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Impasse du désir

Text: Josef Stutzer / 08. Dez. 2010

Die Figurenkonstellation ist eigentlich vielversprechend: Ein älterer gutsituierter Psychoanalytiker mit einer deutlich jüngeren Frau, die sich in einen gleichaltrigen Künstler verliebt, und ein psychotischer Patient, der obsessiv von seiner Jugendliebe besessen ist. Hochkarätig besetzt mit Rémy Girard als Docteur Robert Block (man erinnere sich an seine Glanzrolle in Les Invasions Barbares von Denys Arcand) und Laurent Lucas als Léo Debond, dessen Patient und “Opfer” (er spielte etwa den überforderten Familienvater in Harry un ami qui vous veut du bien) . Es geht um Eifersucht, um Obsessionen und Fantasmen, um Normalität und Wahn, um Intrige und Manipulation und um das fragile Verhältnis zwischen Arzt und Patient.

Dem Film sind kleine ironische Glanzlichter aufgesetzt, etwa in der Zeichnung des tänzelnden Künstlers und Liebhabers, vor allem aber auch rund um die Rituale -einer Psychoanalyse: eine Patientin beginnt die Sitzung mit der Frage «Ça va, docteur?» oder spricht von «cette fichue thérapie»; Léo scheint permanent auf Kriegsfuss mit seinem Schuhwerk zu sein; Docteur Block gar sucht die reale Person auf, die ihm in seinem Alptraum etwas ins Ohr geflüstert hat, um sie nach dem Wortlaut zu fragen, und kriegt die Antwort «Qu’est-ce que vous voulez que je sache, j’étais pas dans votre rève». Und es gibt natürlich die grosse Ironie der Gesamtkonstruktion: die Manipulation – «La manipulation comme ultime trahison» heisst die Tagline des Films – hat Heilung und eine Umkehrung der ursprünglichen Konstellation zur Folge.

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Vieles ist bildkräftig umgesetzt: die Idylle am Privatschwimmbecken beschwört in der strahlenden Bläue von Himmel und Wasser eine drohende Katastrophe; das Rot des Schirms der jungen Frau setzt sich fort im Rot des Sonnenschirms am Pool, in ihrem Badeanzug, im Rot des rassigen Autos des Liebhabers, leuchtet drohend in der entscheidenden Regennacht und glüht immer mal wieder auf in einzelnen Szenen. Die junge Frau steigt vor einem Restaurant aus dem roten Flitzer ihres Liebhabers aus, er verabschiedet sich von ihr, und sie geht dort hinein, wohin sie von ihrem Mann für eine Aussprache per Telefon bestellt wurde; ein blaugemustertes Gedeck fällt zu Boden und zerschellt; Léo rennt panisch durch die Restauranttür auf die Strasse, die Kamera fasst in Grossaufnahme sein erschrockenes Gesicht. Für sich genommen ist dies eine punktgenaue Inszenierung einer der traumatischen Begegnungen Léos mit seinem Fantasma.

Woran mag es liegen, dass der Thriller mich aussen vor lässt und trotz aller Überraschungen selten packt? Sind es die zu vielen disparaten Elemente, die einfach nicht zu einem Ganzen finden? Sind es die unterschiedlichen “Handschriften” der Inszenierung – mal “schmeckt” die Phantasie von Léo nach poppigem Video-clip, mal ein Alptraum nach David Lynch und mal eine Szene nach CSI; mal unterbrechen frontal aufgenommene “talking heads” die Handlung, und dann wieder dreht sich die Kamera unmotiviert um sich selbst. Oder mag es auch an der doch immer mal wieder vorherrschenden Dramaturgie via Handy liegen?

Mir scheint, als habe der lang gehegte «Wunsch, einen Thriller zu realisieren, in der Tradition des Genres, wie man es von Hitchcock oder heute von Dominique Moll kennt … mit einer Handlung, die nach den typischen Regeln dieses Genres erzählt wird» (Michel Rodde im Presseheft) ihn dazu verführt, mit so viel Versatzstücken des Genres wie möglich zu spielen, anstatt sich auf eine kohärente Handlung und eine durchgehend stimmige Präsentation zu konzentrieren.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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