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Fish tank 02

Fish Tank

In manchen Momenten scheint dieser Film stillzustehen. Als ob es nicht mehr weiter ginge. Dann verharren die Menschen in ihren Bewegungen und halten kurz inne, gerade so, als ob sie im nächsten Augenblick die Flucht ergreifen würden, was manchmal auch tatsächlich geschieht. Bei Mia gibt es diese Momente des Stillstands beim Tanzen.

Text: Michael Pekler / 09. Dez. 2009

In manchen Momenten scheint dieser Film stillzustehen. Als ob es nicht mehr weiter ginge. Dann verharren die Menschen in ihren Bewegungen und halten kurz inne, gerade so, als ob sie im nächsten Augenblick die Flucht ergreifen würden, was manchmal auch tatsächlich geschieht. Bei Mia gibt es diese Momente des Stillstands beim Tanzen: Ihre einer genauen Choreographie folgenden Hip-Hop-Schritte enden meist abrupt, und wenn sie in die Höhe springt und dabei Arme und Beine ausstreckt, scheint ihr Körper sogar kurz in der Luft zu stehen.

Mia ist fünfzehn Jahre alt und wohnt mit ihrer alleinerziehenden Mutter Joanne und ihrer jüngeren Schwester in einer heruntergekommenen Wohnhausanlage irgendwo in Essex. Der deutsche Begriff Wohnsilo für derartige Bauten passt auch deshalb so gut, weil er das Bild eines Speichers beinhaltet: Nur dass es hier statt Zement oder Futtermittel eben Menschen sind, mit denen die Komplexe gefüllt werden. So viele wie möglich auf möglichst wenig Raum. Doch einer davon gehört nur Mia. Hierher kommt sie zum Tanzen, hier stellt sie ihren CD-Player auf und taucht in eine andere Welt ein. Eine leerstehende Wohnung mit verschmiertem Boden und einer vertäfelten Wand. Wer hier gewohnt hat, der hat möglicherweise Glück gehabt und ist in eine bessere Gegend gezogen. Ans Weggehen denkt Mia noch nicht, und doch ahnt man, dass auch ihre Flucht nur eine Frage der Zeit ist.

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Zunächst trainiert Mia ohne Ziel und Zweck, doch sie ist eine gute Tänzerin, vielleicht sogar ein verborgenes Talent. In diesem einen leeren Zimmer gönnt sie sich eine Auszeit – auch als eine Form von Stillstand. Denn Probleme gibt es genug: in der Schule, mit den anderen Mädchen, mit der Mutter. Mia, grossartig dargestellt von der Laienschauspielerin Katie Jarvis, ist eine Aussenseiterin, bockig und verschlossen. Sie redet kaum, aber hinter den wenigen Worten und der offen zur Schau getragenen Aggression ist eine Verletzlichkeit zu spüren. Und diese Verletzung wird auch geschehen.

Das ist die Ausgangslage für einen der bemerkenswertesten britischen Filme seit langer Zeit: Fish Tank heisst der erst zweite Spielfilm der britischen Regisseurin Andrea Arnold, die vor wenigen Jahren mit dem in Glasgow spielenden Rachedrama Red Road auf sich aufmerksam machte, und natürlich ist man versucht, angesichts seines Milieus und dessen, was allzu oft und schnell mit Sozialtristesse beschrieben wird, an die lange Tradition des renommierten Autorenkinos eines Mike Leigh zu denken. Doch Fish Tank ist mehr als eine Weiterführung dieses realistischen Erbes: Arnold interessiert sich, wie auch Leigh in seinen besten Filmen, nicht nur für die präzise Schilderung von Lebensumständen, für Menschen am Rande der Belastbarkeit, sondern erkennt die individuelle Veränderung als politische Kraft.

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Und so tritt auch Fish Tank, wie seine junge Protagonistin, selbstbewusst als ein politischer Film auf – nicht aufgrund seiner Sozialkritik, sondern weil seine Heldin erst vor diesem Hintergrund ihre Kraft entwickelt. Von der Gesellschaft hat Mia ebenso wenig zu erwarten wie von ihrer Familie, doch Arnold geht es nicht darum, das Elend der Welt zu erklären. Sie stellt konkrete Fragen: Welchen Stellenwert hat das Leben unter diesen oder jenen Bedingungen? Mike Leigh meinte einmal: «Die Frage ist die, ob es so ist, wie es sein sollte.» Mit Arnold könnte man antworten: «Natürlich nicht, aber machen wir das Beste draus.»

Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass Fish Tank in erster Linie der Willenskraft seiner jungen Heldin traut, die sich vorbildhaft dem Sozialabbau entgegenstellt und am Ende eigene Wege geht. Doch dieser Problematik und seiner möglicherweise allzu leichten Lösung ist sich Arnold wohl bewusst, weshalb sie Mia keineswegs als junge Frau inszeniert, an deren Unglück nur die gesellschaftlichen und familiären Umstände schuld sind. Es sind auch die eigene Wut und der Stolz, die Mia überwinden muss, um die entscheidenden Schritte – und zwar nicht nur beim Tanzen, denn das wäre eine Frage der Übung – zu finden. Nachdem sie endlich zu einem Casting eingeladen wird, erkennt sie gerade vor Publikum erneut die Abhängigkeit und Diskriminierung. Und dass es im Leben auch darum geht, was man nicht bereit ist zu tun.

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Dies wird besonders in einer buchstäblich herausragenden Szene deutlich, die unmittelbar mit dem Auftauchen des neuen Freunds der Mutter zusammenhängt, der sich liebevoll der beiden Schwestern annimmt. Der fest im Leben stehende und auch deshalb besonders attraktiv wirkende Connor kann sein Interesse für Mia nicht verbergen, und auch sie selbst verfällt der ungewohnten Zuwendung. Doch als sie dem Mann nach Hause folgt, entdeckt sie eine andere Wahrheit, und Mias Kurzschlusshandlung inszeniert Arnold wie einen eigenen kleinen Film: Plötzlich scheinen Raum und Zeit keine Rolle mehr zu spielen, endet eine Verfolgung durch die Dünen beinahe in der Katastrophe, ist Mia einen Schritt zu weit gegangen.

Es sind Momente wie dieser, die Fish Tank seine besondere Qualität verleihen und in denen sich die Kamera förmlich an einer Habhaftwerdung der Körper abarbeitet. Denn immer sind alle unterwegs in diesem Film, halten es nicht aus in den Wohnungen, den Supermärkten und auf den betonierten Plätzen. Wenn Mia loszieht, heftet sich die Kamera buchstäblich an ihre Fersen und verliert bisweilen sogar die Orientierung.

Eines Tages entdeckt Mia irgendwo in der Nähe ihres Wohnblocks neben einer kleinen Wohnwagensiedlung ein angekettetes, weisses Pferd. Wiederholt versucht sie, den Schimmel zu befreien, erkennt im Schicksal des Tieres wohl einen Teil ihrer selbst. Diese Schritte müssen vorsichtig gesetzt sein, um sich nicht zu verraten, doch am Ende muss Mia feststellen, dass sich ihre Anstrengung anderweitig gelohnt hat.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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