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Beresina oder die letzten Tage der Schweiz

Eine «schwarze Komödie über die Schweiz» nennt Daniel Schmid seinen Film, eine «Satire über dieses merkwürdige, komische kleine Land in der Mitte von Europa» und eine «Parabel über Macht, in der Tradition Dürrenmatts». Dazu bedient er sich des fremden Blicks der Aussenstehenden, die ganz naiven Klischee-Vorstellungen folgt und der das Land schlichtweg als Paradies erscheint.

Text: Peter Kremski / 01. Juni 1999

Die dritte Gemeinschaftsarbeit von Daniel Schmid und Drehbuchautor Martin Suter reflektiert auf ihre Weise ein weiteres Mal Schweizer Geschichte und eine Vergangenheit, die zur Fiktion geworden und nicht loszulösen ist vom subjektiven Blick zurück, von einem Standort in der Gegenwart. Jenatsch (1987) beschwor den Geist des gleichnamigen Bündner Freiheitshelden aus dem siebzehnten Jahrhundert und liess den Journalisten, der Details aus Jenatschs Leben recherchierte, die Vergangenheit so stark visionieren, dass er sie schliesslich noch einmal selbst erlebte. In Hors saison (1992) wanderte der Blick des Erzählers durch die verlassenen Räume eines ausgedienten Schweizer Berghotels und füllte sie noch einmal (rein imaginativ) mit Leben, Bilder schaffend aus der Erinnerung, in denen der Erzähler sich selbst als Kind begegnete (wie Marcel Proust auf seiner Suche nach der verlorenen Zeit). Beresina nun scheint ausschliesslich in der Gegenwart zu spielen und macht doch schon mit seinem Titel deutlich (im Rückverweis auf ein historisches Ereignis aus den Napoleonischen Kriegen), dass sich auch die Gegenwart nicht von der Vergangenheit befreien lässt.

Erzählt wird die Geschichte einer Fremden im Lande, einer jungen russischen Prostituierten, die in der Schweiz die besten Kreise bedient: vom Bankdirektor bis zum Bundesrichter, vom Nationalrat bis zum Alt Bundesrat. Sie erhofft sich, über ihre Dienstleistungen Schweizer Bürgerin, wenn nicht gar Ehrenbürgerin dieses von ihr idolisierten Landes zu werden, und ist doch nur die Marionette eines ehrgeizigen Rechtsanwalts und einer zwielichtigen Mode-Designerin, die als ihre Zuhälter fungieren und mit ihrer Hilfe ins Kartell der Macht vorzustossen gedenken. Die Staatsbeamten wiederum erweisen sich unter dem Stiefel ihrer jungen Domina als ein Panoptikum windelweicher Masochisten, die sich als «Würstchen» titulieren lassen, doch selbst noch unterm Stiefel nicht ihr Handy beiseite legen können. Und im Hintergrund lauert derweil noch eine andere Veteranen-Gruppe auf den Tag X ihres Einsatzes: eine von einem Alt-Divisionär gegründete Geheimorganisation von gleichgesinnten Patrioten, denen es um die Rekonstitution vergangener eidgenössischer Grundwerte geht und deren Anführer ebenfalls zu den Kunden der allumsorgenden Russin zählt.

Eine «schwarze Komödie über die Schweiz» nennt Daniel Schmid seinen Film, eine «Satire über dieses merkwürdige, komische kleine Land in der Mitte von Europa» und eine «Parabel über Macht, in der Tradition Dürrenmatts». Dazu bedient er sich des fremden Blicks der Aussenstehenden, die ganz naiven Klischee-Vorstellungen folgt und der das Land schlichtweg als Paradies erscheint. Ironischerweise ist es ausgerechnet eine Prostituierte, die sich so unschuldig wie eine Heilige durch diese Schweizer Geschichte bewegt und nicht die Machenschaften und Intrigen durchschaut, in denen sie selber ein Mittel zum Zweck ist. Während sich ihre wirklichkeitsfremden Vorstellungen von einem Land der Ordnung, Sauberkeit und Idylle zu einem sentimentalen Heimat-Bild fügen, zeichnet Schmid dazu die Konterkarikatur mit seiner süffisanten Beschreibung von Filz, Skandal und Korruption.

