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Von Werra

Werner Schweizer will «Wahrheit als komplexe, interessenbedingte Materie» darstellen. «Eine Annäherung», meint er zu Recht, «bedingt die Berücksichtigung verschiedenster Sichtweisen, auch die Einbeziehung individueller, menschlicher Sehnsüchte, Schwächen und Verstrickungen.»

Text: Walt R. Vian / 01. Juni 2002

Übertrifft die Realität die Fiktion? Ein Walliser Baron, dessen Urgrossvater am kaiserlichen Hof in Wien «seiner gesegneten Vermögensumstände» wegen 1806 in den Adelsstand erhoben wurde, verarmt vollständig. Zwei seiner Kinder werden 1915 nach Süddeutschland verfrachtet, adoptiert und wachsen in einer Adelsfamilie auf, die ihrerseits bald einmal verarmt. Der Adoptivvater missbraucht seine Adoptivtochter jahrelang. Der Adoptivsohn wird Jagdflieger bei der Wehrmacht. Nach einer Bruchlandung auf einem englischen Acker 1941 gefangen genommen, schreibt er, nachdem sein dritter Fluchtversuch erfolgreich war und er von Kanada über Rio de Janeiro, Spanien und Rom nach Deutschland zurückgekehrt ist, von Adolf Hitler in Wien einen Orden erhalten hat, im Auftrag von Propagandaminister Joseph Goebbels ein Buch über seine Flucht, das nie erscheint. Die Engländer James Leasor und Kendal Burke finden nach dem Krieg das Manuskript, machen ein Vermögen damit, und Roy Baker dreht 1957 nach diesem Roman The One that Got Away mit Hardy Krüger in der Hauptrolle.

«Mit zwölf Jahren kam ich ins Altersheim », lautet Wilfried Meichtrys erster Satz im Prolog zu seinem Buch «Du und ich – ewig eins». Für zweihundert Franken und freies Essen wurde er etwa 1977 im kleinen Walliser Dorf Leuk als «Stallbub» «verkauft», lernte da aber Alfred Gentinetta kennen, der ihm die Geschichte vom verarmten Baron und vom Sohn, über dessen Abenteuer sogar ein Spielfilm gedreht worden war, in den Kopf setzte: «Ich wollte wissen, an wen Franz von Werra verkauft worden war.»

Stoff genug. Gleich für mehrere Spielfilme. Aber: Einen Film über den berühmtesten Jagdflieger der Nazis, den «fliegenden Baron» Hitlers, zu machen, hätte den Film- und Weinproduzenten Werner Schweizer, der ab und an auch eigene Filme realisiert, wohl nicht hinreichend interessiert. «Meine Arbeit als Journalist und Filmemacher», sagt Schweizer, «ist vom Interesse an inoffiziellen Geschichtsquellen geprägt, unter anderem an Spielfilmen, Mythen, der Propaganda und Aussagen der noch lebenden Zeugen.» «Hinter Geschichten, Legenden und Mythen der jüngsten Zeitgeschichte eine oder mehrere «wahre» oder tatsächliche Geschichten zu entdecken» fasziniert ihn, wie seine Dokumentation Noel Field – Der erfundene Spion hinreichend belegt.

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Nach dem Vorspann auf blauem Grund setzt ein Motorengeräusch ein, und die Kamera erfasst eine Messerschmitt, die im blauen wolkenlosen Himmel dahin fliegt. «Der Traum des Fliegens ist tausend Leben wert … aber es ist ja Krieg. Dein Buschi» Die Maschine dreht ab und – in die Bewegung hineingeschnitten – eine andere Messerschmitt, die abdreht, übernimmt, ein Heckenschütze ballert: Aufnahmen vom Luftkampf. «Bis zum heutigen Tag geht im Wallis das Gerücht, der Jagdflieger» – Schnitt vom Steuerknüppel auf einen Anflug auf Leuk, gesehen aus der Pilotenkanzel – «habe das kleine Schweizer Städtchen bombardieren wollen». Die Maschine zieht hoch. «Aber es kam alles ganz anders.» Eine Messerschmitt, die in einem Acker bruchlandet, ein Pilot, der ihr entsteigt und gefangengenommen wird. Wir sehen die Fortsetzung auf einer Leinwand. Die Kamera bewegt sich auf den Zuschauer im Saal, Hardy Krüger, der den Film kommentiert: «Ich wusste, dass es eine wahre Begebenheit war.»

