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Un prophete 01

Un prophète

Text: Martin Girod / 13. Jan. 2010

Das Kino kann uns Einblicke vermitteln in Welten, die wir nicht aus eigener Anschauung kennen – und froh darüber sind. Eine solche typische Kinoerfahrung sind Gefängnisse: Kein Verliess ist dem Filmfan fremd, von den Kerkern der Inquisition bis zum Jackson County Jail. Jacques Audiard versucht in seinem Spielfilm Un prophète, unbelastet von Gruselvorbildern, einen nüchternen und kritischen Blick auf den Alltag hinter heutigen französischen Gittern zu werfen.

«Tu peux apprendre ici», dieser kurze, keineswegs zynisch gemeinte Satz bedeutet, an die weitgehend analphabetische Hauptfigur Malik El Djebena gerichtet: Du kannst hier, im Knast, lesen lernen. Was aber ein junger Mensch im Gefängnis wirklich lernt, das ist eine der Kernfragen nicht nur dieses Films, sondern aller Debatten über Strafen und Strafvollzug.

Mehr Gewicht als die offiziellen Bildungsangebote – von Audiard in ihrer pedantischen Weltfremdheit aufgespiesst – haben in der Regel die Kontakte zu den Mitgefangenen. Insbesondere aus der Literatur kennt man Schilderungen, wie junge Häftlinge durch ältere, zumeist aus politischen Gründen inhaftierte Zellengefährten Einblick in eine kulturelle Welt erhielten, von der sie zuvor keine Ahnung hatten. Realiter wohl weit verbreiteter und als Teufelskreis berüchtigt ist das Gefängnis als Schule des Verbrechens, in der die Aussicht auf künftige “Grosstaten” die jüngeren und älteren Kriminellen eint.

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Un prophète geht differenziert an solche Lernprozesse heran. Er stellt mit Malik eine Figur in den Mittelpunkt, die, in Heimen aufgewachsen, früh mit der Polizei in Konflikt geraten und nun gerade volljährig geworden, für die Verbüssung seiner restlichen Strafe in ein gewöhnliches Gefängnis wandert und da die Härte der Knastwelt erfährt. Audiard schildert dies, ohne gleich zu werten, als tastendes Suchen nach der eigenen Identität. Malik lernt töten, um nicht getötet zu werden, er passt sich den Mächtigen an. Das sind hier die Korsen mit ihrem Boss César Luciani, dessen Instrument Malik wird. Mit einem Wörterbuch versucht er sogar, die Sprache der Korsen zu verstehen, und negiert seine eigenen, ihn nur rassistischer Geringschätzung aussetzenden arabischen Wurzeln. Nach und nach beginnt er, die Spielregeln der Macht zu durchschauen und sich zu verselbständigen.

Ein Lehrstück also? Die den Film beschliessende Brecht-Referenz, ein verfremdeter Mackie-Messer-Song, könnte solche Absichten ebenso bestätigen wie die Distanz schaffenden Zwischentitel. Tatsächlich hat Vieles in Un prophète exemplarischen Charakter: die Machtstrukturen im Gefängnis, in dem die Korsen das Sagen haben, die Korruption der Aufseher und der Aufstieg des “treuen” (und doch nicht blinden) Dieners Malik, der weder als Held noch als Antiheld gezeichnet wird. Beeindruckend, wie Audiard ein langsames Kippen der Machtverhältnisse zeigt: Weil Nicolas Sarkozy einen Teil der Korsen begnadigt hat, schrumpft die Machtbasis ihres im Gefängnis und aus diesem heraus mächtigen Bosses, seine Kumpane in Freiheit beginnen ihre eigenen Wege zu gehen, und im Knast wird die Überzahl arabischer Häftlinge zu einer bedrohlichen Konkurrenz. Der Versuch des Korsen, Malik dafür umso stärker einzubinden, scheitert an dessen im Laufe der Gefängnisjahre gewonnenen kritischen Sicht der Verhältnisse: Er weiss, dass die Tage von Lucianis Macht gezählt sind, und verhält sich entsprechend. Überhaupt bleibt sein Verhältnis zum Boss nüchtern, stets geprägt vom im Gefängnis omnipräsenten Misstrauen; er sieht, auch wenn er von ihm lernt, in ihm mehr den Herrn als einen Vater.

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Das alles gerinnt bei Audiard nicht zu trockener Demonstration, sondern bleibt lebendig in der Detailpräzision, mit der er das Gefängnis und seine Strukturen schildert. Selbst die Betonung der Vogelstimmen, des Meers, des Sands erscheint von funktionaler Sinnlichkeit und Sinnfälligkeit, sie verdeutlicht den emotionalen Stellenwert der kurzen Momente der Teilfreiheit.

Dass uns die Situation der Hauptfigur nahegeht, auch wenn diese uns zugleich fremd bleibt, verdankt der Film in hohem Masse dem Hauptdarsteller Tahar Rahim, der zufällig zum Film kam, als er während seines Studiums in einem Dokumentarfilm mitwirkte. Audiard stellt ihm als starken Kontrast mit dem Korsenboss eine fast filmtypische Gangsterfigur entgegen, die Niels Arestrup mit sparsamstem Spiel und umso grösserer Präsenz verkörpert.

In manchen Szenen verlässt Audiard die analytische Ebene vollends und konfrontiert uns mit Traumbildern. Eine davon gibt dem Film den etwas gesuchten und wenig repräsentativen Titel: Malik träumt von einer nächtlichen Autofahrt und Wild auf der Strasse; wenig später wird dies Tatsache, und da er vor den Tieren warnt, bevor diese zu sehen sind, schreiben ihm seine Mitfahrer prophetische Gaben zu. Auch der Macht- und Tötungsrausch wird als problematischer Kulminationspunkt erfahrbar – in Maliks Entwicklung und in jener des Films.

Zum Filmende holt uns Audiards Kamera dann wieder voll auf den Boden der Realität zurück. Während Malik, aus der Haft entlassen und von der Witwe seines besten Freundes erwartet, von privatem Glück zu träumen scheint, sehen wir hinter ihm die Autos der verschiedenen Clans, die ihn abholen wollten und einholen werden. Wozu ihm die Schule des Gefängnisses gedient hat, bleibt offen. Wie kritisch das Publikum die gesehenen Verhältnisse werten will, ebenso.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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