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Irina will eine brave Bürgerin des Landes werden und geht ins Landesmuseum, um dort erst einmal die Landesgeschichte zu studieren, denn «eine Schweizerin muss alles wissen über die Schweiz.» Und während sie das fröhlich formuliert, befindet sie sich auf der untersten Ebene des Museums und im tiefsten Keller der Geschichte, denn auch die Schweiz hat ihre Abgründe und ihre Folterkammern. Damit befindet Irina sich dann auch ganz realistisch auf dem Niveau ihrer eigenen gesellschaftlichen Rand-Existenz – als Folter-Domina der städtischen Honoratioren und hohen Landesherren. Und wenn sie sich die Domina-Maske aufsetzt, sind jene anderen im gleichen Zuge demaskiert.

Alt-Divisionär Sturzenegger, Anführer der nationalistischen Untergrundbewegung Kobra, zeigt ihr dann noch ein paar andere Abgründe und führt sie in den luxuriös ausgestatteten Untergrund der Schweizer Berge, wo sich Armee und Regierung im Notfalle bequem unter der Erde verstecken könnten: «Praktisch ist das ganze Land unterhöhlt, und mit dem richtigen Schlüssel kann man vom Bodensee bis Genf unterirdisch durchmarschieren.» Damit auch in diesen verborgenen Tiefen die landesnatürlichen Klischees nicht entbehrt zu werden brauchen, sind in den unterirdischen Bundesratswohnungen zum schönen Schein ein paar trompe-l’œil-Fenster eingebaut, die die nackten Felsen dahinter kaschieren und eine Panorama-Aussicht in die heile Schweizer Bergwelt mit Alpwiese und blauem Himmel vorgaukeln sollen. Das ist dann passenderweise der Ort, an dem Irina sich selber ihrer Klischee-Vorstellung anzugleichen beginnt, die sie von einer echten Schweizerin hat: indem sie (nicht zum letztenmal) ein Schweizer Heimatlied zum besten gibt und auch schon einmal das Jodeln übt. Mit dem Kobra-Kommandeur besucht sie dann noch die heroischen Orte der Schweizer Geschichtslegenden (wie die Tells-Platte) und lässt sich vom Rütli-Schwur der Eidgenossen berichten. Zwischendurch spielt sie mit ihm immer wieder einmal den Ernstfall seines Einsatzes und den Tag der Machtergreifung durch und lässt sich in der Rolle eines Fritz Ochsenbein mit Vergnügen liquidieren.

Die Klischeebilder vom Schweizer Nationalcharakter und die Fiktionen der Schweizer Geschichte gehen für Irina Hand in Hand mit einer patriotischen Heimatverbundenheit. Die Russin darf sich damit schweizerischer vorkommen als mancher Schweizer. Derweil sitzt auch ihre Familie im fernen Russland schon assimilationsbereit auf den Koffern und hat die ursprünglich nur mit russischer Folklore vollgepfropfte Wohnküche bereits mit Schweizer Devotionalien durchsetzt, so etwa mit einem aufblasbaren Gummiflugzeug der Swissair und einem ausgestopften Bernhardiner mit Schnapsfässchen. Klischees und Kitsch-Devotionalien sind die Bastelbausteine einer fiktiven Schweiz, und das weisse Kreuz auf rotem Feld erscheint da wie die heiligste der Reliquien und Irina wie eine Hohepriesterin der Ikonolatrie. In diesen Zusammenhang fügt sich, dass Irina von der Röte der Gletscher singt, Alt-Divisionär Sturzenegger zwischendurch einen Auftritt in roter Prachtuniform absolviert und ein rotleuchtendes Buch mit dem appellativen Titel «Schweizer, das musst du wissen» mit so pathetischer Inbrunst hochgehalten wird wie eine nationale Bibel. Flaggen, die auf dem dekorativ überladenen Ball der Zünfte noch eingerollt im Hintergrund stehen, sind am Ende entrollt, und neben dem christlichen Kreuz findet sich dann als aus dem Untergrund ans Tageslicht befördertes neues Schweizer Emblem die Kobra (wie die Schlange im Paradies). Zu diesem Zeitpunkt hat Irina als Zarin die Herrschaft über die ehemalige Alpenrepublik angetreten. Denn sie hat versehentlich den Beresina-Alarm der Gruppe Kobra ausgelöst und unbeabsichtigt in einer Liquidierungswelle die Würdenträger des Systems beseitigt und sich damit selber an die Macht gebracht, weil der alte Kommandeur seinen eigenen Einsatz verpatzt hat.

