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Von schweren Träumen, von Bildern und Tönen werden auch andere Eltern befallen, die ihre Kinder in der Schar von dreizehn (dreizehn!, wo nur zwölf ver­misst werden!) «sehen», zusammen mit einer dunklen Gestalt, die niemand identifizieren kann. Irene Escher, die den Flügel hat stimmen lassen von dem alten, blinden, stets schwarzgekleideten Mann, wird von Klavierspiel wach, von einem Übungsstück, einer Etüde. Doch als sie aus dem Schlafzimmer hinunter geht in den Wohnraum, sitzt niemand am Flügel; nur der Deckel über den Tasten ist hochgeklappt. Irene wird, als Wassers Nachrichtensperre wie von einem Dammbruch hinweggespült worden ist, die Eltern der vermissten Kinder in einem Berghotel versammeln, in dem sie und Wasser sich näher kommen; wie nahe, sieht man nur, wenn er ihr das Frühstück im Bett serviert.

Überall in der schönen Schweizerlandschaft mehren sich die Zeichen. In den Bergen, an Hütten und Häusern, auf freiem Feld oder an Bäume gelehnt, finden sich rätselhafte Arrangements von gleichförmigen schmalen, dünnen Holzbrettern, Schindeln gleich, Objekt-Kunst wie von Eduardo Paolozzi oder Lutz Fecht gefügt. Inzwischen sind auch, am zehnten Tag nach dem Verschwinden, Briefe der Vermissten angekommen, gleichlautende Briefe in allen vier Landessprachen, von jedem der Kinder selbst geschrieben, wie graphologische Analysen bekräftigen. Ein Philo­loge unter den Polizisten will sogar herausgefunden haben, dass der Originaltext in Räto­romanisch abgefasst worden sein müsse. Die Kinder, bei Vollmond verschwunden, versprechen, zum nächsten Vollmond zu­rück­zukehren, falls es den Eltern gelungen sei, «die Erde zur Erde zu machen». Stattdessen dient den Erwachsenen ein Masseninterview von Live TV – alle sind im Studio versammelt – dazu, sich zu outen. Sie schlagen sich ins Gesicht und sagen sich die Wahrheit.

Was ist schlimm an der Wahrheit? Dass sie, wo immer ausgesprochen, Krieg bedeutet? Dass sie nur die Schwäche des Lügners ist? Dass sie mit polizeilichen Methoden und Mitteln nicht herauszufinden ist. Dass sie nicht offensichtlich ist. Dass ihr Preis das Geheimnis ist.

Oder dass ein Kriminalfilm, das ganze Genre des Krimis völlig ungeeignet ist, etwas über die Wahrheit auszusagen. Vollmond sieht ungefähr eine halbe Stunde lang so aus wie ein «Tatort» der ARD; eine weitere halbe Stunde wie ein traditioneller schweizerischer oder deutscher Kriminalfilm, nähert sich in der dritten halben Stunde Dürrenmatt und wird dann, ja was?, ein Märchen? ein Alptraum? eine Allegorie? eine Metapher? ein ­Metafilm? Wasser verwandelt sich nicht gleich in Wein, aber in einen Philosophen. Und der Film in ein Angebot (an den Zuschauer), sich einen Film auszudenken. Nicht dass Vollmond zu einem ­essayistischen oder gar abstrakten Experimentalstück würde. Er bleibt selbst im Rätselhaften vollkommen konkret, kaum einmal, dass die Kamera (oder der Dialog) sich Extravaganzen erlaubte; keine Licht- und Schattenspielereien in diesem ­nahezu “dokumentarisch”-touristisch gefilmten optischen Kontext; kaum einmal Ausreisser der Musik. Es ist wie bei Kafka: die Textur wirkt um so enigmatischer, je «realistischer», konkreter ihre Sprache bleibt; der Realismus ist die Wahrheit der Lüge.

Oder wie bei Jacques Rivette. Von Paris nous appartient über Out One – Noli me tangere, Duelle, Noroît, Le pont du nord bis zu la bande des quatre sind seine Filme wirklich und unwirklich, «realistisch» und irreal, konkret und abstrakt zugleich. «Einmal dem Fehlläuten der Hofglocke gefolgt» (Kafka) oder einmal Rivette gesehen: alles Wirkliche wird phantastisch, alle Phantasmagorien werden wirklich. Neben dem Leben gibt es das Leben noch einmal: «la vie parallèle» der geheimen Botschaften, rätselhaften Notizen, mysteriösen Geschehnisse. Oder der Geheimbünde, freimaurerisch oder nicht. Eine Weile argwöhnen die Polizisten von Vollmond, es mit den Aktionen einer fundamentalistischen Sekte zu tun zu haben – wie Jean-Pierre Léaud (Colin) und Juliet Berto (Frédérique) in Out One von Nachrichten, Briefen, Zetteln und Gedanken getrieben werden, die sie an die Existenz eines «Bundes der Dreizehn» (nach Honoré de Balzacs «Histoire des Treizes») glauben lassen. Dreizehn Kinder sind es – die Zwölf und ein unbekannter dunkelhäutiger Junge –, die Irene Escher und anderen Müttern im Traum erscheinen. Zufall?

Rückblende, erste Sequenz. Während die ­Titel laufen, gleitet eine Unterwasserkamera über den Grund eines Sees. Neben und zwischen von Moos und Tang überwachsenen Felsriffen: Hausrat. Kühlschränke, Fernsehgeräte, eine Deponie, den Augen und Fotoapparaten der Touristen entzogen. Der Film Vollmond kommt auf diese ­Bilder nicht zurück. Aber er handelt von nichts anderem. Von der Zerstörung der Erde, die wieder Erde werden soll.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/1998 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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