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The Sound of Insects

Es gibt Filmemacher, die uns mit jedem Film überraschen, weil ihre unbändige Phantasie zu immer neuen Ufern führt. Zu ihnen gehört Peter Liechti, der Schweizer, der in seinem eigenen, derzeit so mainstreamhörigen Land eher als marginal wahrgenommen wird, im Ausland dagegen nachgerade den verdienten Ruf als einer der kreativsten zeitgenössischen Schweizer Filmschaffenden hat.

Text: Martin Girod / 01. Sep. 2009

Es gibt Filmemacher, deren neuestes Werk jeweils präzise den Erwartungen entspricht, die ihre vorangegangenen Filme geschaffen haben. Das kann künstlerischer Konsequenz und beharrlicher Vertiefung entspringen oder auch versiegender Inspiration und kommerziellem Wiederholungszwang. Und es gibt Filmemacher, die uns mit jedem Film überraschen, weil ihre unbändige Phantasie zu immer neuen Ufern führt. Zu ihnen gehört Peter Liechti, der Schweizer, der in seinem eigenen, derzeit so mainstreamhörigen Land eher als marginal wahrgenommen wird, im Ausland dagegen nachgerade den verdienten Ruf als einer der kreativsten zeitgenössischen Schweizer Filmschaffenden hat. Bei ihm wissen wir im Voraus eigentlich nur, dass sein neuer Film bestimmt nicht so aussehen wird, wie man das schon kennt, von ihm oder von anderen.

Das gilt in hohem Masse auch für sein jüngstes Werk The Sound of Insects. Dass Liechti darin fast selbstverständlich Bildmaterial aus früheren Filmen mitverwendet und dass die eigenwillig verfremdete Musik von Norbert Möslang stammt, mit dem er schon in kick that habit zusammengearbeitet hat, ändert daran so wenig wie die persönliche Verbindung, dass die Entzugszustände von Liechtis eigenem, in hans im glück dokumentiertem Versuch, das Rauchen aufzugeben, ihn hellhörig gemacht haben dürften für das ganz Auf-sich-selbst-Zurückgeworfensein seiner neuen Hauptfigur.

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Diese stellt, mitten im Wald, etwa eine Stunde vom nächsten befahrenen Verkehrsweg entfernt, einmal fest, sie höre «das Summen von Insekten – ich bin nicht allein». Eine überraschende Bemerkung, kommt sie doch von einem Menschen, der sich zurückgezogen hat, um sich in der ländlichen Abgeschiedenheit zu Tode zu hungern. Er sei anscheinend von niemandem vermisst worden, hält der Off-Text fest, der zu Beginn über das Auffinden des Toten und seiner Aufzeichnungen berichtet. Diese bilden in der Folge den einzigen sprachlichen Text und zugleich das Rückgrat des Films. Sie berichten vom fast neunwöchigen Aufenthalt in der Abgeschiedenheit, hin bis zum Eintreten des Todes.

Ein Film über das Sterben also? Obwohl die Aufzeichnungen nüchtern die Auswirkungen des völligen Nahrungs- und weitgehenden Flüssigkeitsentzugs auf den Körper registrieren, auch von den Schmerzen berichten, ist hier weniger vom Sterben die Rede als von den letzten 62 Tagen eines Lebens. Über die Zeit vor dem Rückzug – etwa vierzigjährig soll der tot Aufgefundene gewesen sein – erfährt man wenig, nur, dass er «ohne jedes Interesse, völlig unbeteiligt am Lauf der Welt» ein bedeutungsloses und reizloses Leben geführt habe.

Umso reizvoller erscheint im Kontrast sein neues Einsiedlerleben. Nicht nur den eigenen Körper, auch die ihn umgebende Natur nimmt er intensiv wahr: das tiefe Grün des Waldes, die Betriebsamkeit der Ameisen, das Trommeln des Regens auf dem Plastikdach seines Unterschlupfs und andere Umweltgeräusche wie das titelgebende Summen der Insekten. Er hört Radio, vorwiegend Musik, und dies mit immer kritischer werdendem Geist. Er liest, von Samuel Beckett («"Malone meurt” kann man nur verstehen, wenn man hungert») bis zur «Divina commedia», beschäftigt sich aber vor allem mit sich selbst – gelegentlich sogar mit einem leisen Anflug von Humor oder Selbstironie. Etwa wenn er feststellt: «Mit der Zeit wird es langweilig, nur ans Sterben zu denken.» Es ist, als hätte der Entschluss, das Leben zu verlassen, den letzten Lebenstagen erst jenen intensiven Reiz verliehen, der vorher gefehlt und dessen Fehlen zu diesem Entschluss geführt hatte.

