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Shutter Island

Text: Martin Walder / 03. Mär. 2010

Das Böse lässt Scorsese nicht los. Nicht einfach nur das soziale Übel der amerikanischen Unterwelt. Nein, das Böse, dessen blutige Explosionen er mit der Obsession dessen verfolgt, der mit der Unerlöstheit des Menschen nicht zurande kommt. Diesmal steht nicht eine Explosion, sondern eine Implosion zur Diskussion, die einmal mit der Gewalt einer
H-Bombe verglichen wird. Scorsese hat die Metapher aus einem ihm zugesandten Script übernommen, das auf dem 2003 erschienenen Psycho-Horror-Thriller «Shutter Island» des Bostoner Autors Dennis Lehane («Mystic River») basiert und dem er ziemlich getreu folgt.

Überhaupt ist alles im Setting dieses Romans Bild und Metapher, ist Anschauung – und gerade deshalb höchst unzuverlässig in Bezug auf unsere Rezeption der Geschichte: Was für eine Realität lesen, schauen wir? Wessen Wahrnehmung wird hier Bild und Sinnbild? Diese Diskrepanz treibt schon der Roman bald auf die Spitze, der Film mit seinem realistischen Bildanspruch lässt vollends ins Schlingern
geraten, was denn hier noch wirklich sei und, wenn man
davon ausgehen darf, dass alles schrecklich wirklich ist, in welcher Weise.

US-Marshal Teddy Daniels (Leonardo DiCaprio in einer seiner besten, auch Verletzlichkeit zeigenden Rollen) in Begleitung eines ihm bislang unbekannten Mitarbeiters namens Chuck setzen gerade auf einer Fähre zu der Boston vorgelagerten Insel Shutter Island über, die eine Anstalt für schwerst geistesgestörte Kriminelle beherbergt. Dort ist eine dreifache Mutter und Kindsmörderin spurlos verschwunden – in der unter Starkstrom stehenden Anlage eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Teddy und Chuck ermitteln, wobei allerdings auch private Gründe Teddy antreiben, sich in den drei Blocks der kastellartigen Anlage umzusehen. Er ist Witwer und hat seine Frau Dolores bei einem Brand verloren. Der Brandstifter namens Andrew Laeddis könnte hier sein. So erzählt er es auf der Fähre, von scheinbarer Seekrankheit und bald auch Migräne heimgesucht, seinem freundlichen, smarten Kollegen. Wer ist Andrew Laeddis?

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Zentnerschwere Musikakkorde, den in schicksalshafte Dissonanzen gesteigerten Hornstössen einer Schiffshupe vergleichbar (sie werden leitmotivisch im Film immer intimer werden), signalisieren eher den Transfer auf eine Toteninsel denn den Beginn einer polizeilichen Recherche. Und nach der Begegnung mit dem klinischen Direktor des Gefängnisses (Ben Kingsley) und der grauen Eminenz der Institution (Max von Sydow), der sich, ein deutscher Immigrant, als dessen finsterer Gegenspieler entpuppen wird, ist es um unsere Urteilskraft bald einmal geschehen – die beiden monstres sacrés des Kinos sind erstklassig in ihrer Zwielichtigkeit. Was ist hier los? Irritierende Details wie etwa das umständliche Abschnallen des Dienstwaffengurts durch Teddys Begleiter Chuck serviert Scorsese natürlich mit präzis gesetzter Beiläufigkeit, aber noch sind wir dankbar um die sympathische diskrete Präsenz, die der stets hervorragende Mark Ruffalo ausstrahlt.

Unter dem über Shutter Island heraufziehenden Hurrican dann geraten alle Koordinaten der Wahrnehmung in Schieflage und stürzen wie Mikadostäbe übereinander – suggestive Traumszenen in knallbunten oder eisgrauen Farben im superb aufbereiteten Kino-Retro-Look mischen sich ins irre Geschehen ein: Wer treibt sein Spiel mit wem? Welche Realität inszeniert sich hier – jene einer finsteren psychiatrischen Aussenwelt oder einer kranken, paranoiden Innenwelt des von seinen Migräneanfällen und Erinnerungen an eine von Verbrechen überschattete Befreiung des KZ Dachau gepeinigten staatlichen Ermittlers? Geht es um Wahrheit oder Wahn oder beides? Ist Schizophrenie nicht auch – entsetzliche – kreative Wahrheit zum Schutz der Seele? Letzte Fragen. Dabei drohen nun allerdings in Buch wie Film existenzieller Ernst und ins Kraut schiessende Mystery-
Thriller-Phantastik zu kollidieren: Die einschlägigen Genre-
Versatzstücke – Red-Brick- und Tudorbogen-Architektur, Leuchtturm als Schlüsselmetapher, Friedhof und Jahrhundert-Hurrican, Nazivergangenheit mit KZ, ein vertracktes Spiel mit Zahlen-Codes und Anagrammen, Rattenrudel und eine Höhlenbewohnerin (Patricia Clarkson, die aus jeder Nebenrolle eine Hauptrolle macht) – sie nehmen fast exotisch überhand.

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Auch in den düsteren Evokationen von Klinik und Kerker mit geschundenen, nackten Insassen in einer alten Festung aus dem Civil War, die den Film nach anderthalb dichten Stunden vorübergehend abflachen und aus dem unbarmherzigen Takt geraten lässt. Oder ist das vielleicht doch nicht gar so exotisch? Die Geschichte spielt 1954, auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs mit seiner Paranoia vor der kommunistischen Weltverschwörung. Institutionen wie diese fiktive auf Shutter Island seien vom HUAC, dem Komitee für unamerikanische Umtriebe, subventioniert worden und pflegten Experimente nach Nazi- und Sowjet-Brauch – behauptet Weltkriegveteran -Teddy. Doch spielt die Geschichte an der Schwelle eines tatsächlichen Epochenwechsels in der Psychiatrie, die von mittel-alterlich anmutenden Methoden wie Elektroschocks oder gar Lobotomie neue therapeutische Wege suchte.

Scorsese und sein Filmteam haben sich hier um histo-rische Genauigkeit bemüht, wie immer über den film-geschichtlichen Fundus einschlägiger Genrefilme («indem wir historische Filme als Vokabular verwendeten», sagt Scorsese). Ebenfalls zugezogen wurden die (lange Zeit verbotenen) Dokumentationen von John Huston über die Kriegs-traumata des Zweiten Weltkriegs (Let there be light) und Frederick Wisemans Titicut follies von 1967 über die berüch-tigte Bridgewater-Klinik in Massachusetts mit ihren entsetzlichen Haftbedingungen. Shutter Island ist realistischer, als es manchmal den Anschein macht. Und ist vom Ende her ganz und gar hoffnungslos: Die Mächte der Finsternis werden die Oberhand behalten. Das Wort Christi, das in der privaten Klimax zwischen Teddy und seiner Frau in biblischen Worten Erlösung aus dem Off und kaum hörbar verheisst, ist und bleibt bei Scorsese wieder einmal ein Phantom.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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