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Tannoed 01

Tannöd

Wer durch ausgedehnte bayerische Tannenwälder wandert und kaum einem Menschen begegnet, kann die Angstgefühle nachvollziehen, die diese einsame Landschaft auslösen kann. Jeder plötzliche Laut wird als ungewöhnlich empfunden. Märchen haben sich dieser mit Angst besetzten Undurchdringlichkeit gerne bedient. Und auch die beiden Frauen, die da zu Beginn des Films durch das Unterholz mehr stolpern als gehen, schrecken plötzlich zusammen.

Text: Erwin Schaar / 07. Nov. 2009

Wer durch ausgedehnte bayerische Tannenwälder wandert, abseits touristischer Pfade, und dabei kaum einem Menschen begegnet, der kann die Angstgefühle nachvollziehen, die diese einsame Landschaft auslösen kann. Jeder plötzliche Laut wird als ungewöhnlich empfunden. Märchen haben sich dieser mit Angst besetzten Undurchdringlichkeit gerne bedient. Und auch die beiden Frauen, die da zu Beginn des Films durch das Unterholz mehr stolpern als gehen, schrecken plötzlich zusammen, als ihnen eine an einen Waldschrat erinnernde Gestalt begegnet, die wie ein Rumpelstilzchen umherspringt, ihnen aber keine Auskunft gibt, wo es zum Tannödhof gehe, denn sie hätten sich verlaufen. Die Jüngere von beiden soll dort als neue Magd eingestellt werden (wo auch ihr Leben bald enden wird). Dieser filmische Prolog kündigt das kommende Unheil an.

Wie verfilmt man einen Roman, der von einem Mord erzählt, bei dem eine ganze Familie ausgelöscht und der Täter nie gefunden wird? In Bettina Oberlis Film kommt zwei Jahre nach der Tat die sechsundzwanzigjährige Krankenschwester Kathrin aus der Stadt ins Dorf, das dem einsamen Tannödhof am nächsten liegt, um ihre Mutter zu beerdigen. Kathrin wurde nach der Geburt weggegeben, ihren Vater hat sie nicht kennengelernt. Und Kathrin wird jetzt mit der Mordgeschichte, die noch immer das Dorf in Atem hält, konfrontiert.

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Kathrin ist die zusätzliche Figur im Drehbuch, die dem Erstlings- und Erfolgsroman Andrea Maria Schenkels die filmische Form geben soll. Da wir durch den Roman wissen, dass dieser Mordfall nie aufgeklärt wurde und die Tat ohne Täter die Zuschauer eher frustriert hätte, haben Oberli und die Drehbuchautorin Petra Lüschow Kathrin gleichsam für die kathartische Reaktion der Zuseher gesetzt: «Wenn ich einen Stoff verfilme, möchte ich eine Vision dazu entwickeln, die über die eigentliche Geschichte hinausgeht. Es geht natürlich um den Mord, aber es ist zugleich ein Gesellschaftsbild und erzählt etwas über das Menschsein allgemein, über die Abgründe. Es geht um Schuld und Verantwortung, um die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Deshalb haben Petra Lüschow und ich die Figur der Kathrin erfunden, die nicht aktiv wie eine Detektivin nach dem Täter sucht, sondern durch die Konfrontation etwas über das Menschsein lernt und damit auch über sich selbst. Natürlich will man wissen, wer der Täter ist, aber das Interessante ist doch, dass man sich schockiert fragt, wie so etwas geschehen konnte.»

Der tatsächliche Mord an sechs Menschen in den zwanziger Jahren im oberbayerischen Hinterkaifeck hat eine seltsame Präsenz im medialen Geschehen behalten. Filmische und literarische Dokumentationen und ein Theaterstück zerrten ihn wieder ins Licht der Öffentlichkeit. Andrea Maria Schenkel verlegte die Tat in ihrem Kriminalroman in die fünfziger Jahre und feierte 2006 trotz Plagiatsvorwurf einen ungeheuren Auflagenerfolg. Dafür erhielt sie den deutschen und schwedischen Krimipreis und den Friedrich Glauser Preis. Ein Hörspiel und ein weiteres Theaterstück wurden inszeniert, bis die 1972 in Interlaken geborene und an der Zürcher Hochschule für Gestaltung ausgebildete Bettina Oberli für die Verfilmung gewonnen wurde.

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Das Leben im Dorf ist von Misstrauen erfüllt. Gebete werden gesprochen, die wie beschwörende Zaubersprüche klingen, und der Waldschrat mimt von Zeit zu Zeit die irreführende Fährte. Die Umwelt ist noch geprägt vom einfachen ländlichen Leben. Die Stadt ist weit entfernt, aus der Kathrin wie eine Figur aus einer anderen Welt auftaucht und mit einem Geschehen konfrontiert wird, das ihr doch nur fremd sein kann. Übergangslos werden die Bilder der erzählten Vergangenheit in die aktuelle Geschichte geschnitten, was die groben Verhältnisse auf dem Tannödhof, wo der gewalttätige Vater der Tochter die Kinder zeugt, noch abscheulicher erscheinen lässt. Gefilmt ist alles mit einer Kamera nah am Geschehen, die kaum Kraft aus einer Inszenierung von Beziehungen schöpft. Allzu oft verweisen Bildkonstellationen immer wieder auf die Tat und lassen die Personen vor allem der aktuellen Handlung mit kaum entwickelten Physiognomien agieren. Wenn die einzelnen Charaktere wiederholt auftauchen, ist der Zuschauer immer gezwungen, sie erneut in die Geschichte zu integrieren, weil ihr Platz nicht definiert ist. Der Tannödbauer Danner ist eher dadurch charakterisiert, wie er sich ein Stück Speck mit stilloser Geste abschneidet, und der Dorfpfarrer zeigt seine hässliche Fratze erst durch den übermässigen Schnapsgenuss beim Leichenmahl. Wenn die Sprache des Romans knappe Schilderungen wählt, können diese in der bildlichen Gestaltung ausser Façon geraten, abrutschen in die Aufdringlichkeit. Wie die Dialoge, wenn sie mit kupiertem Dialekt Lokalkolorit erzeugen sollen. Handlungen kann man gestalten oder auch abagieren, was dann Lösungen hervorbringt, die am Interesse und der Aufmerksamkeit des Zuschauers abperlen wie Wasser. Der Mord an den Bauersleuten, der Tochter mit ihren zwei Kindern und der Magd erscheint wie die Erlösung von einer Handlung, die wie eine moralpädagogische These vorführt, dass sich hinter dem Menschsein Abscheuliches verbergen kann. Die Kunst, einfache Charaktere so zu inszenieren, dass sie ihr Menschsein nicht verlieren, nicht zu Klischees verkommen, hat nichts damit zu tun, dass «Schuld» oder «Verantwortung» als Vorgaben in die Geschichte eingebracht werden, sie ergeben sich aus dem, was aus Schauspielern an darstellerischen Qualitäten hervorgeholt werden kann, wobei der Film bei der doch auch prominenten Besetzung enttäuscht.

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