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Peter Liechti hat diesen monologischen, durch präzise Datumsangaben eine strikte chronologische Ordnung schaffenden Text beim japanischen Schriftsteller Masahiko Shimada gefunden, der seinerseits vorgibt, von einem authentischen Fall und echten Aufzeichnungen inspiriert worden zu sein. Ob es dieses Tagebuch wirklich gegeben hat und wie sehr medizinisch plausibel seine Beobachtungen im Einzelnen sind, bleiben Fragen, die am Kern von Peter Liechtis Film vorbeizielen, der sich auch jeder präzisen geografischen Verortung entzieht, jedenfalls nicht in Japan angesiedelt ist.

Der durch Experimental- und Dokumentarfilme bekannte Regisseur bedient sich diesmal also eines fiktionalen oder zumindest fiktionalisierten Texts. Doch macht er daraus keinen Spielfilm im üblichen Sinn, auch wenn es einige inszenierte Szenen mit Nebenfiguren gibt. Die Hauptfigur wird im Bild systematisch ausgespart; wir sehen primär mit ihren Augen. Die Kamera zeigt uns ihre reale Umgebung, ihre Erinnerungen und – im Laufe der Zeit offenbar in zunehmendem Masse – ihre Phantasien. Schwarzweisse und monochrome Sequenzen schieben sich dabei immer wieder zwischen die farbigen.

Gross- und Nahaufnahmen, etwa von einem Spinnennetz oder von Tannennadeln, wechseln ab mit Totalen, die – die subjektive Optik brechend – immer wieder Distanz schaffen, vielleicht auch die Teilnahmslosigkeit der Natur gegenüber dem individuellen Drama ausdrücken. Umgekehrt verstärkt Liechti die Tonebene aus Geräuschen und Musik stellenweise so, dass sie als subjektive Wahrnehmung bewusst wird. Die Willkürlichkeit der persönlichen Eindrucksselektion macht er auch deutlich, wenn mal ein Specht ohne entsprechenden Ton im Bild zu sehen, ein anderes Mal sein Hämmern nur auf der Tonebene wahrnehmbar ist.

Peter Liechti baut seine sachlich-unaufgeregte und zugleich beklemmende Reflexion konsequent auf solch autonomer Behandlung der drei Ebenen auf: jener des literarischen Texts (das heisst des Off-Kommentars), jener der Töne (Musik und Geräusche) und jener der Bilder. Es bleibt mehrheitlich dem Zuschauer und Zuhörer überlassen, einen Zusammenhang zwischen diesen Ebenen herzustellen; das macht den ruhigen Film fordernd und auf wohltuende Weise anregend. Zugleich gehört es zum Wesen dieser poetischen Konzeption, dass des Autors assoziative Zusammenfügungen sich wohl nicht jederzeit allen Zuschauern voll erschliessen mögen.

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Da es in Liechtis Film vor allem um das Leben vor dem Tode geht, räumt seine Chronik eines angesagten Ablebens den sogenannt «letzten Fragen» nur wenig Platz ein. Auch dem Nichtgläubigen – die Hauptfigur bemüht Buddha, Moses und Christus vor allem als «Kollegen im Fasten» – wird in einer solchen Situation, wenn sich die Gedanken in seinem Kopf im Kreise drehen, dann und wann die Frage nach dem Danach einfallen. So werden im Text der Styx und der Nachen zu dessen Überquerung erwähnt, im Bild wird auch einmal kurz der Sensenmann herbeizitiert. Doch erst im Schmerz- und Schwächedelirium der letzten Phase taucht mal eine bereits Gestorbene am Bett des Sterbenden auf, soll der Fährmann die Existenz eines «Drübens» leugnen – bis sein Boot, eine vom Text ausschliesslich in unserem Kopf erzeugte Imagination, sich als Hase erweist und der Humor nochmals über jede tiefsinnige Schwere triumphiert. Nur die Bilder von Vogelschwärmen evozieren noch die Vorstellung einer Migration.

Bilder einer Schneelandschaft begleiten zu Beginn den Bericht über das Auffinden des Toten; es herrscht jenes Weiss, das wir gerne konventionell mit dem Erstarren der lebendigen Regungen assoziieren. Wenn es jedoch am Ende des Lebens der Hauptfigur und des Films hell wird auf der Leinwand, steht bei Liechti als letzter Eindruck nicht das Nichts, sondern das Bild einer Menschenmenge und der Ton eines diffusen Stimmengewirrs. Die Absonderung der noch immer namenlosen, uns aber inzwischen vertraut gewordenen Person wird aufgehoben, im Sterben wird sie eins mit dem Leben.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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