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Hans im Glück

Am Anfang war die Idee, sich das Rauchen abzugewöhnen. Und so machte sich der Filmer Peter Liechti im Sommer 1999 spontan auf die Socken, dem Glimmstengel den Garaus zu machen. Sozusagen Zug um Zug – ohne Zigaretten.

Text: Rolf Breiner / 01. Aug. 2003

Am Anfang war die Idee, sich das Rauchen abzugewöhnen. Und so machte sich der Filmer Peter Liechti im Sommer 1999 spontan auf die Socken, dem Glimmstengel den Garaus zu machen. Sozusagen Zug um Zug – ohne Zigaretten. Zwei Schachteln waren sein Tagespensum. Dass er für dieses Entzugsunterfangen drei Anläufe nehmen würde und dreimal vom Wohnort Zürich zum Heimatort St. Gallen wanderte, war ursprünglich nicht geplant. Doch die Rückfälle forderten eine zweite und dritte nikotinfreie Wanderung gen Osten.

Sich treiben lassen

Allein unterwegs, eine DV-Kamera zur Hand und ein Schreibgerät im Gepäck. Peter Liechti liess die Stadt hinter sich, liess sich treiben, trollte von Ort zu Ort, setzte sich Stimmungsschwankungen und den Menschen aus, die seine Wege kreuzten. Merkwürdige, nicht alltägliche Begegnungen und doch so alltäglich wie der Mond über dem Bodensee oder ein Höhenfeuer im Appenzellischen.

War der erste Versuch ein spontanes Unternehmen, hat der zweite konkrete Formen angenommen, das heisst war als Filmprojekt ausgerichtet. Die Rahmenbedingungen blieben gleich: Keine Zigarette, keine Begleitung, keine Vorausplanung etwa bei Übernachtungen, keine zeitlichen Vorgaben und grundsätzlich ist die ganze Strecke zu Fuss zurückzulegen (Abstecher mit Bus, Bahn oder Schiff sind erlaubt). Beim zweiten Versuch führt die Strecke von Zürich nach Rapperswil, zum Ricken, nach Wattwil und Wildhaus, zum Säntis, zur Schwägalp, nach Urnäsch, Appenzell und St. Gallen. Die Folklore-Schweiz präsentiert sich an einem himmeltraurigen Wochenende. Der Fahnenschwinger wird zum Don Quichotte und kämpft mit dem Tuch. – Peter Liechti findet Kontakt zu Peterer, dem Kobold von Steinegg, und seiner Sau Mäxli. – In Brülisau trifft er den pensionierten Postbeamten, Jäger und Hobby-Filmer Emil Haas. Der hat während dreissig Jahren Tiere und Landschaft mit seiner Super-8-Kamera festgehalten. Auch eine Art Heimatschutz und Heimatliebe. – Und noch ein Appenzeller: der siebzigjährige Richard Dörig ist seit vierzig Jahren «Funken-Chef», ein kleiner Napoleon für den «Funken-Sonntag», beim gigantischen Höhenfeuer in Ried, wohl dem grössten der Schweiz. Bei diesem Fest dürfen Kinder zwei Tage lang rauchen, und es wird gequalmt, was Stumpen, Zigaretten und Pfeifen halten. – In Rapperswil begegnet der filmende Wanderer einem Laiensänger auf dem Velo, der munter einen Dixie intoniert. Eine Performance der heiteren Art.

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Prinzip des Fortschreitens

Die Episoden fügen sich wie Mosaiksteinchen zu einem Bild. Jede spricht für sich und für alle und evoziert Assoziationen. Die Dramaturgie folgt dem Prinzip des Fortschreitens. Letztlich ist nicht der Rauchverzicht das Thema, sondern die Reise, der Weg, die Kreuzungen und Reflexionen des Autors. Text und Bild bedingen sich. Der kommentierende Off-Erzähler kommentiert die Bilder – ironisch, sympathisierend, mit kühlem Kopf und Herzen.

Von seinen drei 150-km-Wanderungen hat Peter Liechti 150 Stunden Videomaterial und 90 Seiten Tagebuch mitgebracht. Das dokumentarische Essay ist ein Konzentrat daraus. Geplant ist ein bebildertes Tagebuch. Die Verzahnung der eigenen Biografie mit der Arbeit wird in den Eingangs- und Schlussbildern versinnbildlicht: Eine Herde afrikanischer Springböcke stakst wie eine Prozession im Gleichschritt über die Steppe. Am Ende spiegelt sich ein Bock, schier unbewegt, im Wasser. Bilder aus Namibia sind eingestreut. Sie spuken Peter Liechti im Kopf herum, der just seinen nächsten Film namibia crossing schneidet. Ein Parallelprojekt.

Bilderassoziationen

Welten, Gedanken werden so verbunden und sichtbar. Sie setzen sich fest, bewegen sich fort, spinnen ihre Geschichten – im Kopf des Zuschauers. Das war bei Liechtis Dokumentarfilm signers koffer (1992/96) nicht anders als bei seinem ersten Spielfilm Marthas Garten (1994/97) mit Stefan Kurt. Gemeinsam ist diesen Projekten auch, dass sie Zeit brauchen, sich über Jahre hinwegziehen. Das gilt auch für den Wandergesellen Hans (2000–2003) und den Namibia-Musikfilm (1999–2003).

«Während eines bestimmten Zeit- und Lebensabschnitts – davon bin ich überzeugt – stehen alle Erlebnisse und Erfahrungen in einem inneren Zusammenhang», erklärt Peter Liechti, «seien es nun Reisen, Begegnungen, Bücher, Konzerte, Filme … oder eben Bilder und Texte, die während dieser Zeit entstanden sind. Ich spreche hier von der Zeit ab Anfang 1999. Nur schon diese «Gleichzeitigkeit» des Materials gibt mir das Vertrauen, dass sich die Bilder und Texte mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zu einem filmischen Fluss montieren lassen – auch wenn die erzählerischen Schlaufen und Schnellen noch so überraschend steigen.» Afrika und die Schweiz vermischen sich.

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«Während eines bestimmten Zeit- und Lebensabschnitts – davon bin ich überzeugt – stehen alle Erlebnisse und Erfahrungen in einem inneren Zusammenhang», erklärt Peter Liechti, «seien es nun Reisen, Begegnungen, Bücher, Konzerte, Filme … oder eben Bilder und Texte, die während dieser Zeit entstanden sind. Ich spreche hier von der Zeit ab Anfang 1999. Nur schon diese «Gleichzeitigkeit» des Materials gibt mir das Vertrauen, dass sich die Bilder und Texte mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zu einem filmischen Fluss montieren lassen – auch wenn die erzählerischen Schlaufen und Schnellen noch so überraschend steigen.» Afrika und die Schweiz vermischen sich.

Eine Heimsuchung

Als Roadmovie für Fussgänger, als Widmung an alle Raucher und andere Abhängige und natürlich an Hans im Glück empfiehlt Liechti seine assoziative Pilgerfahrt. Das witzige Dokument einer Heimsuchung, die ironisch gebrochene Liebeserklärung an ein Stück Heimat unterhält intelligent. Nun mögen sich kritische Geister daran stören, dass der Filmer sich in den Fokus stellt, seine Befindlichkeit, seinen Seelentrip zum Thema macht. Doch diese Vordergründigkeit tritt in den Hintergrund, letztlich erweist sich hans im glück als vergnügliche Schweizer Reise – weit über Kantönligeist und Heimatdusseligkeit hinaus.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2003 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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