Alles ist in diesen ersten rund vier Minuten eigentlich schon vorhanden, womit ein Dokumentarfilm über Franz von Werra arbeiten kann: der fliessende Wechsel zwischen Dokument und Fiktion, Kommentar und Aussagen von Zeitzeugen, der Briefwechsel zwischen den Geschwistern «Buschi» und «Mo», fotografische und filmische Dokumente, der Spielfilm, der teilweise den Ruhm des Schauspielers und der Figur, die er darstellt, begründete und eine eigene Realität geschaffen hat.

Nachdem das Spielfeld in Von Werra etwa abgesteckt ist, wettet der Pilot in einer Szene aus dem Spielfilm mit einem englischen Offizier, dass ihm die Flucht gelingen werde. Und, Kommentar: «Der Deutsche wird die Wette gewinnen.» Wir werden nun in die Kindheit von Franz und Emma zurückgeführt, die sich zunehmend verdüstert und eigentlich damit endet, dass die Kinder zufällig erfahren, dass sie adoptiert wurden. Emma, genannt Moritz, kommt ins Internat, Franz, genannt Buschi, ergreift die Flucht und gelangt als blinder Passagier bis nach Amerika.

Hardy Krüger, der den Franz von Werra in The One that Got Away gespielt hat, liest in den Aufzeichnungen von Franz und erzählt aus seiner eigenen Kindheit. Die erste Flucht von vier Tagen des Prisoners of War liegt «parallel» zur Flucht von Franz nach New Orleans. Die Flucht im Spielfilm wird von Zeitzeugen kommentiert, und schliesslich tauchen Hardy Krüger und Regisseur Roy Baker am einstigen Drehort auf und erinnern sich, wie es bei den Dreharbeiten war. Die Abfolge der Szenen und die Verschränkung der Handlung, der Dokumente und Themen ist bezeichnend dafür, wie Von Werra angelegt ist.

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Nach der Rückkehr als Erwachsener ist es Zeit für Franz, auf eigenen Füssen zu stehen, aber auch seinen richtigen Namen zu erfahren: Von Werra. Er geht auf die Sportschule der SA und macht Karriere als Jagdflieger. Seine Schwester Emma fährt ein erstes Mal in die Schweiz, um ihre richtige Familie kennen zu lernen.

Hardy Krüger besuchte ab 1941 das NS-Elite-Internat «Adolf-Hitler-Schule» auf Burg Sonthofen, wo er auf dem Übungsflugzeug SG38 die schönsten Stunden beim Fliegen erlebt hat und 1943 von Alfred Weidenmann für den Film junge adler ausgesucht wird. Er «kommt aus dem Nazikloster in die Welt des Films». Mehr noch: während sie tagsüber einen Propagandafilm drehen, zeigen der Regisseur und der Volksschauspieler Albert Florath dem jungen Hardy Krüger verbotene Filme von Juden, die er alle hervorragend findet – etwa Amphitryon von Reinhold Schünzel, einem Nicht-Arier –, bis er sich «überlegen musste, ob etwas mit seiner Erziehung nicht stimmt».

Unterschiedliche Ausgangspunkte, die zu unterschiedlichen Entwicklungen und Wahrnehmungen führen. Den Schweizer, der die Wahl hätte, zieht es zurück nach Nazi-Deutschland. Der Deutsche, aber auch vierzehn Jahre Jüngere, beginnt sich innerlich vom Nationalsozialismus abzusetzen. Bei genauer Betrachtung gibt es keinen Grund, die Fakten sprechen dagegen, eine einzige Wahrheit für einzig richtig zu halten. Werner Schweizer will «Wahrheit als komplexe, interessenbedingte Materie» darstellen. «Eine Annäherung», meint er zu Recht, «bedingt die Berücksichtigung verschiedenster Sichtweisen, auch die Einbeziehung individueller, menschlicher Sehnsüchte, Schwächen und Verstrickungen.» Das trifft, wie ebenfalls gezeigt wird, sogar auf eher banale Dinge wie die Wahrnehmung und Einschätzung von Roy Bakers Film zu. Krüger findet es mutig, zehn Jahre nach dem Krieg einen deutschen Offizier zu zeigen, der nicht dem Klischee entspricht. Die deutsche Zeitschrift «Filmkritik» lehnte den Film, als die Kriegsverbrechen verniedlichend, ziemlich entschieden ab. Bakers Wunsch, einen deutschen Offizier als glaubwürdigen Menschen zu zeigen, steht in keinem Gegensatz mehr zur geopolitischen Lage: der kalte Krieg dominiert – und zumindest die West-Deutschen stehen für die Westmächte inzwischen auf der richtigen Seite.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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