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Die Schlange als Symbol der Falschheit und als heimliches Nationalemblem der Schweiz? Das hat natürlich bei aller Leichtigkeit der komödiantischen Erzählung schon eine sehr böse satirische Schärfe. Schmid und Suter präsentieren die ehrenwerten Würdenträger der Nation als masochistische Hanswurste im Apartment eines Luxus-Callgirls. Und ein eidgenössischer Anwalt der Rechte leistet durch verkehrte Fingerhaltung einen falschen Eid. Eine Jagdhütte in den Heidi-Alpen wird zum Versteck eines Mafia-Industriellen. Aber das Land ist so sauber, dass sogar das Geld gewaschen wird, und so ordnungsbewusst, dass sogar einer der Kobra-Attentäter dem Schild mit der behördlichen Aufschrift «Bitte warten» ganz brav Folge leistet und seinen Exekutionsauftrag erst ausführt, als er auch wirklich an der Reihe ist.

«Geld ist neutral», sagt der Bankdirektor einmal, als ihm von einem Fernsehredakteur Handelsgeschäfte mit der Mafia vorgehalten werden. Und: «Die Welt ist rund», womit er meint, dass alle ihren Anteil haben am korrupten System, selbst wenn sie gar nichts davon wissen. Die Schweiz ist so neutral nicht, sagt der Film, und dass die Schlacht bei Marignano (1515) und die Gefechte an der Beresina (1812) als historische Rückverweise vorkommen, hat hier möglicherweise seinen Grund. Beide Male bezogen die Schweizer Niederlagen. Das eine Mal in Hilfeleistung für die Mailänder (aber mit noch eigenständigen politischen Machtinteressen), das andere Mal im Gefolge des französischen Kaisers (als Söldner im fremden Dienst). Nach jeder dieser Niederlagen wurde eilfertig die Schweizer Neutralität proklamiert. Doch Söldner – so eine der satirischen Spitzen des Films – sind die Schweizer im Herzen geblieben, jetzt eben auf wirtschaftlicher Ebene, im Dienste der italienischen Mafia oder auch der deutschen (der Industrie-Mafioso heisst wohl kaum zufällig Tedeschi), als Stütze des Konservativismus und des Kapitals.

Salvatore (Heiland) heisst Tedeschi mit Vornamen, so wie die eingeschweizerte italienische Freundin Irinas eine Benedetta (Gesegnete) ist. Dass jetzt mit der selber wie eine Heilige auftretenden Irina eine Russin auch politisch die Macht übernimmt, verwundert dann vielleicht auch niemand mehr. Als vor Zeiten im fernen Russland die Schweizer bei ihrem Rückmarsch durch die Beresina ins kalte Wasser fielen, hatten die Russen im übrigen auch schon einmal die Oberhand. Doch abgesehen davon ist an dem so weltläufig erfahrenen Bankdirektor als einzigem der alten Würdenträger die Liquidierungswelle vorbeigeschwappt. Er bleibt im Amt und sorgt auch weiterhin für Kontinuität.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/1999 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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