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Chloe

Text: Frank Arnold / 14. Apr. 2010

Der Film heisst Chloe, aber eigentlich ist die Frauenärztin Catherine, eine durch und durch rationale Frau mittleren Alters, seine Hauptfigur. Einer Patientin erklärt sie eingangs, dass der Orgasmus etwas mit Muskelkontraktionen zu tun habe – «da ist nichts Magisches dabei». Aber jeder Kinogänger weiss, dass die Rationalität auch ihre Gegenseite hat, die verdrängten Emotionen. Catherine bekommt eine Ahnung davon, als sie merkt, dass sie mehr und mehr auf ihre berufliche Rolle reduziert wird: ihr Ehemann David interessiert sich nicht länger mehr für sie als Frau, ihr pubertierender Sohn Michael begehrt gegen ihre mütterlichen Ratschläge auf.

Er habe das Flugzeug verpasst, ist die Ausrede von David, passionierter Musikprofessor und Mozart-Spezialist, als er die Überraschungsparty versäumt, die Catherine zu seinem fünfzigsten Geburtstag veranstaltet hat. Doch am nächsten Morgen entdeckt Catherine auf seinem Handy die unmissverständliche Nachricht einer jungen Frau, jener Studentin, die David bei seiner Vorlesung schöne Augen machte: «Danke für letzte Nacht.»

So entsteht in Catherine die Idee, ihrem Mann auf einem ungewöhnlichen Umweg näher zu kommen. Sie wird eine junge Prostituierte auf ihn ansetzen und hofft, dadurch zu erfahren, was er begehrt – auf dass sie ihm das Ersehnte künftig selber (wieder) geben kann. Wem dieser Plot bekannt vorkommt, der dürfte den französischen Film Nathalie gesehen haben, 2003 inszeniert (und mitgeschrieben) von Anne Fontaine, mit Gérard Depardieu, Fanny Ardant und Emmanuelle Béart in den Hauptrollen.

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Chloe ist ein Film von Atom Egoyan – das erste Remake, das er inszeniert hat, zudem der erste seiner Filme, zu dem er das Drehbuch nicht selber geschrieben hat. Und zuguterletzt ein Film, der im Vorspann den Namen des Produzenten Ivan Reitman trägt – genau, der Ivan Reitman, der mit Ghostbusters für das Blockbusterkino der achtziger Jahre steht.

Chloe ist, anders als Egoyans bisherige Filme, linear erzählt, verzichtet also auf den Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Determination der einen durch die andere, die man als das entscheidende Stilmerkmal von Egoyans Kino ansehen kann. Thematisch ist Chloe allerdings kein Fremdkörper in seinem Werk, in dem es immer wieder um geborgte Identitäten geht und um die Konstruktion von Fremd- (und Selbst-)Bildnissen, die auf Phantasien basieren. Man versteht, dass Egoyan angesprochen wurde vom Drehbuch der Autorin Erin Cressida Wilson, die bekannt geworden ist mit ihrem Skript für §secretary, den Steven Shainberg 2002 inszenierte. Sie schrieb auch das Drehbuch für Shainbergs Nachfolgefilm fur. An Imaginary Portrait of Diane Arbus – beides Filme über Phantasien. In der ersten Szene von Egoyans Film sieht man der Titelfigur Chloe beim Ankleiden zu. Das funktioniert auch als Einladung an den voyeuristischen Blick des Zuschauers. Aus dem Off hört man dabei ihre Stimme, die erzählt, sie könne all das sein, was man sich von ihr wünsche – eine Projektionsfläche, bis hin zum Punkt, wo sie selber unsichtbar werde. Am Ende des Films ist sie verschwunden, allerdings nicht langsam unsichtbar geworden, sondern ausgelöscht in einem gewaltsamen Akt.

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Chloe erzählt die Geschichte eines Kontrollverlustes. Nicht nur das Heim von David und Catherine wird von grossen Glasscheiben dominiert (die die Ehepartner im Dialog manchmal voneinander trennen), sondern auch Catherines Arztpraxis, durch deren Fenster sie Chloe auf der Strasse wahrnimmt.

Catherines kontrolliertes Experiment droht gleich zu Beginn umzukippen, wenn Chloe von ihrer ersten erotischen Begegnung mit David in einem Gewächshaus erzählt. Was dort geschah, hört man nicht nur aus Chloes Mund, sondern man sieht es auch im Bild – Bilder, die lügen, aber dabei doch auch Wahrheit transportieren. Catherine macht sich diese Szene zu eigen, wenn sie später unter der Dusche steht, sie borgt sich gewissermassen Chloes Körper aus, um David nahe zu sein.

Das Raffinierte aber an Chloe ist die Entwicklung dieser Obsession, die ihr Spiegelbild findet in der sich entwickelnden Fixierung Chloes auf Catherine – als Mutterersatz und Liebespartnerin. Als Catherine sich dieser Beziehung schliesslich verweigert, sucht Chloe in Catherines Sohn einen Ersatz – mit fatalen Folgen.

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Je weiter die Geschichte fortschreitet, desto doppeldeutiger wird sie in der Entfernung vom Original, wird einerseits zu einer Egoyan-Geschichte, bekommt andererseits auch Elemente des klassischen «Familie-in-Gefahr»-Thrillers. Insofern kann man verstehen, dass der deutsche Verleih den Film als «Thriller» bewirbt, denn das ist zweifelsohne ein Genre, das ein ungleich höheres kommerzielles Potenzial besitzt als das Drama eines Ehepaares.

Das dramatische Ende inszeniert Chloe als Eindringling, angefangen mit ihrem Blick auf den Sohn, von aussen, durch die Glasscheiben des Hauses, bis zu seiner Verführung, die sie im elterlichen Bett in Szene setzt, ganz dominant, aber im Grunde etwas anderes suchend, die Geliebte suchend in deren Fleisch und Blut. Da ist der Film für einen Moment dem reaktionären Familienthriller in der Art von Adrian Lynes Fatal Attraction ganz nahe, wenn er vom Eindringling erzählt, der beseitigt werden muss, um die Intaktheit der Familie wiederherzustellen. Aber so gegenläufig wie Egoyan das Drama auflöst, funktioniert die Szene schon wieder als Kino, das die Wahrnehmung des Zuschauers reflektiert.

Das Ende also ist drastisch, aber auch wieder ambivalent, zwischen einem Unfall-Sturz und einem sich selber aufgebenden Fallenlassen, mit einem Nachklang in der allerletzten Szene, einige Zeit später: Da sieht man Catherine jene Haarspange tragen, die ihr Chloe bei ihrer ersten Begegnung geradezu aufdrängte. Ob das jetzt eher den Charakter einer Erinnerung oder aber einer Inbesitznahme hat, bleibt dem Zuschauer überlassen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2010 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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